Vier PFoten im Rollatorkörbchen
Kennst du Oma Friederike?
Sicher bist auch du ihr schon einmal begegnet. Das ist die alte Frau, die du jeden Wochentag um dieselbe Zeit, auf einen Rollator gestützt, die Hauptstraße entlang gehen siehst. Von Montag bis Freitag, Tag für Tag - es ist immer der gleiche Weg, den sie zurücklegt. An der Post vorbei bis zur Einkaufspassage am Philosophenplatz, dort biegt sie ab in die Schillergasse und dann sind es nur noch ein paar Meter bis zur rot gestrichenen Holzbank am Brunnen gegenüber dem Schulzentrum, auf die sie sich mit einem entkräfteten Seufzer und einem laut
hörbaren "Geschafft!" niederlässt. Den Rollator stellt sie vor sich in Griffnähe ab, fängt zu zählen an "Eins, zwei...." und bei "drei" schwingt sie dann mit größtmöglicher Kraftanstrengung beide Beine auf die Sitzfläche ihres Gehwägelchens.
Ja, das ist Oma Friederikes Art, mit dem Wasser in ihren Beinen umzugehen und für mich ist es das Zeichen, mich aus meiner kuscheligen Fleecedecke im Rollatorkörbchen herauszuschälen und mit meinen Pfötchen ganz, ganz vorsichtig über Oma Friederikes gute Straßenschuhe, an ihren hochgelegten Beinen mit den empfindlichen
Stützstrümpfen entlang hochzusteigen, um es mir dann in ihrem Schoß bequem zu machen. Ihre mich streichelnden Hände sind anfangs noch zitterig, aber je
länger wir hier so gemütlich sitzen und je näher der kleine Zeiger der Uhr des zwischen den Häuserreihen hervor lugenden Turmes der Friedenskirche auf
die Eins zusteuert, desto mehr spüre ich, wie Oma Friederike von Glückshormonen geflutet wird.
"Dauert nicht mehr lang, mein Maunzili", flüstert sie mir in mein Katzenohr.
Gerade so, als ob ICH schon ungeduldig wäre. Aber ich weiß ja, sie sagt es mehr zu sich selbst, als zu mir. Alles, was sie
zu sich selbst sagt (und sie hat ja sonst niemanden), sagt sie gleichzeitig auch zu mir und bei mir ist es - großes Katzenehrenwort - auch gut aufgehoben. Deshalb kann ich dir auch nicht die ganze Geschichte erzählen, nur so viel: Es sind Familienangelegenheiten, die Oma Friederike jeden Tag auf die Straße und vor die Schule treiben. Als sich ihr Sohn im vergangenen Jahr hat scheiden lassen, wurde sie ohne ihr Zutun von ihrem Enkel gleich mit geschieden.
Zwar gibt es da so ein Schreiben in der Vitrinenschublade, einen Beschluss des Familiengerichts, dass ihr als eine der wichtigsten Bezugspersonen für den kleinen Malte, ein Umgangsrecht
zustünde. Aber Oma Friederike hat aufgehört, darauf zu bestehen, als sie gemerkt hat, dass der Kleine dadurch in einen Zwiespalt geraten ist.
"Kinderseelen sind so verletzlich", sagt sie, als ob sie meine Katzengedanken hören könnte und streichelt dabei hingebungsvoll mein Fell, den Vorplatz der Grundschule nicht aus den Augen lassend. Dann erschallt der laute Ton der Schulglocke und an die hundert Kinder stürmen die Treppen herunter und laufen die wenigen Meter zu den wartenden Bussen. Oma Friederike stellt ihr Streicheln ein. Sie tut so, als wenn sie in der mitgebrachten Zeitschrift lesen
würde, doch die tägliche Routine im Entdecken von Malte macht sich bezahlt.
"Hast du das gesehen, er hat heute die grüngestreifte Mütze auf, die ich ihm zu Weihnachten geschickt habe, Maunzili", sagt sie und sieht dem wegfahrenden Schulbus wehmütig hinterher.
Ich finde, nicht nur Kinderseelen sind verletzlich. Omaseelen auch! Vielleicht hilft es ja ein bisschen, wenn ich ihre Finger, die mich jetzt wieder liebevoll streicheln, mit meiner rauen Zunge ablecke. Sicher spürt sie dann, dass ich das alles sehr wohl verstehe...
Und eventuell machen wir ja dann beim Nachhauseweg noch einen Abstecher zum Leckerli-Regal in den Supermarkt...