1768. Seit zwei Jahren geht in der Grafschaft Werrentheim eine Bestie um, tötet wahllos Menschen. Der König beauftragt Erik von Berensiel, dass er dem mörderischen Treiben ein Ende setzt. Der Empfang beim Grafen ist wenig freundlich.Von Doktor Himmelblau bekommt Erik einige Papiere. Es gelingt ihm, den Vater des ersten Opfers zu retten, doch von dem kann er nichts erfahren. Er lernt die Tochter des Grafen und dessen Sohn näher kennen, wird mit einer seltsamen alten Frau konfrontiert. Dann kommt ihm eine Erkenntnis: Die Bestie ist ein Mensch! Sie schlägt wieder zu. Einen Mob hält er auf, doch die Erkundung des Hexenwalds bringt nichts. Ein unbekannter Angreifer, den Erik im Schloss verfolgt, entkommt. Finden sich Erklärungen in der Wolfsbibel?
Am Abend kam Erik nur schwer in den Schlaf. Er rollte sich von einer Seite auf die andere. Er zog die Decke bis zum Kinn, bedeckte sich nur halb und trat sie mit den Füßen ans Ende des Bettes. Er starrte zum hölzernen Baldachin empor, war froh, dass er kaum etwas erkennen konnte, drehte sich wieder auf die Seite, blickte zur geschlossenen Doppeltür mit dem Balkon, sah auch dort nichts, sprang auf, öffnete sie, sog die nächtliche Luft, die das Aroma des kommenden Sommers mit sich brachte, ein, schüttelte den Kopf und legte sich wieder in das Bett. Trotzig - wem gegenüber auch immer - verschränkte er die Arme hinter dem Kopf, kratzte sich dann an der Nase. Er rollte sich zusammen, trommelte mit den Fingern auf die
Matratze, grummelte leise vor sich hin und knirschte mit den Zähnen. Als das ein Ende gefunden hatte, begann er von vorne.
Nur zu gut wusste er, dass es von Werrentheim kaum ein Tagesritt entfernt war, eine lächerliche Entfernung, wenn man in Betracht zog, wie weit er schon herum gekommen war. Und dennoch hatte er sich nicht vorgenommen, ihn zu besuchen. Erik zählte im Kopf die Jahre. Womöglich lebte er ja gar nicht mehr, schließlich hatte seine Gesundheit ihn schon früh im Stich gelassen. Gerade im Frühling litt er. Aber das waren nur Ausreden, die Erik vor sich selbst suchte und er wusste es. Er hatte ihm so viel zu verdanken, doch die eine Aufgabe, die er ihm immer gestellt hatte, nein, die wollte Erik niemals erfüllen, damals nicht und heute auch nicht. Außerdem machte es keinen Unterschied mehr. Das Gestern war vergangen und das war gut so. Doch wenn diese Wolfsbibel etwas zu bedeuten hatte, ihm half,
seinen unsichtbaren Gegner besser zu verstehen, dann musste er alle Hilfe in Anspruch nehmen, derer er habhaft werden konnte. Und er war nun einmal ein gebildeter Mann und niemand kannte sich mit jenem wirren Zeug besser aus. Es gab keine spirituelle Handschrift, kein häretischen Einseitendruck, keine aufwieglerische Parole im Namen irgendeines Herren oder Gottes, von der er nicht schon einmal gehört hatte. Sein kleiner Kopf war eine einzigartige Bibliothek und Erik würde er niemals abweisen, so viel war klar. Doch der wollte ihn nicht sehen, weil er bestimmt wieder damit anfangen würde.
