25 Manöver
Es fällt mir bis heute schwer, mich an die Ereignisse in der rechten Reihenfolge zu erinnern. Es geschah auf einmal so vieles und manches so schnell und nicht wenig hat seinen unauslöschlichen Platz in mir. Denn niemals hätte ich gedacht ...
Ich saß an meinem Schreibtisch, tauchte die Feder viele Male in das Tintenfass, schrieb auf, nur um festzustellen, dass manches so nicht zusammen passte. So kam mir der Gedanke, nur kurze Worte auf kleine Zettel zu schreiben. Gedächtnisstützen die ebenso nötig wie nützlich waren, aber nur mir etwas sagten. Dann holte ich tief Luft. Lange habe ich sie hin und her geschoben, bis sie irgendwann Sinn ergaben. Ich weiß nicht mehr, ob die Dinge sich so
zugetragen haben, doch zumindest kann ich die Geschichte so ohne Ecken aufschreiben. Ob sie jemals jemand lesen wird, oder es überhaupt sollte, ist eine andere Frage und wenn ich sie gerade hetzt beantworten müsse, würde ich sagen: nein. Doch die Zeiten mögen sich ändern, so dass der Verstand, den Gott den Menschen eingab, ihnen eines Tages von Nutzen sein wird.
Alles begann mit einem Manöver ...
Als Erik am nächsten Morgen erwachte und auf den kleinen Balkon vor seiner Kammer trat, war nicht der Geruch des Misthaufen unter diesem das, was er zuerst bemerkte. Er schaute den Schlosshügel hinunter über den Wald auf einige Felder und Wege und erblickte Männer in bunten Röcken. Nicht alle saßen auf Pferden, doch einige taten es. Das waren von Brachwitz'
Dragoner. Wie es schien waren sie zu einem Manöver ausgerückt. Allerdings waren auch Infanteristen dabei. Woher die kamen, konnte sich Erik nicht erklären, immerhin lag das nächste Regiment Fußsoldaten in ...* und das war über vier Tagesmärsche entfernt. Es war also durchaus interessant, sich die Sache einmal näher anzusehen.
Doch dazu kam er zunächst nicht. Der Kastellan klopft an seine Tür und vermeldete, dass der Graf ihn sehen wollte. Erik seufzte und kam der Aufforderung nach, obwohl er genau wusste, was geschehen würde - und das geschah dann auch.
Der Graf hatte es nicht eilig, ließ in dann irgendwann zwar endlich vor, aber nicht zu Wort kommen. Stattdessen überhäufte er ihnen mit Anschuldigungen. Die meisten betrafen seinen unchristlichen Lebenswandel und nicht seine Aufgabe und Erik hörte Rufus Wadewitz sprechen, oder den Kanzler Killian Brecht, der
die ganze Zeit böse grinsend neben dem alten Mann stand. Erst kurz vor Mittag war Erik entlassen. Er hatte kein Wort sagen dürfen, aber gegen Ende auch gar nicht mehr sprechen wollen. Weil er das Frühstück verpasst hatte, ging er über den Schlosshof in die Gesindeküche und ließ sich von Maja ein Stück Brot und Pökelfleisch geben. Er bedankte sich mit einer Verbeugung, welche die wundersame Frau - wie immer stumm - erwiderte und machte sich dann auf den Weg. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und wenn Erik ein Hellseher gewesen wäre, er hätte sich mehr an ihr erfreut. Stattdessen schimpfte er im Stillen über den Grafen und den Kanzler, sehnte sich nach Amarants Armen, dem hellen Geist des Doktors und der Freundschaft von Moritz und dem Strohkarl. Doch alles, was ihm blieb, war Brot und Pökelfleisch.
Er ging durch Werrentheim hindurch ohne darauf zu achten, wer ihn beobachtete. Hunde
und Katzen tollten umher und warfen ein Aug auf ihn, bleiben jedoch auf Abstand. Waschweiber unterbrachen ihr Schwätzchen, als sie ihn erblickten. Ein Trunkenbold versuchte eine bauchige Flasche hinter seinem Rücken zu verstecken - einen letzten Rest von Scham hatte er sich wohl noch nicht weggesoffen -, doch es gelang ihm mit seinen zitternden Händen mehr schlecht als recht. Andere Trinker gingen ihrem Laster ohne jedwede Bedenken nach. Aus einem Holzhaus mit morschen Wänden kamen gedämpfte Schreie. Ein Hund, dessen Ohr herunterhing, mit einem geröteten Auge lag apathisch in seiner verkommenen Hüte neben einem heruntergekommenen Schuppen. Bei so einem Anblick sprach die Nachbarschaft in der Regel von ehrbaren Leuten, denn man ging in die Kirche und damit war allem genüge getan.
