1768. Seit zwei Jahren geht in der Grafschaft Werrentheim eine Bestie um, tötet wahllos Menschen. Der König beauftragt Erik von Berensiel, dass er dem mörderischen Treiben ein Ende setzt. Der Empfang beim Grafen ist wenig freundlich.Von Doktor Himmelblau bekommt Erik einige Papiere. Es gelingt ihm, den Vater des ersten Opfers zu retten, doch von dem kann er nichts erfahren. Er lernt die Tochter des Grafen und dessen Sohn näher kennen, wird mit einer seltsamen alten Frau konfrontiert. Dann kommt ihm eine Erkenntnis: Die Bestie ist ein Mensch! Sie schlägt wieder zu. Einen Mob hält er auf, doch die Erkundung des Hexenwalds bringt nichts. Ein unbekannter Angreifer, den Erik im Schloss verfolgt, entkommt. Die Wolfsbibel gewährt Eindrücke in das Denken der Bestie
Niemals hätte Erik vor dem Einbruch der Nacht Werrentheim noch erreichen können. Darum verblieb er bei den Kartäusern. Lange redete er mit seinem altem Hauslehrer. Er genoss das, auch wenn Oijer van der Bruk immer wieder auf seinen Bruder zu sprechen kam. Doch davon wollte Erik nichts wissen. Fiel Sindolfs Name, schüttelte er den Kopf, protestierte, oder wurde einfach still, so dass der alte Mann schließlich jeden Versuch unterließ. So kamen die beiden sich wieder näher und redeten bis spät in die Nacht. Man trug ihnen im Refektorium ein spätes Abendessen auf - mehr aus Respekt vor dem Gelehrten denn um des ungebetenen Gastes Willen - und die Suppen mit
den dicken grünen Bohnen war ein Genuss auf Eriks Zunge. So oft hatte er auf seinen Reisen mit Haltbargemachtem vorlieb nehmen müssen und darum schätzte er jede frisch zubereitete Speise. Den Regeln des Ortes folgend schwiegen die beiden Männer im klösterlichen Speisesaal, doch sie lächelten sich immer wieder an. Auch Oijer wusste ein schmackhaftes Mahl zu schätzen, war doch ungewiss, wie oft er sich noch daran erfreuen konnte.
Am nächsten Morgen zögerte Erik seine Abreise hinaus, doch irgendwann war es soweit. Er führte die Stute vor das Tor der Kartause. Ein Novize reichte ihm seine Waffen und er legte sie an. Der Grimmige führte Oijer herbei. Sein Gesichtsausdruck war dabei überraschend mild, wohl weil er den alten Benediktinergelehrten hoch schätzte. Ohne ein Wort standen Erik und Oijer sich eine Zeit lang gegenüber, denn reichten sie sich die Hände und
umarmten sich. Nur schwer konnten sie voneinander lassen, weil beide wussten, dass, wenn Gott nicht ein Wunder geschehen lassen würde, dies der Abschied für immer war. Schließlich trennten sie sich doch und Erik bestieg die Stute. Oijer hob die Hand zum Abschied und murmelte ein leises Gebet. Er blieb, auf den Grimmigen gestützt, so lange vor dem Tor stehen, bis sein früherer Schüler in einem nahen Wald verschwunden war.
In den nächsten fünf Tagen tat Erik wenig, um das Geheimnis der Bestie zu ergründen oder doch wenigstens ihr Treiben einzuschränken. Und das kam so: Am nächsten Morgen kam er, von lautem Gepolter angelockt, in die Empfangshalle. Dort waren mehrere Bedienstete damit beschäftigt, Koffer und allerlei Reiseutensilien zusammenzustellen. Auf der Mitte einer Treppe stand der Graf von Werrentheim und beobachtete das Treiben wie
ein General die Präparationen für eine Schlacht. Ein Stück unter ihm war Moritz von Werrentheim. Beide Männer trugen einen wetterfesten Reiserock. Zwischen den Koffern, Bediensteten und dem sonstigen Zeug eilte der Kanzler Brecht Killian umher, Anweisungen gebend und mit dem bleichen, jungen Mann im Schlepptau, dessen Namen Erik immer noch nicht kannte, den er aber nun noch mehr für einen Schreiber hielt. Jener trug unter dem Arm Papiere, auf die er immer wieder einen Blick warf und dann seinem Herrn und Meister etwas ins Ohr flüsterte. Kurz gesagt: In großer Eile wurde eine Reise vorbereitet.
