Kapitel 4
Das warme Licht der Mittagssonne erleuchtete die frühsommerlich gefärbten Wiesen zum Wegesrand der breiten Straße. Die Kieselsteine knirschten laut unter den derben Stiefeln zweier schwer bepackter Reisender, die ihr Tempo noch einmal anzogen, als die friedlich daliegenden Steinmauern von Berkhem in der Ferne auftauchten.
Mit einem gedämpften Laut der Verwunderung zog einer der beiden den dicken Wollschal ein Stück herunter und klemmte ihn unter sein bärtiges Kinn, als sie dem Tor nah genug waren, um einige bewaffnete Männer zu erkennen,
die dort eine provisorische Schleuse errichtet hatten und diese sowohl zum Aus- als auch zum Eingang hin bewachten.
„Gibt es Berkhem seit kurzem Einreisevorschriften? “ murmelte er mit skeptischem Ton und warf einen fragenden Blick über seine Schulter.
„Ich bin sicher, dass er das in seinem letzten Brief erwähnt hätte“, erwiderte eine Frauenstimme und nun schob auch sie den Schal zurück, den sie sich um Kopf und Hals geschlungen hatte. Ein paar dünne, dunkelblonde Strähnen rutschten dabei hervor und blieben an ihren Wundwinkeln hängen. Flüchtig pustete sie sie weg und richtete dann
ihren Schal.
„Der letzte Briefaustausch ist Wochen her. Da kann sich viel was ändern“, überlegte der Mann wenig überzeugt und wollte sich seiner Partnerin gerade ein weiteres Mal zuwenden, als sie sich schon an ihm vorbeischob und an seiner Stelle vorging.
„Und wenn schon. Wenn es Vorschriften gibt, müssen wir uns eben dran halten. Wir haben eine wichtige Verabredung in Berkhem“, meinte sie bestimmt, während sie unbeirrt auf das Tor zuging. Die sperrige Holzvorrichtung auf ihrem Rücken, auf die ein breiter Leinenrucksack und sämtliche, mit Gurten verschnürte Bündel angebracht
waren, wippte dabei knarzend auf und ab.
„Aber morgen erst“, ergänzte der großgewachsene Wanderer im Ton eines dickköpfigen Kindes und folgte schnaufend seiner Kameradin, die ihn für den Rest des Weges ignorierte.
Vor dem Tor nahm sich ihnen sogleich einer der jungen Männer an, in dem er einen Schritt auf sie zuging und begrüßend eine Hand hob. Für einen angeblichen Soldaten war der Mann erstaunlich schlecht bekleidet. Knöchelhohe Stiefel, orangefarbenes Unterkleid und lederne Handschuhe. Er trug als einzige Panzerung einen glänzenden, aber schlecht sitzenden
Brustharnisch mit dem Wappen der Stadt: ein kreisrundes, mit Ranken verziertes Ornament, bestehend aus einem Muster, welches einem Wagenrad glich und dem Profil eines männlichen Gesichts in der Mitte. An seinem verschlissenen Gürtel baumelte ein simpler Dolch von der Länge eines Küchenmessers. Stattdessen hing jedoch eine andere, wesentlich imposantere Waffe an einem dünnen Gurt über seiner Schulter. Eine elegante Armbrust.
„Die Namen, bitte“, räusperte er sich und sah sie dabei nicht einmal an. Er holte nur einen zugeschnittenen Pergamentbogen hervor und zückte fast wie aus dem Nichts einen Kohlestift aus
dem weiten Ärmel.
„Barn und Melinda Edmerry“, antwortete der stämmige Mann, ehe es seine Frau tun konnte und öffnete den Gurt an seiner Hüfte, um seinen Rucksack abzunehmen. Melinda hob kurz tadelnd den Blick zu ihm, wandte sich jedoch sogleich energisch ab und löste ebenfalls die Schlaufen ihres schweren Rucksacks, der kurz darauf krachend hinter ihr zu Boden rutschte.
„Was führt euch her, Mister Edmerry?“ fuhr der junge Wachmann zwar monoton fort, konnte es sich aber nicht verkneifen, neugierig die seltsame Aufmachung des Ehepaars über den Rand seines Zettels hinweg zu mustern.
