Ein Traum mit Folgen?
Es gibt Gedanken oder Träume, die verschwinden aus dem Kopf, kaum, dass sie gedacht oder geträumt wurden. Andere wiederum bleiben für immer …
Noch ganz genau fühle ich diesen Morgen. Einige Sekunden räkelte ich mich verschlafen im Bett, bis ich realisierte, dass das störende Geräusch, welches mich geweckt hatte, die Türklingel war. Auf der Stelle fühlte ich mich belästigt und genervt, denn an meinem ersten Ferientag wollte ich richtig lange schlafen. Alle Störfaktoren waren außer Haus, denn nur ich Nesthäkchen genoss mit fünfzehn Jahren Ferien.
Mom, Dad und mein großer Bruder waren arbeiten, der kleine, der zwar klein, aber mit siebzehn Jahren doch älter war als ich, hatte in der Lehrstelle keinen Ferien und war auch unterwegs.
Wach war ich nun und obwohl ich das Läuten ignorieren wollte, trieb mich die Neugier zur Tür.
Mit ungebändigten Haaren und bekleidet nur mit Schlafanzug, schlurfte ich durch den langen Flur. Wer mich zu nachtschlafender Zeit weckte, musste meinen Anblick ertragen, dachte ich und gab mir keine Mühe, mein Aussehen zu stabilisieren.
Mürrisch öffnete ich die schwere Wohnungstür unserer Altbauwohnung und schaute zwei Polizeibeamten entgegen.
Unverzüglich veränderte sich meine Stimmung von missvergnügt in verunsichert. Sorgen machte ich mir jedoch in diesem Moment noch nicht. Ich war allein daheim und ging irgendwie automatisch davon aus, dass der Besuch der Beamten nur mir gelten könne. Da ich kein schlechtes Gewissen hatte und ein ausgesprochen braves Familienmitglied war, konnte es sich also nur um einen Irrtum handeln.
„Wohnst du hier?“, war die kluge Eröffnungsfrage des Verhörs. Ich wagte mit den Augen zu rollen und antwortet ziemlich kiebig mit einer Gegenfrage. „Wonach sieht es denn aus?“ Noch ging es mir gut.
Die Antwort überhörend, folgte die nächste Frage nach meinen Eltern und langsam
beschlich mich doch ein unruhiges Gefühl. Schnell ging ich im Gedanken einige Möglichkeiten durch, die den Besuch der Polizei rechtfertigen würde, konnte mich aber mit keiner so recht anfreunden.
Die Fragerei nach Fakten ging eine ganze Weile weiter, bis ich langsam meine Geduld verlor und inzwischen richtig verängstigt fragte, warum sie denn nun gekommen wären.
Den Satz: „Dein Bruder hatte vor einer Stunde einen Motorradunfall“, kann ich noch heute hören, wenn ich die Augen schließe. Damals hallte er mit einem andauernden Echo im Treppenhaus nach, in dem wir immer noch standen. Was denkt man in diesem Moment! Alles und Nichts!
Die Frage: „Wie schlimm?“, traute ich mich
nicht zu fragen.
Mir wurde übel, zumal die Männer mir keine weiteren Auskünfte geben konnten, durften, oder wegen meiner Gesichtsfarbe wollten. Zumindest erfuhr ich, dass er im Krankenhaus liegt und ich solle schleunigst meine Eltern informieren.
Im Krankenhaus! Wenigstens das beruhigte mich ein kleines bisschen.
Als ich wieder allein war, fiel mir ein, dass ich nicht gefragt hatte, welcher meiner Brüder verunglückt war, aber ich wusste es sowieso ganz genau. Beide fuhren Motorrad, der Große schon seit Jahren und der Kleine erst seit einigen Monaten. Nach einem zähen Kampf mit unseren Eltern hatte er zu seinem 17. Geburtstag die Erlaubnis bekommen, sich
eine Maschine zu kaufen. Mom und Dad waren natürlich dagegen, aber der Große hatte ordentlich unterstützt. Die Gespräche zu diesem Thema waren so unerquicklich, dass ich meinen Wunsch nach einem kleinen Moped bis dahin nie mehr laut geäußert hatte.
