Humor & Satire
Tradition - FB 56

Langsam werden die Schatten lang und die Tage sehr viel kühler. Es ist also an der Zeit. An der Zeit, die Tradition fortzusetzen. Meinen Verpflichtungen nachzugehen. Frischer Ostwind bläst in meine Pluderhose. Gänsehautspitzen reiben sich an Wollwänden. Absperrung gegen Wind und Herbstgetöse. Ich ziehe den Schal dichter an meinen Hals. Möchte nichts beschönigen. Mitnichten!

Dennoch … Was getan werden muss, hat eben zu geschehen. Ob es allen passt oder auch nicht. Das Werk wird vollbracht werden. So, wie jedes Jahr. Es wird sich schon zeigen, wen es dieses Mal trifft. Ich lasse mich treiben. Als Weib, als Künstlerin, als Überbringerin.

Treibholz des Lebens. Das Ziel im Blick, die Schönheiten zu bewahren. Ziel ist es, die Schönheit der Hässlichkeit zu entlocken. Behüten, betrachten, gewinnen. Gewinn nicht nur für unsere Natur. Auch Menschheit und Artenvielfalt profitieren. Und so streife ich mir die Ärmel hoch. Das Gute im Sinn.

Ein Lächeln auf den Lippen. Mit Bedacht wähle ich die Zutaten aus. Nur die besten, vielversprechendsten Samen finden ihren Weg in die Keramikschale. Fichtennadeln dienen als bewährter Dünger, damit alles sehr kraftvoll gedeihen kann. Distelsamenberge. Etwas Brennnessel und auch Bartnelken. Gänseblumenspross und Löwenzahn. Weißblühende Ackerwinde. Ein wenig Giersch und dem Ehrenpreis einen Ehrenpreis! Zum guten Schluss noch ein paar Körner vom indischen Springkraut. Diesen Potpourri vernestele ich mit bester

Erde direkt vom Kompost. Schon ist er bereitet.

Der Hauptgewinn für den kommenden Sommer. Der Vielfalt zum Erhalt. Kein Verzicht auf kommende Distelpracht. Mannshoch und bärenstark. Wie sehr würde ich diesen Augenschmeichler sonst vermissen! Wie arm! Diese monokulturellen Gärten, in denen ein Grashalm dem anderen gleicht. Welche Tragödie! Gut, dass ich Abhilfe schaffe! Mit Mut und Herz stelle ich keine Forderungen, ich schaffe Tatsachen!

Stolz und eitel schreite ich aus. Auf Zehenspitzen staune ich über Gartenzäune. Hundegekläffe vom Nachbargrundstück. Ich ziehe weiter. Suchend. Abgedeckte Blumenreihen. Gewaschener Kies. Ein einsamer Baum. Zurechtgestutzt, dressiert, geknebelt. Ich fühle das Prickeln in mir aufsteigen. Fühle, dass es richtig ist. Freiheitskämpferin für frisches Grün. Der Natur zuliebe. Kraftvoll hole ich aus. Ähnlich eines Götterschweifes schwingt sich die Samenbombe zwischen die geraden

Pflanzreihen. Ich atme durch. Klappe innerlich den Buchdeckel zu. Es ist vollbracht und wird reiche Früchte tragen. Im nächsten Jahr, wenn die Natur ein neues Kapitel schreibt. Reibe mir die Hände warm. Jetzt erstmal eine gute Tasse Kaffee …