Und dann kam sie!
In einem weißen Kleid, das an ihr gar nicht unschuldig aussah, und ihre roten Haare noch mehr aufleuchten ließ, schwebte Amarant herbei. Sie nickte Erik zu und lächelte in dabei keck an. Dann begab sie sich zu ihrem Vater und küsste ihn auf die Wange. Dessen grimmige
Geschichtszüge wurden sofort weich.
"Meine liebe Tochter, wie Du weißt, muss ich dringender Geschäfte wegen fort", begann der alte Graf. "Dabei ist es von Nöten, dass Moritz und der Herr Kanzler mich begleiten. Also bist Du in den nächsten Tagen die Herrin von Schloss Werrentheim."
"Ich hoffe, ich werde Euch nicht enttäuschen", antwortete Amarant. Der Graf tätschelte ihr freundlich den Arm. "Das wirst Du nicht, mein Goldstück, das weiß ich." Dann warf er Erik einen Blick zu und seine Miene verfinsterte sich. "Habe nur gut Acht, dass der Junker von Berensiel keinen Unfug anstellt. Wer weiß schon, was in seinem kahlen Kopf vorgeht."
"Oh, mein Vater, ich werde mir diesen Ratschlag zu Herzen nehmen, das ist gewiss."
Schließlich brach die Gesellschaft auf. Es entstand ein großes Tohuwabohu, doch schließlich waren alle Dinge und Personen in der
Kutsche, die auf dem Vorplatz stand, untergebracht. Moritz beugte sich noch einmal aus dem Fenster, gab seiner Schwester einen Kuss auf die Wange und schüttelte Erik die Hand. Er sah nicht sehr glücklich aus. Und dann waren sie fort.
"Ich hoffe, du hast Hunger", flötete Amarant und zog Erik hinter sich die Treppen hinauf zu ihren Gemächern. In einem der Vorzimmer war ein Frühstück für zwei gerichtet worden. Er lachte.
"Als dein Vater sagte, Du sollst gut auf mich Acht geben, glaube ich nicht, dass er so etwas meinte."
"Er wollte, dass Du keinen Unfug anstellst und am besten bewerkstellige ich das, in dem ich nicht von deiner Seite weiche." Amarant kicherte. "Hinterher kommst Du wieder auf dumme Gedanken, eilst durch die Gegend, rettest Menschen ohne an dein Wohl zu denken oder legst dich gar mit der Bestie höchst
persönlich an. Und das wollen wir nicht, nicht jetzt, wo mein Vater nicht vor Ort ist."
Das Frühstück wurde ausgiebig und dauerte lange. Viel wollte Amarant von Eriks Reisen wissen, interessierte sich für Länder, Bauwerke, Menschen und auch Tiere. Der erzählte gern davon, denn selten hatte er einen so interessierten Zuhörer. Außerdem konnte er dabei sie, ihr leuchtend rotes Haar, ihre grünen Augen und ihr schönes Gesicht ständig anschauen. 'Vielleicht gibt es irgendwo ja noch eine schönere Frau', dachte Erik, 'doch keine, die so charmant und klug dabei ist.' Nach dem Frühstück bestand Amarant darauf, Erik den unbenutzten Teil des Schlosses zu zeigen. Und wie der Zufall es wollte, nahm sie dabei fast den Weg, auf dem der Schatten geflüchtet war. Doch Erik ließ sich nichts anmerken. Zwar interessierte ihn nicht sonderlich, wer wann angeblich in welchem Zimmer genächtigt hatte, doch er hörte Amarant einfach gerne zu, mochte
ihre Stimme.
Zum Abschluss ihres kleinen Rundgangs standen sie in der lange nicht genutzten Halle vor der Tür, hinter der sich der Raum mit den Rüstungen verbarg. Erik ließ sich seine Nervosität nicht anmerken, doch gleich würde offensichtlich werden, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
"Hier bewahren wir die wichtigsten Rüstungen unserer Vorfahren auf", sagte Amarant, griff nach der Klinke, drückte sie hinunter und öffnete die Tür. "Erstaunlich nicht?", fragte sie mit einem Lächeln.