Völlig verwirrt und verängstigt sehe ich mich noch heute am Küchentisch sitzen, sogar das Muster der Plastikdecke habe ich vor Augen. Ein Unfall passte nicht in unsere heile Familien-Welt und doch musste ich mich der Tatsache stellen. Die Verantwortung hatten mir die Beamten aufgebürdet.
Heute wäre alles einfach. Ein Griff zum Telefon oder Handy und ich wäre die Information los. Damals hatten wir kein Telefon und weil es deswegen uninteressant
war, kannte ich auch die Telefonnummern der Arbeitsstellen unserer Eltern nicht. Was ich wie und in welcher Reihenfolge unternommen habe, weiß ich nicht mehr ganz genau. Irgendwann stand ich im Blumenladen, der sich unten in unserem Haus befand und bat darum, telefonieren zu dürfen. Für zwanzig Pfennig wurde uns das schon einige Male vorher gestattet. Die Nummern fand ich in einem alten zerfledderten Telefonbuch und nachdem ich wenigstens meine Mom erreicht hatte, war ich diese Belastung erst einmal los. Die Sorge um den Bruder blieb jedoch in meinen Adern, wo sie für Kälte sorgte.
Der Tag zog sich in die Länge. Wir besaßen kein Auto, meine Eltern mussten zuerst mit dem Zug von der Arbeitsstelle nach Hause
fahren. Nachdem sie mich abgeholt hatten, warteten wir ewig lange auf den Bus, der einmal am Tag am Krankenhaus vorbei fuhr. Die Angst meiner Eltern war deutlich in ihren Gesichtern zu erkennen und meine fühlte ich sowieso seit dem Läuten der Beamten am Morgen. Noch immer hatten wir keinerlei Informationen zum Zustand meines Bruders.
Endlich im Krankenhaus angekommen, konnten wir uns vergewissern, dass der Unfall nicht all zu dramatisch verlaufen war. Mein kleiner - natürlich der kleine - Bruder hatte an einer Brückenauffahrt die Kontrolle verloren und war gegen das Brückengeländer geprallt.
Er selbst hatte den rechten Arm und das rechte Bein gebrochen, eine riesige Platzwunde am Kopf und diverse weitere
Lädierungen. Seine geliebte Maschine war in einen Totalschaden verwandelt. Im Nachhinein sprach die Polizei von großem Glück, da er durch den Aufprall wohl fast über das Brückengeländer geschleudert worden wäre. Unten fuhr in der Minute ein Güterzug vorbei, wie ein Zeuge berichtet hatte.
Alles in allem war der Unfall ziemlich glimpflich ausgegangen, wenn man bedenkt, was hätte passieren können. Nach acht Wochen war mein Bruder wieder komplett und ohne Folgeschäden geheilt.
Wer sich nun langsam fragt, was diese Geschichte mit Geistern, Mächten und Spleenen zu tun hat …
Zwei Nächte zuvor hatte ich ziemlich exakt
diesen Unfall meines Bruders geträumt. Nur wenige Fakten wichen etwas ab. Aus Angst davor, ausgelacht zu werden, habe ich damals niemanden davon erzählt.
Im Nachhinein, als ich darüber sprechen wollte, erntete ich nur ein „Ja, ja …! Jeder verarbeitet so etwas auf seine Weise.“ Schnell habe ich das Thema gelassen. Mich selbst hat es jedoch sehr lange Zeit nicht in Ruhe gelassen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich viele Wochen lang Angst vor meinen eigenen Träumen hatte.
Zum Glück ist mir das nie wieder passiert, oder ich konnte mich nicht an diese Träume erinnern.
Ein bisschen Hexe war ich also wohl schon damals ...
(© Memory Nov.2016)