Das Bild der zerrissenen Helene Ümmler kam im ins Gedächtnis. Sicherlich, das war nicht schön anzuschauen gewesen. Nicht umsonst hatte Moritz seinen Magen auf dem falschen Weg geleert. Dem Doktor Himmelblau hatte es nichts ausgemacht. Selbst er hatte derlei bereits gesehen. Die Sklavenjäger und wie sie mit ihrer
Ware umgingen fielen Erik ein und das Auspeitschen von Matrosen. Mitleid hatte er mit der Ümmler nicht. Doch dann kam ihm das kleine Männlein in den Sinn, das von Maja gerade aufgepäppelt wurde. Und Erik musste an dessen kleine Tochter Ida denken. Natürlich hatte er sie nie gesehen, nur den nüchternen Bericht des Doktors gelesen. Es war jedoch kaum zu leugnen, das Trudwin Ümmler auch wegen dem Tod seiner geliebten Tochter derart vergangen war. Er litt noch heute. Und was war mit Maja? Sie ließ sich nichts anmerken, zumindest schien es so, aber wen ließ der gewaltsame Tod seiner Verwandten unberührt? Es war nicht immer ein Glück, zu überleben, wenn man ein Zurückbleibender wurde. Und viele Menschen hatten gelitten, weil ihre Lieben nicht mehr waren. Statt Trost erhielten sie nichts – und das war schon viel. Die Predigt des Pfarrers Wadewitz kam Erik in den Sinn. In ihrem Schmerz mussten sie sich noch
beschimpfen lassen, obwohl die meisten nicht mehr getan hatten, als hart für ihr täglich Brot zu arbeiten. Trost konnte Erik diesen Menschen kaum verschaffen, vielleicht Genugtuung, aber auf jeden Fall Gerechtigkeit. Dazu musste er der Bestie habhaft werden. Dazu musste er alle Mittel einsetzen. Dazu musste er sich auf den Weg machen, um ihn zu befragen. Was waren dagegen die Gefühle eine einzelnen Mannes, der ums Verrecken nicht an seine eigenen Vergangenheit erinnert werden wollte.
Zum Frühstück ließ Erik sich einen eingelegten Hering bringen, weniger aus Appetit, sondern damit er etwas im Magen hatte. Kurz überlegte er, ob er die Waffen zurücklassen sollte. Aber der Weg war nicht ungefährlich und außerdem wollte er sich nicht beugen. Er legte seinen alten Rock an und zog die Kapuze über den Kopf, verließ seine Kammer, bevor er es sich
noch anders überlegte. Von Maja holte er sich einen kleinen Beutel, den er an seinen Gürtel hängte. Die schwarzhaarige Frau sagte wie immer kein Wort, reichte ihm nur die Sachen. Es war eine kleine Wegzehrung, die aus Zwieback, Nüssen und zwei Äpfeln bestand. Zuletzt reichte sie ihm eine Feldflasche. Erik bedankte sich, Maja nickte bloß und verschwand.
Auf der Stute, die ihm während seines Aufenthalt schon so gute Dienste geleistet hatte, ritt er aus dem Schloss. Auf einem der zur Stadt hin abfallenden Hängen waren Männer bei der Arbeit, bemühten sich eine Rodung zu vollenden, indem sie Baumstümpfe mitsamt der Wurzeln aus der Erde holten. Eine schweißtreibende Arbeit war das, der anstrengendste Teil, gegen den das Fällen der Bäume im Nachhinein ein großer Spaß gewesen sein musste. Der Strohkarl führte die Aufsicht, packte aber auch nicht wenig an. Als er Erik hoch zu Ross erkannte, rief er einen
Morgengruß. Darauf wandte er sich an drei Männer, die bei ihm standen. Sie drehten sich um und als sie den Reiter erkannten, lächelten sie, zogen ihre Hüte und verbeugten sich tief. Es waren Answald Horn, Filibert Stapelhölzer und der Nachtwächter. Weil sie sich gegen den Mob, der Majas Tante als Hexe hatte verbrennen wollen, aufgelehnt hatten, hielten sie es immer noch nicht für ratsam, in die die Stadt und auf ihre Höfe zurückzukehren. Erik konnte sie verstehen. Er erwiderte deren Gruß, indem er die Hand hob. Gerade als er sich fragte, ob das nicht ein wenig schäbig sei, den Namen des Nachtwächters kannte er noch nicht einmal, oder er ein wenig mehr tun sollte, wurde das Lächeln der Drei noch breiter. Wie es schien waren sie zufrieden.
Der Ritt verlief ohne Zwischenfälle. Erik war es gewohnt, durch unsichere Gegenden zu reisen und wenn man es nicht übertrieb, war man auch allein und ohne den Schutz einer
Gruppe sicher. Außerdem konnte Erik sich gut verteidigen und einen finsteren kleinen Wald umritt er. Doch während seine Augen ohne Unterlass die Umgebung absuchten, war er in Gedanken woanders. Er hatte den kleinen Beutel hervorgeholt und knabberte an den Nüssen. Viel kam dabei nicht heraus. Nichts blieb ihm lange genug im Kopf, als dass er es von allen Seiten hätte beleuchten können. Also ließ er es irgendwann bleiben, schenkte seine Wegzehrung an einen Bettler, der am Wegesrand stand, her und konzentrierte sich auf sein Ziel, das er am Nachmittag erreichte. Die Kartause war eine kleine Anlage, lag abseits der großen Straßen, ein gute Strecke vom nächsten Ort entfernt in einem Talkessel. Die Mauer, die alle Gebäude einfasste, war tadellos weiß getüncht. Nur ein kleiner Kirchturm erhob sich über sie.
