In den SChatten
Er war alt und sein Körper mochte gebrechlich wirken, doch sein Geist war klar wie der Nordwind.
Schwer stützte er sich auf seinen gekrümmten Kiefernstock und lehnte seinen gebeugten Rücken gegen die steinerne Hauswand. Über seine dünnen Lippen huschte ein geflüsterter Vers und kurz darauf verschmolz seine vermummte Gestalt mit den Schatten der abgelegenen Sackgasse.
Salivan lebte seit seiner Geburt hier in Berkhem. Alles Grauen, was er während seiner langjährigen Ausbildung zum Großmeister der Magie gesehen hatte,
hatte sich außerhalb dieser Stadtmauern zugetragen. Menschenfressende Sirenen in den Buchten des zerklüfteten Nordens. Die gehörnten Bären in den weiten Gebirgsausläufen des Westens. Und selbst die hartnäckigen Irrwesen hier in den tiefen, heimischen Nadelwäldern hatten es nie gewagt, in seine Heimatstadt einzudringen. Aber nun war etwas durch dieses Tor getreten, was nicht einmal in diese Welt gehörte, geschweigedenn in diese idyllischen Straße und was nicht davor zurückzuschrecken schien, einem Magier entgegenzutreten.
Er fuhr mit seinen knochigen Fingern über den breiten Silberring am Daumen
seiner rechten Hand. Der kantige, münzgroße Stein, der darin eingelassen war, zeigte sich in dem unheilvollsten Farbton, welchen Salivan je gesehen hatte. Pechschwarz und jedes Licht verschlingend, prangte der Stein wie ein tiefes Loch an seinem Finger.
Er hatte in der Vergangenheit bereits die gestaltlosen Wesen der Dunkelheit bekämpft. Noch mit seinem eigenen Meister hatte er vor sehr vielen Jahren einen Dämon gestürzt, der sich auf einem Friedhof eingenistet hatte. Die Berichte von jenen Ereignissen dort schienen aus qualvollen Fieberträumen entsprungen. Verstümmelte Leichen in den Kapellen, leere Särge und heftige
Insektenplagen in den umliegenden Dörfern.
Diese maßlos furchtbaren Wesen waren glücklicherweise schon in den alten Zeiten sehr selten gewesen und hatten die Menschen häufig nur nach schweren Tragödien wie Krieg oder Naturkatastrophen heimgesucht. Dann, wenn die Seelen der Menschen selbst dunkel und schwach gewesen waren. Je weniger Leid die Welt mit der Zeit erfahren hatte, desto seltener waren diese Kreaturen aus ihren Löchern gekrochen. Salivan hatte bereits vor über vierzig Jahren vor dem Gilderat der Magier ausgesagt, dass es nicht länger Spuren dämonischen Treibens im
gesamten Reich Helvios gab. Auch seine weisen Genossen aus vergangenen Studienzeiten hatten das über viele Jahre hinweg bestätigt. Und dennoch. Keine andere Macht dieser Welt war in der Lage, einen Ascalon Stein so tief schwarz zu verfärben, wie er sich ihm in diesem Moment darbot.
Salivan schloss die glasigen, eingefallenen Augen und ließ sich von den Geräuschen und Eindrücken der Nacht durchströmen, während er weiterhin bewegungslos dastand und geduldig seinen Zauber wirken ließ.
Der Ascalon Stein, ein seltenes, magisches Artefakt zum Aufspüren unsichtbarer Mächte, war ein unfehlbares
Instrument. Er reagierte auf jede Form von Magie im Umkreis von ein paar Meilen und war somit das zuverlässigste Frühwarnsystem der irdischen Welt, sofern man seine Zeichen richtig zu deuten wusste. In seinem Besitz war der Stein stets von einem glänzenden Perlmutt. Er sah aus wie ein gewöhnliches, teures Schmuckstück am Finger eines alten, geizigen Mannes. Sein wahrer Wert war jedoch mit keinem Geld dieser Welt aufzuwiegen.
