Ich sitze an Léos Bett. Er schläft. Das ist gut. Die bläuliche Verfärbung seiner Fingerspitzen ist zurückgegangen. Auch das ist gut. Eine Bluttransfusion war nicht nötig. Das Monster hat ihm nicht viel ausgesaugt. Auch die Verletzungen halten sich in Grenzen. Nur ein Kratzer ziert die Brust meines Bruders, aber der ist nicht besonders tief und bereits desinfiziert worden. Ich habe meinen Vater auf seinem Handy angerufen. Er arbeitet wie Léo als Verteidiger, allerdings in einem anderen Bezirk. Zuerst war er genauso schockiert
wie ich zuvor, doch dann war er beruhigt zu hören, dass sein ältester Sohn nicht in Lebensgefahr schwebte. Meine Schicht ist zu Ende, ich warte nur darauf, dass Dr. Martin mal eben eine Sekunde Zeit für mich hat. Ich will, dass Léo mit mir nach Hause kommt, da wird es ihm besser gehen als hier. Hier … das hier ist doch nur ein Ort zum Sterben. Aber Léo wird leben. Als der Doktor eintritt, streift er sich gerade die blutbefleckten Handschuhe ab und wirft sie weg. Er hat gerade eine kompliziertere Behandlung gehabt, bei dem ihm zwei andere geholfen haben. Es war schon beinahe eine Operation. Die Klaue einer Bestie hatte sich in das
Fleisch eines Opfers gebohrt und war abgebrochen, durch den notdürftigen Verband war sie noch weiter eingedrungen und es hätten schwere Entzündungen entstehen können. „Alles gut?“, will ich halbherzig wissen. Man fragt eben, auch wenn es einen nicht interessiert. Der Smalltalk unserer neuen Realität, sozusagen. „Ja, es hat keine weiteren Komplikationen gegeben. Der Frau geht es gut“, antwortet mein Vorgesetzter mir, dann kommt er auf mich zu. „Und was ist mit dir, Louis? Es ist schon nach vier Uhr. Du kannst doch schon nach Hause gehen.“ „Die U-Bahn fährt erst um sechs“,
erwidere ich. „Und außerdem möchte ich sie um einen Gefallen bitten. Entlassen sie Léo bitte schon jetzt. So schwer ist seine Verletzung ja nicht.“ Der Doktor runzelt unentschlossen die Stirn. „Ich persönlich würde es für vernünftiger halten, wenn dein Bruder zumindest eine Nacht hierbleibt“, sagt er. Damit habe ich gerechnet. „Er kann auch zu Hause schlafen“, erkläre ich, ohne den Doktor anzusehen, ich starre nur auf meine Hände, die auf meinen Beinen liegen. „Ist ja nicht so, als ob wir hier Platz im Überfluss hätten“, füge ich mürrisch hinzu. Dr. Martin zieht sich einen der
unbequemen Plastikstühle heran und setzt sich zu mir. „Hast du mit deinem Vater gesprochen?“, will er freundlich wissen. Ich nicke. „Und was sagt Monsieur Maison dazu?“, fragte er weiter. Ich zögere. „Er hat nichts gesagt. Er will nur, dass Léo gut behandelt wird“, sage ich. Für einen Moment habe ich erwogen, zu lügen, aber ich bin ein schlechter Lügner. Monsieur Martin seufzt. Ich habe das Gefühl, er hat mein Ringen mit mir selbst bemerkt. „Du bist ein sehr fürsorglicher kleiner Bruder“, sagt er. Ich erwidere nichts.