Erik ritt bis zu dem Tor - der Wahlspruch der Kartäuser Stat crux dum volvitur orbis (1) war darüber in den Stein gemeißelt und auf der
rechten Seite stand auf eine kleinen Vorsprung eine Marienstatuette - und stieg vom Pferd. Die Stute schnaufte und er streichelte ihren Hals. Tief Luft holend schlug er ans Tor. Es dauerte auch gar nicht lange, bis ein handflächengroßer Schieber in Gesichtshöhe zur Seite fuhr. Es erschien ein grimmiges Gesicht mit einem fein gestutzten Bart.
"Ihr stört die Ruhe dieses Ortes", zischte er, doch Erik hatte schon seine Hand in die Öffnung gelegt.
"Mir ist die Neue Sammlung der Statuten des Kartäuserordens (2) durchaus bekannt", begann er, "und ich respektiere eure gewählte Zurückgezogenheit. Nichtsdestotrotz bitte ich um Einlass, weil ich jemanden sprechen muss, den ihr in diesen Mauern beherbergt, so viel ich weiß. Er selbst ist kein Kartäuser, weshalb ich denke, dass es keine Problem sein wird, wenn ich mit ihm spreche."
Die Züge des Gesichts wechselten von grimmig
zu misstrauisch. "Wenn meint Ihr, bitteschön? Und wer seid Ihr überhaupt?"
"Ich spreche von Oijer van der Bruk, dem Gelehrten. Mein Name ist Erik von Berensiel. Nennt ihm diesen und ich sage Euch, er wird nach mir verlangen."
"Das werden wir sehen. Wartet!" Unnötig laut wurde der Schieber geschlossen.
Die Stute schnaubte und es klang verächtlich, so als habe das Tier jedes Wort mitangehört. Erik streichelte sie erneut. Zumindest das warme Fell vermittelte ihm Zuversicht. Doch zu seiner Überraschung dauerte es gar nicht lange, bis das Tor geöffnet wurde. Das grimmige Gesicht stand im weißen Habit der Kartäuser da und winkte ihn herein. Erik betrat das Kloster.
Wie die Außenmauer waren auch hier all die niedrigen Gebäude einschließlich der kleinen Kirche, die in der Mitte der Anlage auf einem kleinen Hügel stand, weiß getüncht, wirkten geradezu unnatürlich. Selbst die feinsten Städte
im Reich waren nicht derart sauber. Und auf keinen Fall war es in irgendeinem Ort derart still. Erik sah einige Chormönche und Konversen (3) stumm ihren Beschäftigungen nachgehen. Ein Novize kam herbeigeeilt, um wollte die Zügel der Stute nehmen. Erik reichte sie ihm. Dabei lüftete er ein wenig seinen Rock und eine der beiden doppelläufigen Pistolen wurde sichtbar. Der Grimmige stöhnte auf: "Herr! Waffen? Ihr bringt Waffen zu uns? Mein Herr, so geht das nicht!"
Erik nickte ihm zu, was den Grimmigen bloß nur noch grimmiger werden ließ. "Wir leben in unruhigen Zeiten, zumindest wenn man alleine reist. Eine Waffe ist da nicht die schlechteste Anschaffung. Aber ich verstehe euer Ansinnen."
Mit einem Lächeln zog er die beiden Pistolen, nahm das Entermesser vom Gürtel und drückte dem Grimmigen beides in die Arme. Erik lächelte und wollte noch etwas sagen, öffnete den Mund und blieb dann doch still. Sein Blick
wanderte zu dem gepflasterten Weg, der von der kleinen Kirche zum Tor herabführte. Ein Mann, gestützt auf einen kartäusischen Novizen, kam ihn langsam herunter, obwohl er sich bemühte, so schnell als möglich zu gehen. Der Mann war klein und schon von Weitem waren die Spuren sichtbar, die das Alter in sein Gesicht geschnitten hatte. Die Falten wetteiferten um jedes bisschen Platz auf seinen hohlen Wangen. Er ging gebückt, aber selbst aufrecht hätte er Erik kaum bis zum Kinn gereicht. Die Hände waren dünn und er hatte Schuhe an den Füßen, die man sonst eher an einem Kind sah. Er trug den schwarzen Habit der Benediktiner.
