Es ist wieder soweit
Halleluja! Bald ist es wieder soweit.
Meine Familie wird wieder einmal alles geben, um mir das Leben schwer zu machen. Dabei weiß ich, dass sie es nur gut meinen. Schließlich sind sie gut, alle miteinander. Und dennoch ersehne ich, wie in jedem Jahr den Tag herbei, an dem meine heiß geliebte Ordnung und Ruhe wieder hergestellt und die Weihnachtstage mit dem folgenden Jahreswechsel zur Geschichte werden. Immer wieder rätsele ich - wozu das alles? Aber meine Frage blieb bis jetzt ungehört und damit unbeantwortet.
Normalerweise können sie meine Blicke gut deuten, die Menschen in meiner Umgebung,
aber der „Zauber“ des Jahreswechsels scheint sie blind zu machen.
Träumend, in bequemer Position auf meinem Sofa liegend und noch in völliger Stille erinnere ich mich an das letzte Jahr und an das davor und an das davor…
Immer beginnt es damit, dass merkwürdige Dinge die niemand wirklich benötigt überall dort hin gestellt und gelegt werden, wo sonst nie etwas steht und liegt. Manches funkelt, manches glitzert und manches leuchtet sogar in der Nacht. Meine Augen stört das, zumal es auch strikt untersagt ist, diese Dinge etwas zu verrücken oder hinter Schränke zu räumen, weil sie blenden.
Wenn ich mich nur einem dieser Wunderwerke
nähere, gibt es Ärger.
Man gewöhnt sich ja an vieles, aber wirklich sauer reagiere ich, wenn dieser grüne Baum in die Wohnung geschleppt wird. Draußen gefällt er mir viel besser, denn dort darf ich zu jeder Zeit in die Äste springen, meine Krallen wetzen und Zweige abbrechen, ohne dass etwas passiert. Nur einmal habe ich das mit dem Baum in der Wohnung probiert. Nie wieder! Meine Lieblingsmenschen schätzen meine Aktivitäten diesbezüglich überhaupt nicht.
Ich habe keine Ahnung, wie es mein Bruder immer wieder schafft, dieses Teil zu ignorieren. Er pennt einfach unter der Bettdecke, als ob ihn das alle nichts anginge. Bemerkt nicht einmal, dass mein heißgeliebtes
Sofa Platz machen muss und einfach in eine andere Ecke geschoben wird. Naja, ehrlich gesagt, ist er auch nicht halb so neugierig wie ich. Aber darum geht es gerade nicht.
Es läuft immer weiter mit den lästigen Angelegenheiten. Nicht nur, dass der Baum an meinem Sofaplatz stehen muss, er wird auch noch mit noch mehr Glitzerfunkelzeug behängt, mit dem ich - wen wundert es - natürlich auch nicht spielen darf.
Es riecht komisch in meinen vier Wänden, es sieht komisch aus, merkwürdige Musik muss ich mir anhören und es stimmt einfach alles überhaupt nicht. Mein Leben ist ruiniert!
Natürlich geht das noch tagelang so weiter. In der Küche ist Hochbetrieb, aber selbstverständlich habe ich dort auch nichts zu
suchen. Die Menschen geben es nicht auf, mir, mit nach Dankbarkeit heischendem Blick, zur Ablenkung ein Schüsselchen mit irgendwas hinzustellen. Ihr Gedächtnis war schon mal besser, sonst wüssten sie, dass ich keine Leber mag. Ich kann nicht mal so tun als ob, um den Frieden zu bewahren, mir wird richtig schlecht davon. Zerkaute Leber unterm Weihnachtsbaum - hatten wir schon alles - kam nicht gut an.
Ein kritischer Moment und eine ganz besondere Herausforderung für mich ist noch der Abend. Sie nennen ihn Heiligen Abend - na ich weiß ja nicht.