Kleiner Bruder. Früher hat Léo mich niemals so genannt, aber jetzt sagt er das öfter. Dabei bin ich doch jetzt beinahe so groß wie er. Aber so wie er diese beiden Wörter benutzt … er sagt mir damit, dass er mich beschützen will, dass er auf mich aufpasst. Das macht mich glücklich. Und doch liegt er jetzt hier. „Also?“, frage ich nun doch, denn Dr. Martin hat mir noch immer keine Antwort gegeben. Der Doktor seufzt. „Wie könnte ich es dir verbieten? Aber im Augenblick schläft er noch. Lass ihn. Wenn du ohnehin noch zwei Stunden warten
musst, gib ihm die Zeit.“ Ich nicke. „Danke.“ Ich hebe den Blick. „Kann ich ihnen noch irgendwie helfen?“ Der Doktor nickt. „Du könntest einen Rundgang machen und nach den Patienten im Nebenraum sehen, ihnen geben, was sie eben gerade brauchen. Und unten, im Totenraum, werden sicherlich auch noch ein paar helfende Hände gebraucht.“ Ich nicke erneut und stehe auf. „Alles klar.“ Ich verlasse den Raum, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ich höre meine eigenen Schritte, die eigentlich nur ein Schlurfen sind, ich spüre, wie ich immer weiter in mich zusammensacke, bis ich herumlaufe wie
ein Fragezeichen. Es ist, als wollte ich mir meine Energie aufsparen. Im Nebenraum hilft gerade eine junge Frau einem kleinen Jungen auf. Er kann kaum stehen, wahrscheinlich spürt er seine Füße noch nicht richtig. Kinder sind besonders betroffen. Sie werden trotz Sicherheitsmaßnahmen häufig auf dem Weg zur Schule angefallen. Zwar werden sie meistens schnell von den postierten Patrouillen gerettet, doch die Auswirkungen können trotzdem verheerend sein. Generell lässt sich sagen, dass unsere Kinder am meisten gefährdet sind. Ich habe sogar schon von schaurigen Begebenheiten gehört, bei denen die Bestien durch das
Fensterglas geflogen sind, um das Blut eines wehrlosen Kindes zu trinken und sein Fleisch zu fressen. Wir sind niemals sicher. Im Grunde bietet nicht einmal die Stadt uns Schutz und auch die Feuerwaffen, mit denen wir unsere Männer und Frauen ausgestattet haben, können die Bestien nicht zurückdrängen. Es gibt einfach zu viele von ihnen, auf eine tote kommen zwei neue. Anfangs haben wir versucht, jede von ihnen rigoros zu erschießen, doch schließlich mussten wir feststellen, dass die Monster mehr sind als hirnlose Bestien. Sie scheinen sogar eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zu kennen,
denn wenn man eine Bestie aus einer Gruppe, die sich irgendwo aufhält, schießt, greifen die übrigen gemeinsam an, wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken. Und sie sind dabei so schnell, dass man sie nicht treffen kann. Und wie gesagt … es ist, als würde man gegen eine Hydra kämpfen. Es nimmt kein Ende. Es nimmt einfach kein Ende. Der Junge sieht zu mir herüber und lächelt mir zu, unbeschwert und fröhlich. Ich erwidere das Lächeln kurz, ich bewundere ihn für seinen Optimismus, den er ausstrahlt, obwohl er ein traumatisches Erlebnis gehabt haben
muss. Auch die Helferin lächelt, doch ihr Lächeln ist so träge, so bleischwer wie meins. „Kann ich bald wieder nach Hause gehen?“, will der Junge nun wissen. Die Frau streicht ihm kurz über den Kopf. „Ja, ich denke schon. Aber bis deine Mutter dich abholen kommt, bleibst du besser noch im Bett und ruhst dich aus.“ Der Junge nickt. „Ja, okay“, sagt er und krabbelt brav wieder zurück auf das weiße Laken. Ich wende mich ab und inspiziere stattdessen die anderen Patienten. Die meisten mustern mich mit trüben, müden
Augen, verfolgen meine Bewegungen, aber ihr Blick wirkt verschleiert, beinahe unheimlich. Nur die wenigstens sprechen, nur wenn ich sie anspreche. Das hier ist das Zimmer für diejenigen, die nur noch darauf warten, dass die Nachwirkungen der Vergiftung abklingen, aber keine Medikamente oder Infusionen brauchen. Die meisten hier sind wach und warten einfach nur noch ab … Genau wie ich. Auch ich warte doch nur darauf, dass der Tag vergeht. Dass die Sonne endlich ein weiteres Mal untergeht, nur damit sie am nächsten Morgen wieder auftaucht.
Ich kann nicht einmal sagen, was ich dabei empfinde. Wieder starre ich aus dem Fenster, sehe die Schneeflocken. Ich mag den Schnee. Er ist kalt und die kleinen Flocken sind so unfassbar zerbrechlich, ein wahres Wunder. Man kann sie nicht in der Hand halten, man kann sie nur manchmal sehen, auf den Haaren eines anderen, in den eigenen Haarsträhnen, auf der Kleidung, bis sie schmelzen. Ist mein Leben schlechter als früher? Ich schwebe in Lebensgefahr, klar. Potenziell immer. Aber … ist es deswegen schlechter? Ich glaube, es ist einfach nur … anders.