"Erik!, Mein allerliebster Erik!", rief er mit erstaunlich lauter Stimme. "Oh, mein Erik!"
Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, schob er den Novizen beiseite, wollte das letzte Stück alleine gehen. Erik trat ihm entgegen. Der Grimmige, zwei Novizen und andere Kartäuser betrachteten das Geschehen, neugierig geworden.
"Du hast Dich verändert", sagte der Benediktiner, "aber ich würde Dich immer erkennen, auch wenn Teufel Dir eine Maske aufsetzen würde." Ein Lächeln verzierte die alten Lippen.
"Es freut mich, Euch wiederzusehen, Meister Oijer."
Es schien so, als umarmten die beiden sich, doch in Wahrheit fiel Eriks alter Hauslehrer auf diesen zu und er fing ihn auf. Lange standen sie so zusammen.
In der Nähe der Kirche gab es einen kleinen Kräutergarten, selbstverständlich sauber gepflegt. Dorthin hatte Oijer van der Bruk Erik geführt. Ein Novize brachte zwei Krüge mit Bier und kichernd tranken die beiden. Die Sonne beschien ihre Gesichter und wärmte sie. Die Nacht war noch fern.
"Ich hätte nicht gedacht, Dich in dieser Welt noch einmal anzutreffen", begann Oijer van der
Bruk das Gespräch. "Es ist schon einige Jahre her."
"Ich reise viel umher, das wisst Ihr, Meister," antwortete Erik. "Da kommt es schon einmal vor, dass ich jemanden nicht die Aufmerksamkeit schenke, die er verdient."
"Ja, ich kenne diene Reisen. Die Welt, welche eine Kugel ist, ist überall gleich hat für einige Unruhe unter denen gesorgt, die sich die Geistlichkeit nennen. Diese Dummbatzen haben immer noch nicht verstanden." Oijer lächelte. "Aber ich habe dein Buch mit großer Freude gelesen. Es ist fein beobachtet und klug zugleich. Und wie mir scheint, ist dein Arabisch auch sehr viel besser geworden."
"Ich verstehe es sehr viel besser, als das ich es spreche."
"Keine Sünde für einen Gelehrten."
"Ich bin kein Gelehrter!"
"Was denn sonst, mein lieber Erik? Du kennst Dich mit Vielem aus, schreibst lesenswerte
Bücher und soweit ich weiß, versieht Dich sogar der König mit Aufträgen, weil er das schätzt, was zwischen deinen Ohren passiert."
"So kann man es sehen." Erik schwieg eine Weile. Er verehrte seinen alten Lehrer, mochte ihn sogar, doch in seiner Gegenwart fühlte er sich immer wie ein kleiner unartiger Junge, auch ohne das er …
"Ich war überrascht, als ich hörte, dass Ihr hier lebt", wechselte er das Thema.
"Eigentlich sollte niemand wissen, wo es mich zu finden gibt", erwiderte Oijer, "aber deiner neugierigen Nase entgeht nicht viel."
"Keine Gnade?"
"Nein. Zu viele nehmen es mir in meiner niederländischen Heimat noch übel, dass ich dem Protestantismus den Rücken gekehrt habe."
"Das hätte man Euch vielleicht noch verziehen, aber Ihr seid ein berühmter katholischer Gelehrter geworden. Damit habt Ihr eure Häresie auch noch jedem auf die Nase
gebunden." Erik grinste und bereute es sofort.
"Dabei wollte ich nur in der Heimat sterben", seufzte Oijer. "Schau mich nicht so an. Meinst du, ich wüsste nicht, was für ein Abbild eines lebenden Toten ich bin? In meinem Alter ist es an der Zeit, zu gehen. Wäre ich ein einfacher Familienvater, meine Lieben würden sich um mein Bett versammeln, ich würde jedem noch viel Glück auf seinem Lebensweg wünschen und könnte dann sterben."
"Vielleicht würde die Lieben auch nachhelfen", warf Erik ein, denn er dachte an Trudwin Ümmler.
"Was?" Oijer verstand nicht.
"Nichts."