Lange dachte Salivan nun schon darüber nach, wem er dieses unermesslich wertvolle Artefakt überlassen würde, wenn er eines Tages von dieser Welt schied. Keiner seiner drei Schüler, die
allesamt nun selbst unterrichteten, waren dieser Ehre würdig. Sie waren formidabel gewesen, einer mehr, als der andere, aber dennoch nur zweitklassig. Fleißige Schüler, höfliche und aufmerksame Persönlichkeiten, aber eben wie jeder andere Magier dieser Zeit auch. Durchschnittlich.
Manchmal überlegte Sailvan in seiner Verbitterung über diese Tatsache, ob er den Ring, den er bei seiner Ernennung zum Großmeister erhalten hatte, nicht einfach mit seinen sterblichen Überresten verbrennen lassen sollte. Die Zeiten des Krieges waren ohnehin längst vorbei und ebenso die Zeiten, in denen der Ring eine andere Farbe annahm, als
die seiner eigenen Präsenz.
Doch dieser Abend schien ihn doch langanhaltend umzustimmen.
Endlich hörte er den ersten Klang von Schritten. Unvermittelt tauchten sie am anderen Ende der verwaisten Sackgasse auf und näherten sich unendlich langsam. Jeder einzelne Schritt schien das Echo eines leidvollen Todesschreis mit sich zu ziehen, der Salivan bis tief ins Mark erschütterte.
Abrupt riss der Magier seine Augen auf und brach somit den Zauber, mit dem er die wahre Natur dieses Wesens für sich erkennbar gemacht hatte, da er damit gerechnet hatte, dass es seine Identität auf irgendeine Weise verhüllen würde.
Mit einer schwungvollen Armbewegungen schüttelte er die Dunkelheit ab, in der er sich versteckt hatte und stieß mit seinem schmucklosen Stab auf dem Boden auf. Wie aufgeschreckt stoben die Schatten um ihn herum auseinander und zogen sich in den hintersten Winkel der Sackgasse zurück, wo sie wie hauchdünne, schwebende Seide über dem Boden waberten.
„Deinesgleichen ist hier nicht willkommen“, donnerte Salivan mit tiefer, brechender Stimme und schob sich mit einer Hand die schwere Kapuze von dem schneeweißen Haupt.
Die beinahe unscheinbare, männliche Gestalt, die einige Schritte entfernt von ihm zum Stehen gekommen war, hob seinerseits den Kopf und blickte ihn seelenruhig aus kristallklaren, dunkelbraunen Augen an.
„Und dennoch hast du mich hierher eingeladen, Magier“, erwiderte der Dämon seicht lächelnd und verwies mit einem seelenruhigen Kopfnicken auf die schiefen, verwitterten Hauswände zu beiden Seiten der engen Gasse.
Salivan verengte seine glasigen, wasserblauen Augen zu schmalen Schlitzen und umklammerte seinen Stab bis seine Knöchel weiß hervortraten. Der
Dämon hatte seinen verdeckten Lockzauber also bemerkt und war ihm dennoch willentlich in diese Falle gefolgt. Noch dazu in einer verletzbaren, menschlichen Gestalt, in der er für jeden sichtbar war.
Es wollte ihm nicht gelingen, dieses Wesen zu durchschauen. Die menschliche Form, in der er sein wahres Gesicht verbarg, verhinderte ebenso, dass Salivan das volle Ausmaß seiner Macht erkennen und sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten konnte. War das eine List, damit er ihn unterschätzte? Dennoch schien dieser Dämon aber keinen Hehl aus seinen enormen Fähigkeiten machen zu wollen,
da er ihm offen und überheblich zu erkennen gegeben hatte, dass er seinen Zauber zuvor durchschaut hatte. Was in aller Götter Namen war nur seine Absicht?
In Salivan begann sich ein längst vergessenes, lähmendes Gefühl auszubreiten, was sein Inneres zum Beben und seine steifen Finger zum Schwitzen brachte. Der Großmeister musste nun die schauderhafte Möglichkeit in Betracht ziehen, vielleicht selbst derjenige zu sein, der unwissentlich in eine Falle getappt war.