22 Die Wolfsbibel
Erik bestand darauf, dass sie das Spiel zu einem Ende brachten und natürlich freute der Doktor sich über seinen Sieg, auch wenn er gegen einen nicht gleichwertigen Gegner errungen wurde. Immerhin hatten beide Männer so einen angenehmen Vormittag verbracht. Den Wetteinsatz, vier Geldstücke, reichte der Doktor, mit Erik im Einvernehmen, an die beiden Bediensteten des Grafen weiter. Die waren so überrascht und erfreut, dass ihre Köpfe beim Verbeugen fast den Boden berührten.
Es bot sich an, dass Erik das Mittagessen im Haus des Doktors einnahm und der bestand auch darauf. Das üppige Mädchen mit den rosigen Wangen empfing ihn dieses Mal mit
einem Lächeln. Ganz offensichtlich hatte der Doktor ihr erzählt, dass der glatzköpfige Mann mit der Hakennase seinem Aussehen zum Trotz zu den Guten gehörte.
Das Mädchen führte Friedrich Himmelblau nicht nur den Haushalt, sie war auch seine Köchin. Und was für eine! Sie zauberte aus Kartoffeln mit Käse, Milch, süßer Sahne und einigen Gewürzen eine Leckerei, die Erik so noch nie gegessen hatte. Während des Essen saß sie bei ihnen am Tisch. Der Doktor hatte Erik ein wenig fragend angesehen, doch der legte auf gesellschaftliche Trennungslinien überhaupt keinen Wert. Stattdessen nahm er sich vor, die von ihm unterschätzte Knolle, die er mit wachsender Begeisterung verspeist, bei Gelegenheit einmal näher unter die Lupe zu nehmen.
Im Lesezimmer war Erik mit dem Doktor dann allein. Nur um ganz sicher zu gehen, zog der die Vorhänge vor die Fenster und entzündete drei
Kerzen aus Bienenwachs. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich angenehm im ganzen Raum. Himmelblau ging zu dem Regal, vor dem Erik auch schon gestanden hatte, zog das Buch heraus und reichte es ihm. Zunächst betrachtete der es von außen. Der lederne Einband war abgenutzt, so als ob es schon durch viele Hände gegangen wäre.
"Woher haben Sie dieses Werk?", wollte Erik wissen, zur Formlosigkeit zurückkehrend.
Der Doktor schüttelte kaum merklich den Kopf. "Es ist merkwürdig", sagte er. "Ich habe schon die ganze Zeit überlegt, aber es fällt mir nicht mehr ein. Ich habe es wohl von einer Reise mitgebracht, weil es mir jemand empfohlen hatte. Aber wer das gewesen ist, kann ich nicht mehr sagen. Vielleicht war es ja auch ganz anders. Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern."
Erik war sich nicht ganz sicher, ob er das glauben konnte, aber er nickte, setzte sich in
den Sessel, der ihm am bequemsten schien, schlug das Buch auf und las:
"Veröffentlicht zu Breslau 1652 im Zeitalter des grauen Wolfes von Frater Lupus
Erste Übersetzung ins Deutsche von Herrmann Küffer, 1702 in London, welche verlorengegangen ist.
Folgender Text stammt aus "Die Welt unter der Oberfläche, veröffentlicht zu Köln 1726 von Thomas Herrmann Jüttner"
Erik musste lachen.
"Frater Lupus? Kein sehr einfallsreicher Name, wenn Sie mich fragen. Ich hätte da schon etwas mehr erwartet. Und was ist das Zeitalter des grauen Wolfes?"
"Lesen Sie nur weiter", forderte der Doktor ihn auf. Das tat
Erik.
"Der Wolf ist ein großer Jäger. Er war es und er wird es immer bleiben. Während der Mensch sich in immerwährenden Kämpfen selbst verstümmelt und zur Strecke bringt, schreiten die Wölfe weiter voran. Noch mögen wir sie eindämmen, wenn auch nicht beherrschen können. Doch der Tag ist nah, an dem der Wolf den Königen das Zepter entreißt und die Regentschaft seiner Rasse beginnt, einer starken und gesunden Rasse. Es stellt sich nicht die Frage ob es geschieht, sondern lediglich, wann es soweit sein wird.
Der große Krieg hat nichts anderes offenbart, als die Schwäche des Menschen. Kleinliche Händel, Gefallsucht und religiöser Eifer stürzten alles ins Chaos und brachte nichts als Not und Elend. Mögen die Herrscher dieser Welt den Friedensschluss als Sieg ihrer
diplomatischen Kunst feiern, so ist er doch nichts anderes, als das Zeugnis eines Versagens, der Endpunkt einer Geschichte, die dreißig Jahre lang mit dem Blut der Soldaten und einfachen Leute geschrieben wurde. Noch herrschen die Könige und Minister und befehlen unser Schicksal, doch schon bald werden sie stürzen. Denn sie sind schwach und blöde und werden der Stärke und Schlauheit der Wölfe weichen müssen.
(...)
Ein Mensch nach dem andern starb und so werden wir immer weniger. Der Wolf hingegen vermehrte sich und heute ist seine Zahl so groß wie nie zuvor. Ganze Landstriche haben wir ihm überlassen oder trauen uns nur noch mit Piken und Musketen dorthin. Mögen wir ihn auch verschlagen und bösartig nennen, so fürchten wir ihn doch. Zu Recht, denn er ist uns überlegen und sein Sieg wird der des Stärkeren sein. Von den Menschen wird nichts
anderes übrig bleiben, als verfallene Gemäuer, welche von Tieren bevölkert und von Pflanzen überrankt werden. Und der Herrscher im Tierreich wird der Wolf sein, denn kein Geschöpf ist ihm gleich. Er wird über das Land gebieten und nur die Vögel im Himmel werden sich seiner entziehen können. Dies müssen wir erkennen und unsere Vorstellungskraft bemühen. Dann werden wir erkennen, was mit uns geschieht. Wir sind eine todgeweihte Rasse und es bedarf immenser Anstrengungen, um das Leben zu erhalten. Aber es wird Nichts so sein wie zuvor.