Zuerst kommen die unzähligen lärmenden Kinder und Babys, zu denen ich ein gestörtes Verhältnis habe, weil sie nicht wirklich
berechenbar sind. Ich könnte mich ja in den Garten verziehen, aber meistens siegt Neugier über Stress. Pingelig wie sie alle sind, darf ich nie an ihren Geschenken kratzen. Eigentlich interessiert mich nur das bunte Band, doch sie sind diesbezüglich sehr eigen. Es wären aber nicht meine Menschen, wenn sie sich nicht gefühlt Stunden später an mich erinnern würden. Auch ich bekomme ein Geschenk! Mein Bruder natürlich ebenso, aber der tut sich den Trubel immer noch nicht an. Hat mir nur eine geschmiert, als ich ihn wecken wollte und sofort weitergeschlafen.
Mein Geschenk ist toll. Na gut, das Band ist toll und mit dem Papier darf ich tatsächlich endlich machen, was ich will. Fast. Wenn ich es akrobatisch gekonnt in die Kerze kicken
möchte, haben sie doch etwas dagegen. Ich sag es ja- pingelig. Nach dem Auspacken finde ich die obligatorische Maus aus Stoff. Natürlich will ich den Schein wahren und trudele sie ein paar mal über den Boden. Im Grunde langweilt sie mich aber, denn sie schnuppert nicht nach Maus, macht keine Mausgeräusche, rennt nicht weg und ihr kann ich auch nicht geschickt die Leber heraus filettieren, die ich übrigens auch bei Mäusen nicht mag. Das mit der Leber beruht offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Sie mögen meine großzügigen Lebergeschenke auch nie, nicht mal, wenn ich sie bis an ihr Bett liefere.
Stundenlang könnte ich noch weiter erzählen, aber die Müdigkeit übermannt auch mich
irgendwann.
Nun kommen ein paar sehr schöne Tage. Meine Augen und meine Nase haben sich endlich an die ganzen Widrigkeiten gewöhnt, es ist herrlich still, denn die Menschen haben wohl auch den Rüssel voll von dieser Musik und der neue Platz meines Sofas ist gar nicht so schlecht.
Fast wäre alles gut, aber ich weiß, das dicke Ende kommt noch. Der Jahreswechsel steht bevor und damit beginnt das ganze Drama noch einmal von vorn.
Kurzfassung - Lärm ohne Ende, gefühlt fünfhundert Füße in meinem Reich, schon wieder komische Gerüche in der Küche, ein Bruder, der sich vor Angst fast in die Hose macht, die er nicht trägt und so weiter.
Der Baum ist weg, aber mein Sofa auch, was egal ist, denn Ruhe würde ich an diesem Tag dort sowieso nicht finden. An meinem guten Essen bedient sich regelmäßig das Baby, weil niemand darauf achtet. Also auf mein Essen nicht, auf das Baby schon.
Über den ohrenbetäubenden Krach um Mitternacht verliere ich kein Wort. Draußen im Garten ist es blöd, in der Wohnung ist es noch blöder. Wenn mich meine Lieblingsmenschin erwischt, bringt sie mich und meinen Bruder in ein stilles dunkles Zimmer, lässt die Jalousien herunter und schließt die Tür ab, zum Schutz gegen die kleine Zweibeiner. Ich tu ja immer so als ob, aber an diesem Tag lasse ich mich sehr gern erwischen und kuschele mich sogar mal ganz
kurz an meinen verwandten Vierbeiner. Nicht weil er ein Held wäre - nein - einfach nur so.
Wenn auch dieser Tag geschafft ist, kann ich ganz langsam aufatmen. Nun wird es schlagartig wieder normal in meinem Reich. Fast alle Zweibeiner sind weg, das ganze Gedöns wird wieder aufgeräumt und meine Menschen haben wieder richtig viel Zeit, ihr Bett, ihr Sofa, ihre Eckbank, ihren Bürostuhl und eben ihre Zeit mit mir zu teilen. Erst nach sechs Tagen werden sie wieder früh am Morgen mit dem Auto verschwinden und dann kehrt endlich richtig Alltag ein. Ich freue mich drauf!
Ein paar Tage dauert es zum Glück noch. Zeit, sich gemütlich auf meinem Sofa
umzudrehen und vom Sommer zu träumen, von Schmetterlingen, von Sonnenstrahlen, von Libellen, von den Fischen im Teich, von …
© Memory (Nov. 2015)