"Hm", grummelte der alte Mann, dann fuhr er fort: "Und die Wahrheit ist, dass mein eigener Orden Angst hat. Darum haben sie ihre Beziehungen spielen lassen und mich hier versteckt, auf das mein alter Körper nachgibt und sich das Problem von allein erledigt."
Da lachte Erik bitter auf. "Ha! Euch, Meister, bei den Kartäusern, einem Orden, der glaubt, dem Herrn durch Schweigen näherzukommen, unterzubringen … Euch, einen Gelehrten und Mann des Wortes … man könnte meinen, der Teufel habe seine Hand im Spiel gehabt."
Oijer saß ganz still da. Sonnenstrahlen trafen sein Gesicht. Eine Träne lief über sein Wangen. Erik ergriff seine Hand und drückte sie fest. Der andere erwiderte die Geste kaum, weniger, weil er es nicht wollte, denn weil er nicht konnte. Er war wirklich alt und dem Tode nahe. Bald würde Oijer van der Bruk nur noch durch seine Bücher zu den Menschen sprechen und er wusste das. Das war der Lauf der Dinge und Erik wusste, dass er das nicht verhindern konnte, aber dennoch fühlte er sich schuldig. Schließlich hatte er so lange einen großen Bogen um seinen alten Hauslehrer gemacht und das nur weil der immer wieder versucht hatte, Frieden …
"Aber Schluss mit den traurigen Dingen", unterbrach Oijer Eriks Gedanken. "Warum soll ich meine letzten Tage in Trübsal ertränken?" Er drehte den Kopf und schaute Erik an. „Ich freue mich, dass Du zu mir gefunden hast, dass er mir noch einmal vergönnt ist, meinen klügsten Schüler zu sehen und zu sprechen."
Verlegen senkte Erik den Kopf.
"Doch, doch. Den Klügsten und Mutigsten, das ist mein ernst. Aber ich bin schon lange genug auf dieser Welt, um zu wissen, dass Dich nicht die Sehnsucht nach den alten Tagen zu mir getrieben hat. Zumal Du nicht gerne an die alten Tage zurückdenken willst, was ein Jammer ist. Es gibt einen Grund, warum Du gekommen bist und den will ich nun wissen."
Erik grinste verlegen. Jedoch war er froh, dass der Geist seines alten Hauslehrers noch so klar wie immer war. Dennoch zögerte er eine Weile, bevor er sprach. "Ihr hab von der Bestie gehört, die im nahen Werrentheim umgeht?"
"Oh ja, eine fürchterliche Sache. Welches von Gottes Geschöpfen mag derart von Hass getrieben sein." Ohne es zu bemerken hatte Oijer Eriks Vermutung laut ausgesprochen, ohne mehr als nur den üblichen Klatsch, der auch vor Klostermauern nicht Halt machte, zu kennen. "Wie bösartig muss jenes Vieh sein. Doch zum Glück hat eine Jagd dem Treiben ein Ende bereitet. Man erzählt sich, dass die hiesigen Dragoner ..." Weiter kam der alte Mann nicht. Er blickte Erik an und meinte dann: "Es stimmt nicht."
"Nein", bestätigte der. "Die Jagd hat nichts geändert. Das Morden hält an."
"Und Dir hat man den Auftrag erteilt, der Bestie habhaft zu werden. Ein kluger Plan, einen klugen Mann zu schicken. Wohl kaum die Idee des Herzogs von Klaesfeld."
"Nein, höher."
"Ich dacht’ es mir. In was für glücklichen Zeiten leben wir, dass wir derart weise und
aufgeschlossen regiert werden."
"Ja. Aber das Problem ist, dass ich das Morden bisher nicht aufhalten konnte. Ich weiß auch nicht viel."
"Oder zu viel?" Oijer lächelte fein.
"Ja, womöglich auf das. Auf jeden Fall bin ich auf etwas gestoßen, von dem ich glaube, dass es eine Rolle spielen könnte. Ich verstehe es auch in Grundzügen, denke ich, aber ich kannte es vorher nicht. Es ist ein Schriftstück und so etwas ist eure Stärke."
"Lass hören." Ein ungetrübtes Funkeln lag in den Augen des alten Hauslehrers derer von Berensiel.
"Ich fand ein Buch. Ich weiß nicht, ob es zu der Sache gehört und vielleicht spielt es auch keine Rolle. Aber was dort geschrieben steht, passt zu dem Passierten. Und ich glaube nicht an Zufälle, auch wenn sein Besitzer, ein in der Sache unschuldiger Mann, mir schon sehr behilflich war."