"Das ist ..." Erik traute seinen Augen nicht. "Das sind ... ist in der Tat ein höchst erstaunlicher Anblick!"
"Es ist zwar richtig, dass in Werrentheim noch nie das Geld zu Hause war, doch wurden immer nur die besten Harnischtreiber angestellt und stets gut bezahlt, das verlangte allein die Ehre."
Alle Rüstungen standen in Reih und Glied, so
wie es sein sollte. Jemand musste die Umgeworfene wieder aufgestellt und gerichtet haben. Gehört hatte Erik davon aber nichts.
"Diese hier gehörte Joseph dem Husaren", begann Amarant, "von dem man jedoch sagt, er sei viel zu klein gewesen, um ein Pferd allein zu besteigen. Außerdem habe er die Rüstung nur anfertigen lassen, damit alle dachten, er sei ein Riese. Was er nicht war. Wenn der Maler auf dem Gemälde nicht gelogen hat, war lediglich die Nase an ihm riesig. Es heißt auch, er habe ständig an Schnupfen gelitten." Amarant kicherte. "Die hier soll einmal Franz dem Dumpfen gehört haben ..."
Erik hörte ihr genau zu. Doch nichts an dem, was sie sagte war etwas anders als das, was ein Chronist zu berichten gewusst hätte. Schließlich kamen sie zu der Rüstung, hinter welcher der Schatten sich versteckt hatte. Sie sprach man Volkher dem Gläubigen, dem ersten Grafen von Werrentheim zu.
Dem Rundgang folgte ein kurzes, aber schmackhaftes Mittagsmahl, zubereitete von Maja Jülich, deren Kochkünste auch von Amarant hoch geschätzt wurden.
"Ich kann nicht kochen", sagte sie, "bin durch und durch zu blöde dazu. Mir brennt sogar Wasser in einem Kessel an."
"Das glaube ich nicht", antwortete Erik. "Wenn Du etwas willst, findest Du auch Wege, es zu bewerkstelligen, dessen bin ich mir sicher."
Amarant lächelte verschmitzt. Das Essen war in der Tat vorzüglich.
Danach wollte sie ausreiten. Erik war von der Idee nicht besonders begeistert, denn auch wenn er sich mittlerweile im Pferdesattel nicht mehr ganz so unwohl fühlte, fragte er sich doch, was sie damit bezweckte. Es gab keinen Zweifel daran, dass Amarant die bessere Reiterin war. Doch als er die gutmütige Stute
sah, hatte er ein weiteres Mal keine Angst sich ihr anzuvertrauen. Das Pferd würde schon wissen, was am besten war, für ihn und für sie.
Tatsächlich hatte Amarant es wohl auf einen erneuten Zweikampf abgesehen, doch die Stute ließ sich nicht darauf ein. Ganz im Sinne ihres Reiters trabte sie gemütlich durch die Landschaft, die der beginnende Sommer endgültig zum erblühen gebracht hatte. Prächtige Blumen wuchsen am Wegesrand, der Gesang von Vögeln erfüllte die Luft und Bienen summten auf der Suche Nektar um sie herum, zu beschäftigt um auf die Menschen zu achten. Da hatte auch Amarant endlich ein Einsehen und kam mit ihrem Schimmel an Eriks Seite. Sie ritt so nahe bei ihm, dass die Flanken der Tiere sich fast berührten. Denen war das gleich, doch die beiden Menschen auf ihnen glühten.
Zurück im Schloss nahm Amarant Erik bei der Hand und führte ihn durch mehrere Gänge zu der
Tür, hinter der sich das Bad verbarg.
"Das brauchst Du sicherlich mal wieder", meinte Amarant. Erik verstand, dass es an der Zeit war, die Dinge geschehen zu lassen.
"Wenn Du es sagst." Langsam schob sie ihn durch die Tür.
