Es gibt viel zu tun. Das ist gut. Die Arbeit im Krankenhaus lenkt mich ab. Léo wollte mich gar nicht gehen lassen, jeden Tag aufs Neue ist es ein Kampf. Drei Tage sind seit diesem „Vorfall“ vergangen und es kommt mir so vor, als ob es einfach nicht vorbeigehen würde. Der Schreck sitzt mir noch immer in den Knochen und dieses Gefühl in meinem Magen verschwindet einfach nicht. Ich habe permanent das Gefühl, als sei ich dem Tod gerade erst entkommen. Da wohnt noch immer … diese stille Panik in mir.
Obwohl die Situation so … merkwürdig war, habe ich Léo gebeten, unserem Vater nichts davon zu erzählen. Bis jetzt ist er meinem Wunsch nachgekommen und ich habe mir vorgenommen, mich von jetzt an auf jeden Fall zusammenzureißen. Es ist doch alles gut. Es gibt keinen Grund, sich zu benehmen wie ein Gestörter. Das Dumme ist, dass ich ja nicht aus freiem Willen dagestanden habe wie ein Kaninchen vor der Schlange. Ich weiß selbst nicht, warum mein Verstand in diesem Moment komplett ausgesetzt hat und ich keinen Finger rühren konnte. Das
ist ja das Problem. Aber ich bin trotzdem zur Arbeit gegangen, habe die Leute mit Bisswunden versorgt, die Toten nach unten getragen und menschliche Asche in kleine graue Urnen gefüllt. Es ist alles gut. Ich habe bemerkt, dass ich die vielen Verletzten nun aus ganz anderen Augen betrachte. Ich habe immer den Gedanken im Hinterkopf, dass es ihnen genauso ergangen sein könnte wie mir. Natürlich wüsste ich davon, wenn sie ebenfalls als Vorratskammer missbraucht worden wären, das wäre mir gesagt worden, aber nein, das ist nicht der Punkt. Sie tun mir
leid. Aber trotzdem ist es bei diesen Personen anders. Sie sind auf offener Straße angegriffen worden, heutzutage ganz gewöhnlich. Die Bestien, die sie gebissen haben, sind tot, die Bisse sind klaffende Wunden, die stark bluten. Hinter dem Angriff steht unmissverständlich die Absicht, zu töten. Oder zumindest nicht die, den betreffenden Menschen am Leben zu erhalten. Diese Angriffe, diese Bestien sind anders. Ich verrichte gedankenverloren meine Arbeit, obwohl ich weiß, dass ich voll und ganz auf meine Sache konzentriert
sein sollte, immerhin geht es hier um Menschenleben. Aber ich komme nicht umhin, immer und immer wieder alles durchzugehen, mich mit den hier stationierten Patienten zu vergleichen, ich kann nichts dagegen tun. Ich will ihr Leid nicht herunterspielen, nein, ganz bestimmt nicht, letztendlich ist es doch egal, ob man sich sechs Tage oder nur zehn Minuten in der Gewalt eines Dämons befunden hat. Die Angst um sein eigenes Leben ist doch die gleiche. Nein, etwas anderes wirft Fragen in mir auf. Dass das Ungeheuer mich nicht sofort getötet hat, erscheint mir durchaus
logisch. Es war verletzt und augenscheinlich nicht besonders gut zu Fuß. Klar. Die Bestien fliegen die meiste Zeit. Ich frage mich, ob der Dämon sich gefürchtet hat, als er so viele Tage seiner Flügel und der Fähigkeit zu fliegen, beraubt war. Ein merkwürdiger Gedanke, abstrus, aber meine Gedanken höre nur ich und keiner kann mich dafür auslachen. Aber noch andere Dinge gehen mir im Kopf herum. Warum lebe ich jetzt noch? Sollte das Monster tatsächlich innerhalb von sechs Tagen genesen sein, warum hat es mir nicht noch den Rest gegeben?
Immerhin war ich halb tot. Haben David und Léo es davon abgehalten, hat es die Flucht ergriffen, als es wieder fliegen konnte? Ich verstehe es nicht. Ich betrachte nachdenklich ein junges Mädchen, das friedlich schläft. Ihre Lippen und ihre Fingerspitzen sind noch immer bläulich, obwohl sie schon seit zwei Tagen hier ist. Ihre Blutwerte sind beinahe wieder normal, doch sie ist vollkommen entkräftet. Ja, das ist es, was mich am meisten irritiert. Innerhalb kürzester Zeit war ich wieder nahezu kerngesund, und das obwohl ich beinahe die Hälfte meines Blutes
eingebüßt hatte. Natürlich, von selbst hätte ich mich sicherlich nicht mehr erholt, aber mit dem Spenderblut war das kein Problem. Ein Glück, dass ich mit AB die unkomplizierteste Blutgruppe erwischt habe. Aber trotzdem, auch dieses Mädchen mit Blutgruppe A hat natürlich umgehend eine Transfusion bekommen und sieht trotzdem so aus, als würde sie noch einige Zeit brauchen, um sich von dem Blutverlust zu erholen. Merkwürdig. Ich sehe auf, als plötzlich jemand an den Türrahmen klopft. Keiner tut das, die Türen stehen ja nicht umsonst offen, hier rennt jeder herum, wie es ihm passt. Außer Neulinge.