Ich bin fertig mit der Schule, obwohl ich erst siebzehn bin und eigentlich mit der Schule weitermachen wollte. Aber die Lehrpläne sind geändert worden. Studieren ist nicht mehr, mit spätestens vierzehn ist man fertig mit der Schule und dann muss man seinen Teil für die Gesellschaft tun, du bekommst ein Gewehr oder einen Verbandskoffer in die Hand gedrückt und dann gibt es gar keine Fragen mehr nach dem Sinn deines Lebens. Ich wollte eigentlich studieren, bis letztes Jahr. Jetzt will ich es nicht mehr und es steht ja auch gar nicht mehr zur Debatte. Die Unis sind zu Unterkünften
geworden, Professoren unterrichten jetzt Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren. Ich wollte irgendetwas Unverfängliches studieren, weil ich nicht wusste, was ich mal werden wollte. Ich glaube, ich steckte in diesem großen Loch der Unentschlossenheit fest, in dieser Zeit der Pubertät, in der du deinen Verwandten nicht mehr voller Euphorie mit „Feuerwehrmann!“ oder „Tierärztin!“ antwortest, sondern nur noch mit den Schultern zuckst und „keine Ahnung“ sagst und hoffst, dass sie das Thema damit auf sich beruhen lassen. Und jetzt ist das alles nicht mehr
wichtig. Jetzt kannst du nur noch verteidigen oder heilen. In seltenen Fällen kann man auch noch Lehrer werden oder einen der anderen Jobs übernehmen, natürlich, solche Berufe wie Verkäufer und Müllmann sind ja nicht ausgestorben. Aber die Anforderungen sind stark gesunken. Mittlerweile kann jeder beinahe alles werden. Man könnte sagen, wir Menschen seien zurückgestoßen worden in unserer Entwicklung. Manche behaupten das. Ich kann dem nicht zustimmen. Wir sind sozialer als jemals zuvor. Wer hätte das schon kommen sehen?
Natürlich … es gibt noch immer diese kleinen, miesen Egoisten, die anderen lebenswichtige Dinge klauen, Nahrungsmittel zum Beispiel oder Klamotten, solche Menschen, die mehr nehmen, als sie unbedingt brauchen und ohne Gewissensbisse damit leben können, dass andere dank ihnen überhaupt nichts mehr haben. Aber … die Mehrheit steht zusammen. Wo früher die Polizei distanziert und routiniert Verbrecher eingesammelt, verhört und anschließend vor Gericht gebracht hat, bilden nun wir Bürger eine einzige Einheit. Wir üben Selbstjustiz. Wenn einer auf die Idee kommen sollte,
Ladendiebstahl zu begehen, kann man damit rechnen, dass mindestens zwei schalten und sich den Kerl schnappen. Aber noch viel wahrscheinlicher ist eine echte Hetzjagd, quasi ganz altmodisch mit Fackeln und Heugabeln. Ist das jetzt primitiv? Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass Primitivität etwas Schlechtes ist. Viel kranker ist es doch, gar nichts zu tun, wegzuschauen, weil wir keinen Bock haben, uns mit Problemen auseinanderzusetzen. Man könnte sich ja die Finger schmutzig machen. Nein … zusammen haben wir Macht. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Nach diesem Prinzip funktioniert unsere
Gesellschaft. Und trotzdem … und trotzdem geht es immer nur bergab. Ich sehe nach unten, als ich plötzlich eine Hand an meinem Handgelenk spüre, eine kalte Hand. Ich sehe die blauen Verfärbungen, erschaudere bei der Berührung. Ich hebe den Blick und sehe in das Gesicht einer jungen Frau, die nur um weniges älter sein wird als ich. Sie ist blass, unnatürlich blass, ihre Augen sind blutunterlaufen. Sie sieht schrecklich krank aus, ausgelaugt. Beinahe, als wäre sie schon tot. Sie öffnet die farblosen Lippen, doch ich verstehe nicht, was sie sagt.