Bad war nicht der treffende Begriff. Es war ein weiter, gekachelter Raum mit eine Fußbodenheizung, die ganz offensichtlich in Betrieb war. Es gab Wannen und Becken hier und Liegen, wenn ein Heilkundiger mit starken Händen zugegen war. In einer Ecke war ein Kamin, vor dem geflieste Hocker standen. Er war entzündet worden, glühte und verbreitetet nicht nur eine angenehme Wärme, sondern auch - weil man offensichtlich noch einige Kräuter dazugelegt hatte - einen angenehmen Duft.
Das größte Becken in der Mitte des Raumes war mit heißem Wasser gefüllt. Es war groß genug, damit mehr als eine Person darin Platz fand. Erik zog seine Stiefel aus, legte seine
Kleider ab und glitt dann langsam in das Wasser. Auch dem hatte man eine Essenz zugefügt, denn es duftete wie eine Sommerwiese und kribbelte auf der Haut. Er tauchte unter und ließ sich so lange von der Wärme umfangen, wie er die Luft anhalten konnte. Dann hob er prustend den Kopf wieder aus dem Wasser.
Sofort bemerkte er, dass sich etwas verändert hatte. Jemand hatte das Bad betreten. Es war Amarant. Sie trug einen leichten Mantel aus Seide, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Langsam schritt sie auf das Becken mit dem faszinierten Erik zu. Schließlich ließ sie den Mantel zu Boden gleiten. Ihre makellose weiße Haut ließ Erik erzittern. Dann glitt auch sie in das heiße Wasser.
Die nächsten Tage gestalteten sich nicht anders und es war die schönste Zeit, die Erik von Berensiel in Werrentheim verbrachte, so viel sei
schon hier verraten. Doch auch oder gerade das Angenehme hat einmal ein Ende. Das Geräusch metallbeschlagener Räder einer Kutsche läuteten es ein. Erik ging nicht hinunter. Das Begrüßen der sicherlich schlecht gelaunten Reisegesellschaft überließ er Amarant. Als Herrin von Schloss Werentheim war das schließlich ihre Aufgabe. Nach einer Weile, klopfte es an der Tür und bevor Erik, der auf dem Balkon gestanden und in die Ferne geblickt hatte, etwas sagen konnte, stürmte Moritz von Werrentheim in einem zerknitterten Reiserock und einem ebensolchen Gesicht herein und ließ sich auf den Stuhl des Schreibtischs fallen.
"Oh mein Gott!", stöhnte er.
"Ich denke, es war eine erfolgreiche Reise für Dich." Erik grinste unverschämt.
"Erfolgreich? Woher soll ich das denn wissen! Mein Vater traf sich mit vielen Leuten, aber mich wollte er nicht dabei haben. Warum hat er mich dann überhaupt mitgenommen? Und dann
war auch noch Rufus Wadewitz da. Herrje, der Mann kann auch nicht einmal für einen Augenblick den Mund halten. Und alles was er sagt, wird gleich zur Predigt. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn man nicht den Eindruck haben müsste, dass alles, was er sagt, aus dem dunkelsten Mittelalter kommen würde. O tempora, o mores! * und ähnlicher Blödsinn. Zuletzt wusste ich mir nur damit zu behelfen, dass ich meine Nase in dein Buch gesteckt habe."
"Da ist er bestimmt ein wenig sauertöpfisch geworden", lachte Erik.
"Sauertöpfisch! Das wäre schön gewesen. Nein, er hat mir in den schillerndsten Farben mit der Hölle gedroht. Ich möchte nicht wissen, wovon der Mann Nachts träumt."
Moritz stöhnte, zog den Hut, den er die ganze Zeit auf dem Kopf behalten hatte und warf ihn ärgerlich auf den Boden. Da fiel Erik etwas ein, etwas, dass er den anderen schon lange hatte
fragen wollen.
"Woher hasst Du eigentlich mein Buch?"
"Oh, Amarant hat es mir empfohlen und gegeben. Keine Ahnung, wo die es sich beschafft hat, aber ihre Nase steckt ja ständig in Büchern, ob nun Unsinn drin steht oder nicht."
- Fortsetzung folgt -
Anmerkungen:
* O tempora, o mores! = lateinischer Ausruf: "Was für Zeiten, was für Sitten!"
ArnVonReinhard Auf jeden Fall musste er, im Gegensatz zu Moritz, nicht den Wadewitz ertragen ... "O tempora, o mores!" ;-) LG AvR |