Sie beide trugen kniehohe, abgewetzte Lederstiefel, an denen der Staub vieler Straße klebte. Trotz des ganzen Schmutzes war gut erkennbar, dass dünne Stahlkappen vor ihre Schienbeine geschnürt waren. Von Kopf bis Fuß waren sie beide in weite, erdfarbene Kleidung gehüllt, die an Ellbogen und Knien deutlich über eingenähte Metallplatten spannte. Seitlich an Barns schwerem Rucksack waren Haken, Ketten und sogar eine verbeulte, alte Äxte befestigt. Sowohl er, als auch seine Frau trugen Messer in den verschiedensten Formen und Längen an ihren breiten Gürteln, fixiert in fein
gearbeiteten Ledertaschen. Nur die Griffe lugten bedrohlich hervor.
„Keine Angst, es ist nichts Geschäftliches“, warf Melinda mit fester, aber schelmischer Stimme ein, als sie die argwöhnische Miene des jungen Mannes bemerkte, als er ihre Waffen in Augenschein nahm. Dieser hob nur fragend die Brauen und wandte sich nun mit Stift und Pergament an sie.
„Bitte?“ murmelte er fordernd und musterte sie erwartungsvoll.
„Wir sind Jäger im Auftrag der Kirche, Bursche“, antwortete Barn langgezogen, der seinen Rucksack vor sich auf den Boden geknallt und die dreckigen Leinen, die über die filigrane
Holzkonstruktion gespannt waren, zurückgeschlagen hatte. „Deine Generation sollte eigentlich noch wissen, wer wir sind. Lausige Jugend, dir hier heranwächst.“ Mit strenger Miene holte er ein gerolltes Lederbündel hervorholte und hielt es dem jungen Mann hin. Leicht errötet, sowohl von Scham als auch von Ärgernis, ergriff dieser es und zupfte einen dicken, prunkvoll verzierten Pergamentstreifen daraus hervor. Vorsichtig hielt er es mit einer Hand hoch, überflog den kurzen Text und besah dann aufmerksam das marineblauen Kreuzsymbol der Kirche direkt unter einem schwungvoll geschriebenen, kaum lesbaren Namen am
unteren Rand des Blattes. Die Unterschrift des obersten Kirchenvaters Jaron Pertrucio.
„Noch nie gesehen?“ fragte Barn leicht spöttisch und hielt die Hand auf, damit der junge Wachmann ihm das wertvolle Schreiben wieder zurückgab.
„Doch“, widersprach dieser kurz angebunden und drückte Barn den Pergamentbogen und den Ledereinband einzeln wieder in die Hand, damit dieser sie wieder zusammen klamüserte. „Es ist nur eine halbe Ewigkeit her, dass sich Jäger aus der Hauptstadt in unser Gebiet verirrt haben. Wir sind sauber hier in Berkhem. Schon lange“, fügte er leiser hinzu, während er etwas auf seinem
Zettel notierte. Er hatte Zeit seines Lebens mit angesehen, wie der Berufsstand der kirchlich beauftragten Krieger, die im Volksmund aufgrund ihrer grünen und braunen Kleidung nur als Jäger bezeichnet wurden, an Wichtigkeit verloren hatte, je geringer das Aufkommen von magischen Kreaturen geworden war.
Jäger waren kluge, vielseitig begabte Männer und selten auch Frauen, die eine umfassende Bildung in der Hauptstadt erhielten und anschließend in eher unkonventionellen Kampftechniken unterrichtet wurden. Häufig sogar von gelehrten der Magie, um sie in einige Geheimnisse einzuweihen, die sie für den
Kampf benötigten. Später schworen sie einen Eid vor dem Kirchenvater, niemals einen Menschen zu töten, sondern ihre Fertigkeiten nur gegen die anderen, bedrohlichen Völker dieser Welt einzusetzen. Einst einer der ruhmreichsten und lukrativsten Berufe, die ein Mensch ausüben konnte. Heute waren die Jäger überwiegend nur noch in den Geschichten über den Triumph der Menschheit lebendig. Jeder lobte sie in den Himmel für ihre heldenhaften Taten, aber sie waren Soldaten, deren Dienst beendet war. Lebende Relikte, die an eine Zeit des Wandels und des erbitterten Kampfes erinnerten, während schon ein neues, friedliches Zeitalter
herrschte. Unglaublich, dass überhaupt noch Menschen ihren Eid als Krieger der Kirche ablegten, um freiwillig ein Leben in Armut und Heimatlosigkeit zu führen.
„Alle großen Städte behaupten, dass sie sicher sind, bis irgendwann mal etwas auftaucht und sie es aus Stolz leugnen, bis es ihnen über den Kopf wächst. Basilisken zum Beispiel. Die Viecher lieben Großstädte. Kriechen durch die stinkenden Kanäle und lassen mal den ein oder andere Menschen verschwinden. Fällt gar nicht auf“, brummte Barn mit finsterer Miene, dem es endlich gelungen war, das empfindliche Pergament in den Ledereinband zu schieben und wieder
zusammenzurollen. Dann hob er provokant lächelnd den Blick zu dem jungen Wachmann. Melinda rollte mit den Augen und seufzte leise.