Darum machte Erik einen großen Bogen um das Gotteshaus, knurrte einen beleibten, fein gekleideten Werrentheimer leise an und nahm
dann die Hauptstraße aus der Stadt heraus, vorbei an dem kleinen Hügel, auf dem der Mob Majas Tante als Hexe hatte verbrennen wollen und bog dann in einen Feldweg ein, der von alten Buchen wie eine Allee auf beiden Seiten feierlich flankiert wurde. In der Nähe des Hartwighofs traf er auf die ersten Infanteristen. Indes waren es keine richtigen Soldaten. Ihre Kleider waren bunt und keine zwei Männer sahen gleich aus, obwohl nicht wenige alte Uniformen, doch ohne jede Abzeichen, trugen. Auch hatten manche Piken oder gar Forken anstatt Musketen in den Händen. Erik war von diesem wild zusammengewürfelten Haufen nicht besonders angetan, doch als er vom Wege abwich und auf ein Feld trat, kam ein großer, finsterer Kerl auf ihn zu.
"Hey du! Im Namen des Grafen von Brochwelz. Jeder hat auf den Wegen zu bleiben. Und wenn Du nicht gehorchst, werden Dir meine Jungs und ich eine ordentliche Abreibung
einschenken. Also, husch, husch, troll Dich, bevor mir die Hand ausrutscht!"
Erik war wenig beeindruckt. Er war sich sicher, dass er schon mehr Kämpfe als dieser Möchtegernsoldat gesehen und bestanden hatte und außerdem vertraute er auf die beiden doppelläufige Pistolen, die unter seinem Rock verborgen waren und sein Entermesser konnte es auch ohne Probleme mit dem Knüttel des anderen aufnehmen.
"Kerl, Du berufst dich auf den Baron von Brachwitz und kannst doch noch nicht einmal seinen Namen richtig aussprechen! Auch scheinen mir Du und deine Jungs doch mehr von einer Räuberbande zu haben. Aber Du hast schon recht: Eine Abreibung wäre mal von Nöten!"
Es war nicht so, dass Erik die Überzahl der anderen nicht fürchtete, doch er wusste, das solches Gesindel nur Grobheiten verstand. So grinste der große finstere Kerl ihn nun zwar
böse an und streichelte seinen Knüttel mit der einen Hand, doch schon drei seiner Jungs drehten sich still und leise um und brachten vorsichtig einige Entfernung zwischen sich und den Ort der möglichen Auseinandersetzung. Doch dazu kam es nicht.
"Aufhören!", rief eine laute Stimme.
Ein Reiter auf einem großen braunen Pferd kam angeritten und in der Hand hielt er einen Säbel.
"Kerle! Zurück auf eure Posten oder wir lassen euch die Spießruten spüren!"
Es war Hauptmann Hinrich von Leffersingen. Aus dem Sattel jagte er die Männer fort, dann kam er zu Erik und saß ab. Seine Uniform war blitzblank.
"Verzeiht, Herr von Berensiel, aber diese Hunde wissen einfach nicht, was Disziplin ist."
"Schon gut, Herr Hauptmann. Aber das sind doch gar keine richtigen Soldaten. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass sie zu euren
Dragonern gehören."
"Großer Gott! Niemals!", rief von Leffersingen bei Erik angekommen erschrocken aus. Seine Uniform mochte so in Form sein, wie es sollte, sein Atem verriet dennoch den übermäßigen Weingenuss. "Landwehrmänner. Der Herr Oberst hat eine Manöver mit ihnen angesetzt. Warum entzieht sich jedoch meinem Verständnis. Die meisten taugen noch nicht einmal zum Schafehüten. Tagediebe, wenn nicht noch schlimmeres."
"Der Baron wird schon wissen, was er tut", startete Erik einen Versuch.
"Mit Krieg hat das, was wir hier machen aber wenig zu tun", antwortete der Hauptmann verächtlich. "Und für eine Treibjagd taugt das auch nur, wenn man es auf Lahme, Kranke, Alte oder solche, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, abgesehen hat. Bloße Zeitverschwendung, wenn Ihr mich fragt. Aber ich bin ja nur Hauptmann."
Von Leffersingen zog seinen Hut und Erik erwiderte den Gruß. Dann wollte der andere schon wieder sein Pferd besteigen, drehte sich aber noch einmal um.
"Aber vielleicht ist da etwas anderes, was Euch interessiert", meinte er, scheinbar offen und ehrlich.
- Fortsetzung folgt -
Anmerkung:
* = Auslassung im Manuskript