„Ähm … entschuldigen sie“, sagt eine junge Frau leise, um die Patienten nicht zu stören. „Wissen sie vielleicht, wo ich den zuständigen Arzt finden kann?“ „Sicher“, erwidere ich. „Er müsste im Zimmer nebenan sein. Gehen sie einfach rein.“ Die dunkelblonde Frau lächelt. „Vielen Dank“, sagt sie, zögert. „Entschuldigen sie die Frage, aber kann es sein, dass sie mich vor zwei Wochen behandelt haben?“ Ich runzle für einen Moment die Stirn, dann fällt es mir wieder ein. Ja, die Frau mit dem Eisen-und Vitaminmangel, die mich um Wasser gebeten hat. Damals sah sie furchtbar krank und schwach aus,
doch inzwischen scheint sie wieder recht fit zu sein. „Ja“, bestätige ich nun. „Ja, das stimmt.“ Ich lächle ihr knapp zu. Zögere. Ich würde sie gerne fragen, wie sie hierhergekommen ist. Vielleicht wurde sie aus einem anderen Krankenhaus hierher versetzt? Unwahrscheinlich, es gibt deutlich schlechter besetzte Notaufnahmen. Vielleicht hat sie auch schon früher hier gearbeitet und ich habe sie nur nie gesehen? In einer anderen Abteilung vielleicht? Immerhin nehmen wir hier auch ganz normale Verletzte auf, Unfälle sterben ja nicht aus, nur weil die Apokalypse da ist. Sie will sich gerade abwenden, als ich
mir einen Ruck gebe. „Entschuldigen sie, sind sie neu hier?“, frage ich und als sie sich umdreht, trete ich näher an sie heran, gehe bis hinaus auf den Flur, damit wir niemanden belästigen. „Ich meine nur, ich habe sie hier noch nie gesehen“, setze ich erklärend hinzu und stecke die Hände in die Taschen meiner Hose. Ein freundliches Lächeln legt sich über das Gesicht der Frau. „Ja, ich fange heute hier an. Ich bin versetzt worden“, erklärt sie und folgt mir in den Gang. „Versetzt?“, hake ich überrascht nach. „Ja, vom Außendienst“, sagt sie. Meine Augen werden groß. „Sie haben als Verteidiger gearbeitet?“
Die Neue lacht. Es ist ein herzliches Lachen. „Ist das so ungewöhnlich?“ Noch bevor ich einen Versuch unternehmen kann, mich peinlich wieder aus der Sache herauszureden, spricht sie weiter. „Das Gift der Harpyien hat meine Nerven beschädigt. Nichts Dramatisches, aber mit drei gelähmten Fingern kann ich nicht mehr auf Monster schießen.“ Ich schlucke. Die Welt ist schon unfair. „Das … das tut mir leid für sie“, sage ich dümmlich und wünschte, ich hätte es nicht gesagt. Immer dieses blöde Phrasengedresche. Das kann ich doch selbst nicht leiden und trotzdem greife
ich darauf zurück. Doch sie winkt nur ab. „Im Grunde bin ich nicht böse darum. Mir fällt nur immer wieder auf, wie wichtig unsere Finger eigentlich sind.“ Sie wendet sich mir zu und hält mir ihre Hand hin. „Bitte, nennen sie mich einfach nur Maria“, bittet sie mich. Ich lächle und drückte ihre Hand kurz, frage mich, ob es wohl die Hand ist, an der sie drei Finger nicht mehr spüren kann. „Louis“, entgegne ich freundlich und ziehe meine Hand wieder zurück. Erneut zögere ich. Ich habe zu tun, doch ich will nicht unhöflich sein … Maria scheint meine Gedanken lesen zu können. „Du hast doch sicher noch zu
tun, oder? Und ich sollte mich jetzt mal beim Chefarzt melden.“ Ich nicke fast ein wenig überfordert. Sie hebt kurz die Hand. „Bis später, wir laufen uns bestimmt nochmal über den Weg.“ Ich nicke knapp. „Bis dann.“ Damit kehre ich in den Krankenraum zurück. Wieder blinzeln mir diese trüben Augen entgegen, ein unheimlicher Anblick. Ich mache weiter meinen Job, verteile Wasser, Tabletten aller Art, erneuere Infusionen und Transfusionen, spreche mit den Kindern, den Alten, den Frauen und den Männern. Dann, plötzlich, ein Piepen. Ich schrecke auf.
Die Herzfrequenz des Mädchens von vorhin ist von einem Moment auf den anderen schlagartig ins Bodenlose gefallen, eine leuchtend blaugrüne Linie zieht sich über den Monitor. Sofort bin ich bei ihr, doch ich weiß bereits, dass ich ihr nicht mehr helfen kann. Mit Sicherheit hat das Gift, das in ihren Adern zirkuliert, ihre Atmung oder direkt den Herzmuskel gelähmt und so einen Herzstillstand ausgelöst. Das Mädchen ist schon tot, als ich bei ihr ankomme. Sie sieht aus wie zuvor, bleich, mit blauen Lippen, geschlossenen Augen. Ich schalte die Geräte ab. Mehr kann ich
nicht tun. Ich sehe auf den leblosen Körper hinab. Das Mädchen ist nur dreizehn Jahre alt geworden. Ich fühle mich schlecht. Im Nachbarbett beginnt ein noch jüngeres Mädchen zu weinen. Ich tröste es, das ist alles, was ich in dieser Situation tun kann, ich kann für die Lebenden da sein, aber die Toten sind allein. Plötzlich verstehe ich, was Léo und David meinten, als sie sich ohne Zögern für den Außendienst gemeldet haben. Sie sagten, dass der Waffendienst viel weniger schlimm sei als immer nur Elend zu sehen. Mit einem Mal verstehe
ich sie.