„Verzeihung?“ zischte der Wachmann empört. „Unser Gebiet ist schon vor sehr vielen Jahren von magischem Gesocks gereinigt worden. Nicht einmal harmlose Irrwesen gibt es hier noch, geschweigedenn Basilisken. Dafür haben Jäger wie ihr gesorgt. Und zwar vor einer halben Ewigkeit, wie ich bereits sagte“, verteidigte sich der Wachmann. „Und selbst wenn jemals etwas auftauchen sollte, womit wir nicht selbst fertig werden; wir haben immer noch einen Magier in Berkhem“.
Hastig trat Melinda einen Schritt vor, um die Aufmerksamkeit des jungen Mannes von Barn abzulenken, dessen Blick ihr zweifellos verriet, dass er genau das gehört hatte, was er hören wollte. Im Folgenden würde er sich unwiederbringlich in Rage reden, sofern sie es nicht unterband, bevor es losging. Barn liebte hitzige Streitgespräche. Er fing sie nur zu dem Zweck an, seine Diskussionspartner auf dem schnellsten Weg wieder zum Schweigen zu bringen. Meistens tat er das auch, aber nicht immer mit guten Argumenten.
„Genau deshalb sind wir hier“, mischte sie sich ein und streckte dem Wachmann
ihre eigene unterzeichnete Schriftrolle entgegen, der darauf zunächst etwas verdutzt reagierte. „Wir treffen den Magier. Meister Karym Salivan, wenn ich mich nicht irre“.
Der junge Mann gab ihr das Pergament wieder zurück, ohne es wirklich angesehen zu haben und schürzte die Lippen mit gleichgültiger Miene.
„Gut möglich. Klingt wie ein großer Name“.
„Ihr kennt ihn nicht?“ warf Barn von der Seite her ein. Seine Stimme klang bereits jetzt wieder wesentlich sanfter.
„Niemand tut das“, entgegnete der Wachmann schulterzuckend. „ Aber das Wappen des Gilderats der Magier ist
innen in allen Toren angebracht. Das darf da nur sein, wenn auch wirklich ein Magier in der Stadt lebt. Das reicht den Bewohnern hier überwiegend als Beweis. Lockt außerdem viele neugierige Leute an, die ihn treffen wollen. Ich meine, wie viele gute Magier gibt es heutzutage noch, die nicht gerade in teuren, bewachten Residenzen in der Hauptstadt leben? Wenn er sich hier öffentlich zur Schau stellen würde, wäre sein Haus vermutlich irgendwann eine Pilgerstätte.“
Barn und Melinda wechselten kurz vielsagende Blicke. Sie hoffte inständig, dass Barn nicht über die Zunge rutschte,
dass ihnen der Magier eine simple Wegbeschreibung hatte zukommen lassen.
„Dann scheint das Ganze hier wohl doch länger zu dauern, als erwartet. Zum Glück sind wir nicht in Eile“, log sie seufzend und zog eine Miene, als würden sie diese Aussichten nur wenig erfreuen.
„Und was ist jetzt? Müssen wir Eintritt zahlen, um nach dem Magier zu suchen?“ fragte Barn mit Blick auf jene Schleuse, durch die jeder hindurchmusste, ob er nun die Stadt verlassen oder betreten wollte.
„Nein“, antwortete der Wachmann kurz angebunden. „Das sind
Routinekontrollen. Es gab ein paar Vorkommnisse gestern, aber kein Grund zur Sorge“.
„Was für Vorkommnisse?“ hakte Barn mit aufdringlichem Ton nach und trat von seinem Rucksack zurück, damit der Wachmann mit entnervter Miene hineinsehen und seine so genannte Routinekontrolle durchführen konnte.
„Na ja, es hat einen Mord gegeben“, murmelte er halblaut und sah schnell wieder von dem Chaos auf, welches sich ihm in Barns Rucksack bot. „Komplizierte Sache.“
Melinda trat ebenfalls von ihrem Gepäck zurück und ließ den Mann gewähren. Diesmal sprach er ganz von alleine
weiter, ohne dass sie weiter nachfragen mussten.