"Du konntest Dich schon immer auf dein Gefühl verlassen. Handelt es sich um ein Buch?"
Erik nickte. "Es nennt sich die Wolfsbibel."
Oijer van der Bruk schloss die Augen und seine Hände blätterten durch ein unsichtbares Buch. An einer Stelle hielt er inne, öffnete die Augen wieder und erzählte, woran er sich erinnerte.
"Der Autor nennt sich selbst Frater Lupus. Es muss kurz nach dem Kriege entstanden sein, der damals alle deutschen Lande verwüstete (4). Es ist ein zwiegespaltenes Werk. Es erzählt von der Kraft der Wölfe, dass sie die Welt irgendwann unter sich aufteilen und alle Menschen verdrängen werden. Dazu teilt es die Zeitrechnung in unterschiedliche Phasen ein, Phasen, in denen das Alte zugrunde und das Neue auferstehen wird. Betrachtet man den Text nur von dieser Seite, ist es ein Buch des Neuanfang. Es ruft die Menschen dazu auf, sich auf die neue Zeit vorzubereiten. Viele erinnert
an eine - allerdings recht simple - Sicht des Jüngsten Gerichts. Doch das ist nicht alles. Der Verfasser beschwört auch den Untergang herbei. Er redet von Blut, Zerstörung, Dummheit, Hass und Leiden. Wahrscheinlich hat er die Endphase des langen Krieges selbst miterlebte. Er hat eine Ausbildung von geistlichen Lehrern gehabt. Doch wegen der Unbill des Krieges, hat diese gelitten. Vieles kennt er nur an der Oberfläche. Wie sein Werk ist er zwiegespalten. Er sehnt sich nach dem Frieden und kennt doch nichts als den Krieg. Seine Gedanken kreisen nur um Tod und Zerstörung. Er kann nicht anders."
Mit staunenden Augen schaute Erik seinen alten Hauslehrer an. Seine Stimme war ebenso klar gewesen, wie seine Antwort. "Das ist erstaunlich!", rief er aus.
Oijer lächelte. "Nein, ist es nicht. Ich habe mich vor vielen Jahren mit diesem Buch beschäftigt. Es ist ein Endzeittraktat, wie es so viele damals gab. Es sagt mehr über das Gemüt
seines Verfassers, als das man seinen Inhalt ernst nehmen müsste."
"Ich weiß nicht."
"Du glaubst, deine Bestie bezieht seine Kraft aus diesen Worten?"
"Ich weiß es nicht, Meister. Es ist eine Spur, der ich folge. Vielleicht führt sie in Leere. Ich weiß es einfach nicht."
Da wurde Oijer ernst. "Wenn dem so ist, dann sei gewarnt. Wenn deine Bestie an das glaubt, was in diesem Buch steht, dann ist sie auch eine zwiegespaltene Person, wie das Buch, wie sein Verfasser. Nach Außen kann sie normal wirken, sogar fröhlich und lebendig, einem Freund nicht unähnlich. Doch tief im Innern zerfrisst sie der Hass, das Gefühl, von den anderen nie das bekommen zu haben, was ihr zusteht. Diese Person kann grausam sein. Und dennoch ist sie nicht wahnsinnig. Alles, was sie tut, ist gut geplant, ja, sie denkt sogar weit voraus. Was diese Person denkt ist krank,
vergiftet und letztlich muss sie sich selbst zerstören. Doch zuvor wird sie viel Unschuldige vor sich sterben lassen, denn ihr Hass dürstet nach Vergeltung, die nur durch Blut gestillt werden kann. Zumindest denk sie das. Dabei kann niemals so viel Blut vergossen werden, dass sie den Seelenfrieden findet, den sie sucht. Wenn sie der Wolfsbibel folgt, hast Du es mit einem schlauen, heimtückischen und gefährlichem Gegner zu tun. Sieh dich vor!"
All das entsprach dem, was Erik sich dachte. Er hatte die Bestie nicht unterschätzt, aber dennoch ließen Oijer van der Bruks Worte seine Feind so real erstehen. Er erhob sich vor Erik wie ein dunkler Schatten und war doch gesichts- und gestaltlos.
Die beiden Männer schwiegen wieder eine Weile. Ein letzter Amselhahn landete in dem Kräutergarten um sich für die Nacht zu stärken. Kurz spähte er zu den Sitzenden, hüpfte ein wenig davon und machte sich dann auf die
Suche. Die Szenerie vermittelte etwas vom Frieden der Natur, als Oijer es sagte.
