Durch Armut reich
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"Brauchtum"
Wortvorgaben (12)
Werk, Tragödie, Forderung, Verzicht, Buchdeckel, Keramikschale, Treibholz, Fichtennadeln, vermissen, nesteln, Tradition, beschönigen,
Durch Armut reich
In das Tintenfass, das auf einer braun glasierten Keramikschale stand, tauchte Alfred seine Schreibfeder zögerlich ein und streifte sie in seinem schwarzen Haar ab. Die schwarze Tinte fiel darin nicht auf, denn einen Klecks durfte er sich jetzt nicht leisten.
Alfred musste einen Amtsbrief schreiben, doch so richtig gelingen wollte er ihm nicht.
Er sollte seine Verhältnisse offen legen. Er wollte weder was beschönigen, noch jedes
kleinste Detail angeben. Es galt das richtige Mittelmaß zu finden.
Alfreds Aufträge gingen schlecht, besser gesagt, sie gingen gar nicht. Die Zeichen der Weltwirtschaftskrise dehnten sich auch in seinem Ort aus. Die Arbeitslosigkeit war auf dem Höhepunkt. Das wirkte sich auch auf sein kleines Gewerk aus. Ihm drohte die totale Zwangsversteigerung. Sein Wohnhaus war bereits verpfändet. Nun konnte er die Umsatzsteuern nicht bezahlen und die Gläubiger seiner Zunft hatten gerichtliche Forderungen gestellt.
Das Amtsgericht verlangte eine Einkommensbilanz.
Davon hing seine Zukunft ab.
Alfred war im Holzhandel unterwegs.
Er kaufte und verkaufte Rohholz aller Art. Auf seinem kleinen, ländlichen Holzplatz lagerten einst die wertvollsten Baumstämme, kostbares Treibholz aus den Flüssen der Region, sowie Windbruch und Reisig zum Heizen.
Ein würziger Duft von Fichtennadeln schwebte wie eine Glocke über dem Hof.
Alfred seufzte zum wiederholten
Mal. Wohin sollte er mit seiner Familie gehen, wenn er kein Dach über den Kopf mehr hatte? Seine drei Kinder und seine Frau würden ihr Zuhause schmerzlich vermissen.
In drei Wochen war Weihnachten. Große Geschenke waren schon nicht drin und die Kinder mussten auf vieles verzichten. Sollten sie nun auch noch ihr Heim verlieren?
Alfred gab sich einen Ruck und schlug kraftvoll den Buchdeckel zurück, auf dem 'Kassenbuch' geschrieben stand. Er kopierte die Zahlen ab. Die Forderung wollte er hinter sich bringen. Schließlich
war es nicht seine Schuld, dass das Geld im Stundentakt immer weiter abgewertet wurde.
Eine Stunde später war er fertig. Er setzte noch mit kühnem Schwung seinen Namen aufs Papier und klebte den Brief sorgfältig zu.
Er brachte sein Schreiben persönlich in die Post, nun galt es keine Zeit zu verlieren.
Wie lange musste er auf Antwort warten?
Die erste Woche verging wie gewohnt. In der Zweiten wurde Alfred ungeduldig.
Wie mochte das Gericht seine
Sachlage bewerten?
Die dritte Woche wurde zur Zerreißprobe.
Es wurde muksmäuschen still im Haus. Unter der Oberfläche brodelte es jedoch. Kaum einer hatte so richtig Lust für den anderen da zu sein. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und jeder war auf den anderen Gram.
Als der Heilige Abend kam, deutete nichts auf Weihnachten hin.
Im Haus verharrte die Familie in einer Art Trance, bis...
...ja, bis am Nachmittag der Postbote mit einem Einschreiben kam.
Nervös nestelte Alfred den Umschlag auf und las die Post mit großer Spannung.
Was er las, konnte er kaum glauben.
Seine Tragödie war abgewendet.
Die Zwangsversteigerung aufgehoben.
Hinsichtlich der weltlichen Wirtschaftslage und der Neuwahlen, die im Reich kurz bevor standen und von der man Besserung erhoffte, wurden seine Schulden zwar nicht erlassen, aber auf weiteres ausgesetzt.
Alfred durfte sein Haus behalten und seinen Handel weiter betreiben.
Als Alfred zu seiner Familie ging, um die gute Botschaft zu verkünden, läuteten im Ort die Christvesperglocken.
Für den Gottesdienst war es nun zu spät. Doch als seine Frau die Nachricht gehört hatte, zündete sie im Haus alle Kerzen an und fing voller Freude zu singen an:
"Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär,
der guten Mär bring ich so viel, davon ich singn und sagen will."
Alfred reichte jedem eine Kerze und zog mit neuer Geschlossenheit
mit seiner Familie durch das Haus und besangen jeden Winkel und jeden Raum. Sie stiegen vom Keller bis zum Dachboden.
Die Kinder, als sie längst schon erwachsen waren, erinnerten sich gern an das Weihnachtsfest 1932, von dem sie stets behaupteten, das es das schönste Fest gewesen sei, das sie in der Kindheit begangen haben.
Heute ist es eine Familientradition.
Das Bild ist das Gleiche, wie auf dem
Cover, nur mit Spruch.
Ich habe es von einer Pastorin geschenkt bekommen und eingescannt.
Es ist eine Kohlemalerei,
der Künstler mir unbekannt.
@Marlis Stephan