„Ich weiß nicht, ob euch der Name etwas sagt, aber Sir Melwin Frey wurde tot hinter einer Schenke gefunden. Er gehörte zum alteingesessenen Adel von Berkhem, genau gesagt ist er der älteste Sohn des Münzherrn gewesen. Ein sehr exzentrischer und auffälliger Kerl, wie die Leute sagen. Irgendwer hat ihm scheinbar das Genick gebrochen. Leise und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Und außerdem war er splitterfasernackt als man ihn fand. Deshalb die Vermutung, dass es sich um Raubmord handelt.“
Barn verschränkte die Arme vor der
Brust und schürzte die Lippen.
„Bemerkenswerte Schlussfolgerung“, brummte er leise und erntete einen ungemein verächtlichen Blick des jungen Wachmannes.
„Die Geschichte ist noch nicht vorbei“, entgegnete dieser patzig und fuhr nun erst recht fort. „In derselben Nacht ist die Leiche von irgendeinem alten Mann im östlichen Teil der Stadt gefunden worden. Das ist da, wo die Ärmeren leben. Jedenfalls in einer Sackgasse mitten im Nirgendwo. Insofern nichts Interessantes. Eine Frau, die da wohnte hatte ihn bemerkt und sich gedacht, dass da was nicht stimmte. Der Alte trug nämlich allen ernstes Sir Melwins
entwendete Kleidung. Immer noch nicht seltsam genug? Sowohl Sir Melwins Geldbörse – voll wohlgemerkt – , als auch die Schlüssel zu seinem Anwesen waren immer noch in den Taschen der Kleidung. Dafür nichts, was auf die Identität des alten Mannes schließen ließ“.
Tatsächlich wechselte Barns hämischer Gesichtsausdruck für einen Moment zu einer nachdenklichen Miene.
„Viel hatte der Alte dann aber nicht von seiner hübschen, neuen Kleidung und dem ganzen Geklimpere“, dachte er laut und kratzte sich am dichten, schwarzen Bart. In seinen Augen sahen alle Wohlhabenden aus wie Zirkusclowns. Er
hatte nichts für bunte, teure Stoffe übrig, geschweigedenn für diejenigen, die sie trugen.
„Man glaubt also nicht, dass der Alte der Mörder gewesen sein könnte?“ mischte sich Melinda ein, die den Einwand ihres Mannes damit aufgriff.
„Nein“, schnaufte der Wachmann. „Die Familie gibt sich mit der Theorie nicht zufrieden. Der Kerl war wirklich steinalt. So dünne Arme“. Er formte mit den Fingern einen Kreis. „Der konnte keinem erwachsenen Mann das Genick brechen. Vermutlich war er nur ein altersschwacher Bettler, dem die Sachen zugejubelt wurden. Der Mörder von Sir Melwin hat den Alten einfach zu Tode
erschreckt, dass ihm das Herz stehengeblieben ist und hat die gestohlenen Sachen dagelassen.“
Melinda klappte ihren Rucksack wieder zu und verschnürte ihn sorgfältig. Die Geschichte klang wirklich etwas merkwürdig. Es sah auf den ersten Blick tatsächlich so aus, als steckte ein gewiefter Mörder dahinter, dem es wirklich nur darum gegangen war, Sir Melwin den Hals umzudrehen und es wie ein Überfall aussehen zu lassen. Der Mann war schließlich allem Anschein nach stinkreich gewesen und zudem der Erde eines einflussreichen Mannes. Es könnte um jede Menge Geld gegangen sein. Und für Geld taten Menschen so
einiges.
„Das heißt, jetzt sucht ihr nach jemandem mit der Kleidung des Bettlers?“ fragte Barn mit gerunzelter Stirn. „Der Bettler war ja sicher nicht nackt“.
„Was der Bettler anhatte, ist nicht von Belangen. Der hatte nichts. Das stiehlt doch niemand in der Intention es zu tragen“, winkte der Wachmann ab und packte seinen Zettel zurück in eine Tasche an seinem Gürtel.
„Es sei denn, man will untertauchen“, murmelte Barn mit unbeirrt ernstem Ton.
„Die Ordnungshüter haben alles im Griff“, raunte der junge Wachmann mit Nachdruck, um das Gespräch an dieser
Stelle rasch zu beenden. Vermutlich merkte er, dass ihm die nötigen Informationen zu der Angelegenheit fehlten, um eine richtige Diskussion darüber zu führen. „Wie dem auch sei. Willkommen in Berkhem, Mister und Miss Edmerry. Viel Erfolg bei eurer Suche“.
Mit einem Hauch von Schadenfreude trat er beiseite und winkte sie in Richtung der mächtigen, aufgeschlagenen Torflügel.