(...)
Das Leben der Wölfe ist sehr viel länger als wir denken. Sie folgen ihrem eigenen Zyklus. So befinden wir uns heute - anno domini 1652 wie die christlichen Sektierer es nennt – im Zyklus des grauen Wolfes. Dies ist die Zeit des Niedergangs, denn der graue Wolf ist mächtig, dabei böse und duldet niemanden neben sich. In
vier Zyklen erneuert sich die Welt. Es sind die des schwarzen Wolfes, des graue Wolfes, des weißen Wolfes und des silbernen Wolfes. Der Zyklus des schwarzen Wolfes – er ist gefräßig und angriffslustig – ist das des Krieges. Der des grauen Wolfes, der mächtig und böse ist und niemanden neben sich duldet, ist der Zyklus des Niedergangs. Darauf folgt der Zyklus des weißen Wolfes. Er ist ein geschickter Jäger und ein so starker Führer, dass er sogar den grauen Wolf bezwingt. Den Höhepunkt bildet der Zyklus des silbernen Wolfes. Er ist fürsorglich und unter ihm gedeiht das Rudel, ist stark und muss niemanden fürchten. Diese vier Zyklen vollenden ein Zeitalter. Jedoch vergehen nicht in jedem Zeitalter die gleiche Anzahl von Jahren. Um auch den Unwissenden verständlich zu sein, hier eine Aufzählung:
Ab 1650 Zyklus des grauen Wolfes
1600 - 1650 Zyklus des schwarzen Wolfes
1550 - 1600 Zyklus des silbernen Wolfes
1500 - 1550 Zyklus des weißen Wolfes
1450 - 1500 Zyklus des grauen Wolfes
1300 - 1450 Zyklus des schwarzen Wolfes
1250 - 1300 Zyklus des silbernen Wolfes
1150 - 1250 Zyklus des weißen Wolfes
1000 - 1150 Zyklus des grauen Wolfes
900 - 1000 Zyklus des schwarzen Wolfes
800 - 900 Zyklus des silbernen Wolfes
750 - 800 Zyklus des weißen Wolfes
600 - 750 Zyklus des grauen Wolfes
300 - 600 Zyklus des schwarzen Wolfes
100 - 300 Zyklus des silbernen Wolfes
50 - 100 Zyklus des weißen Wolfes
-100 - 50 Zyklus des grauen Wolfes
Eine weiter Aufzählung wird nicht vorgenommen, da die Zeit, in der das Griechentum noch seine Macht ausübte, eine dunkle war, denn sie stellte den menschlichen Geist und den Willen der Götter über die Macht
der Wölfe. Doch auch so muss ein jeder verstehen: Wir leben im fünften Zeitalter im Zyklus des grauen Wolfes. So liegt es denn an uns, das Kommen des weißen und des silbernen Wolfes vorzubereiten."
Nach einer Weile schlug Erik das Buch zu. "Ich denke, ich muss es nicht weiterlesen" sagte er. "Ich kann mir gut vorstellen, was da noch kommt."
"Ach ja? Was kommt denn ihrer Meinung da noch?", fragte der Doktor neugierig geworden.
"Das ist eine Endzeittraktat, wie es nach dem Dreißigjährigen Kriege so viele gab. Nicht wenige sahen damals das Ende der Welt kommen, selbst nach dem Friedensschluss. Das alles ist Unfug, aber viele Leute haben damals in solchen Schriften einen Sinn für das lange Sterben gesucht."
"Ja, Sie haben wohl recht", meinte der Doktor
darauf nachdenklich. "Jedoch könnte ich mir vorstellen, dass es ein wirklicher Bruder, ein Mönch, verfasst hat, um so auf verschlungenen Wegen den Menschen die Verderbtheit der Welt vor Augen zu führen und sie so wieder auf den Pfad der Tugend, den Glauben an den wahren Gott zu führen."
Erik kicherte leise.
"Da können Sie recht haben, auch wenn ich das für einen ziemlicher Umweg halte. Aber es ist schon wahr, so denken diese Menschen."
Er grinste den Doktor weiter an und auch der kicherte nun ein wenig. Doch dann erstarrten Eriks Gesichtszüge und er wurde ganz still. Eine ganz Zeit lang flitzten die Gedanken hinter seiner Stirn hin und her, bevor er wieder sprach.
"Wenn die Vermutung, dass unsere Bestie in Wahrheit ein Mensch ist, jedoch stimmt und dieser Mensch dieses Buch kennt, sieht er sich vielleicht als eine Art Prophet des Zyklus des weißen und des silbernen Wolfes."
Nun erstarrte auch der Doktor.
"Sie denken an die Bissspuren an dem Leichnam von Helene Ümmler?"
"Ja, das tue ich."
"Doch das eine führt ja nicht von selbst zum anderen", warf Friedrich Himmelblau ein.
"Es könnte natürlich auch alles nur Zufall sein", räumte Erik sein, "doch vergessen Sie nicht: Oft kommen Propheten, ganz gleich ob sie echt sind oder nicht, mit Feuer und Schwert über die Menschen, ziehen eine blutige Spur hinter sich her und ..."
"... und die Spur unserer Bestie ist in der Tat sehr blutig", vollendete der Doktor Eriks Satz.
- Fortsetzung folgt -