"Hast Du ihm vergeben?"
"Vergeben? Was meint Ihr?" Erik tat so, als wisse er nicht, wovon sein alter Hauslehrer sprach. Ein lächerlicher Versuch.
"Ich frage Dich, ob Du deinem Bruder vergeben hast."
"Pfft!"
Diese Mal ergriff Oijer Eriks Hand und sein Griff war fest. "All das ist so viele Jahre her, ich weiß, aber ...", begann er, kam jedoch nicht weiter.
"Ja, es ist lange her. Und dennoch erinnere ich mich an jede seiner Taten. Ich höre seine spöttische Stimme", ereiferte sich Erik. "Nicht ein Tag, an dem ich nicht unter seinem Tun gelitten haben. Doch - und ich sagen nicht unbedacht: Gott sei Dank! - ist er schon lange tot. Mein Leben war und ist ein besseres ohne ihn. Warum sollte ich ihm vergeben? Er hat
niemals um Verzeihung gebeten. Verzeiht man so einem, jemandem, der nichts anderes im Sinn hatte, einem das Leben schwer zu machen? Warum sollte ich? Außerdem: Er ist tot! Was nützt es ihm, wenn ich verzeihe? Ich weiß, dass der Herr Vergebung von uns fordert. Aber ich glaube kaum, dass der Herr schon mal zwei Tage in einem Schrank eingesperrt war, ohne Essen, ohne Wasser und vor allem ohne das er vermisst wurde. Ich sage Euch wie es ist: Ich habe keine Lust Sindolf irgendetwas zu vergeben. Er war kein guter Mensch und Ihr müsstet das am besten wissen."
Oijer nickte. "Alles was du über deinen Bruder sagst, ist wahr. Da war etwas Dunkles auf seiner Seele, ich kann es nicht leugnen und mache mir heute noch Vorwürfe, dass ich ihn nicht erreicht habe. Und Dich nicht genügend schützen konnte. Doch seine Seele ist beim Herrn. Es liegt nicht an uns, über ihn zu richten. Höhere Kräfte sind dazu berufen. Ich
wünsche mir, dass Du ihm vergibst, weil ich mich um deine Seele sorge. Es geht mir um den Frieden, den Du mit Dir selbst findest, Erik."
"Den besten Frieden finde ich, wenn ich meinem Bruder die Verachtung zukommen lasse, die er verdient, ganz gleich ob tot oder lebendig!"
Besorgt schaute der alte Hauslehrer auf seinen klügsten und mutigsten Schüler. - Fortsetzung folgt -
Anmerkungen:
(1) Stat crux dum volvitur orbis: lat. "Das Kreuz steht fest, während die Welt sich weiterdreht"
(2) Nova collectia statutorum ordinis cartusiensis: lat. "Neue Sammlung der Statuten des Kartäuserordens", Statuten der Kartäuser aus dem Jahre 1581
(3) Chormönche und Konversen: Der Kartäuserorden untescheidet seine Mitglieder in: Priestermönche (lat. patres), auch Chormönche genannt, Brudermönche (lat. fratres conversi) auch Konversen genannt und Donaten
(4) "Es muss kurz nach dem Kriege entstanden sein, der damals alle deutschen Lande
verwüstete": Gemeint ist hier der Dreißigjährige Krieg (1618-1648).
Herbsttag Spannend wie immer. Meister Oijer hat Erik in seinen Vermutungen bestärkt. Bin auf die nächsten Schritte neugierig. Übrigens: S. 6, 6.letzte Zeile, schreibst Du ein Zurückgebliebener. Da dies eine doppeldeutige Formulierung ist, wäre mein Vorschlag: Zurückbleibender LG IvB |
ArnVonReinhard Ja, Oijer kennt sich aus. Müsste ich raten, würde ich sagen, er hat sich nicht nur unter den Protestanten Feinde gemacht. ;-) LG AvR P.S.: Den Korrekturvorschlag schaue ich mir morgen (nach meiner Schlafphase) an, weil ich ... na ja ... |
ArnVonReinhard Dann frag Erik, der kennt sich mit so etwas aus. ;-) Habe deinen Vorschlag angenommen und umgesetzt, weil das in der heutigen Zeit tatsächlich einen Unterton hat, der überhaupt nicht gemeint ist. |