Ich beuge mich zu ihr herunter und nehme ihre Hand einfach in meine, und sie klammert sich unbewusst an mir fest, ich spüre ihre Fingernägel, die sich leicht in meine Haut bohren. „Wasser“, bringt sie nun schwach hervor. Ich nicke. „Klar. Warten sie einen Augenblick.“ Ich drücke kurz ihre Hand, dann befreie ich mich von ihr, gehe hinüber zum Waschbecken, daneben steht ein Tisch mit einem Wasserkocher. Ich gieße heißes Wasser in eine Tasse und kehre damit zum Bett der Kranken zurück, ich stelle die Tasse kurz ab und stelle dann die Lehne des Bettes etwas
höher. Aus der Schublade des Nachttisches entnehme ich eine Schachtel mit Eisen-und Vitamintabletten. „Sie brauchen dringend diese Präparate“, sage ich. Die Frau nickt mit halbgesenkten Augenlidern. „Haben sie Schmerzen?“, frage ich sie, während ich zwei Tabletten aus der Packung pule. Ein leichtes Kopfschütteln. Ich nehme es zur Kenntnis und nehme nun die Tasse. Das Wasser ist mittlerweile etwas abgekühlt, ich halte ihr die Tasse an die Lippen und gebe der Frau ein wenig davon zu trinken. Dann
halte ich ihr die Tabletten hin und sie öffnet bereitwillig den Mund, ich lege ihr eins der Präparate auf die Zunge und gebe ihr dann erneut zu trinken, geduldig. Sie schluckt, hustet, nimmt einen erneuten Schluck. Dann die nächste Tablette. Mit Tasse und Tabletten in der Hand richte ich mich wieder auf und lächle der Patientin leicht zu. „Ich wünsche ihnen gute Besserung“, sage ich und entferne mich. Als es kurz vor achtzehn Uhr ist, betrete ich den Raum erneut. Ich habe dabei geholfen, auf dem Hinterhof einige Leichen zu verbrennen. Die Asche geht
an die Hinterbliebenen zurück, falls es denn welche gibt. Wöchentlich gibt es betreute Beerdigungen für alle Toten. Léo ist mittlerweile in diesen Raum verlegt worden, wie ich feststelle, und es erleichtert mich, immerhin bedeutet das ja, dass sich sein Zustand in den letzten zwei Stunden nicht mehr verschlechtert hat. Er ist sogar wach und sitzt aufrecht in seinem Bett. „Auf geht’s“, sage ich leichthin, als ich eintrete. „Wir gehen jetzt nach Hause.“ Léo sieht mich nachdenklich an. „Und was sagt der Doktor dazu?“ „Er hat selbst entschieden, dass du gehen darfst“, meine ich und lache sogar dabei. „Komm schon, als ob ich dich
einfach so ohne Dr. Martins Einwilligung entführen würde.“ Nun grinst auch mein großer Bruder. „Wer weiß. Immerhin bist du mein kleiner Bruder.“ Er schlägt die weiße Bettdecke zurück und steht auf, ich eile schnell an seine Seite, für den Fall, dass sein Kreislauf noch einige Schwächen aufweisen sollte. Doch es scheint alles gut zu sein. Aber trotzdem sorge ich dafür, dass Léo sich an meiner Schulter abstützt, nur für den Fall. Er muss wahrscheinlich noch ziemlich viel stehen, spätestens in der U-Bahn. Da ist es besser, wenn er nicht sein gesamtes Gewicht trägt. Wir gehen gemeinsam noch einmal in das
Behandlungszimmer, wo ich mir meinen Mantel wieder anziehe und mich dann vom Doktor verabschiede. Dann helfe ich Léo gemächlich die Treppen hinunter. Unten warten schon andere, die jetzt auch mit der U-Bahn zurückfahren. Gemeinsam verlassen wir das Gebäude, doch schnell fallen mein Bruder und ich zurück. Léo keucht und sein Atem geht unregelmäßig, doch ich ziehe ihn mit mir. „Jetzt komm schon“, sage ich. „Sonst verpassen wir noch die U-Bahn!“ Ich kann die Blicke der Bestien in meinem Nacken spüren und alles, was ich denken kann, ist, dass wir erledigt sind, sollten sie sich genau jetzt für
einen Angriff entscheiden. Ja … wir stehen zwar in der Gesellschaft zusammen, aber gewartet haben sie nicht auf uns. Wer nicht mithalten kann, bleibt zurück. Im Tierreich ist das nicht anders. Und ich bin wie ein dummes Tier, das bei einem verwundeten Herdenmitglied bleibt, anstatt mit den anderen zu ziehen. Aber ich bin ein Mensch und kein Tier. Als wir die Treppen erreichen, vernehme ich plötzlich das Rauschen von Schwingen, das Keckern, ich denke, jetzt ist alles vorbei, und im nächsten Augenblick trifft mich etwas im Rücken. Doch es ist nicht die angreifende Bestie, die mich nach vorne stößt, sondern Léo,
der sich von mir losmacht und mich mit dem Ellenbogen die Treppe hinabwirft, während er selbst seinen Arm in das große Maul des dämonischen Monsters rammt. Ich falle, stürze. Ich komme hart auf dem Boden auf, mein Kopf dröhnt. Als ich aufsehe, kann ich Léo erkennen, wie er mit der Bestie ringt. Sie hat sich vehement in seinen Arm verbissen, doch wird sie damit nicht weit kommen. Für solche Fälle tragen wir unter unserer Kleidung Armschoner, die die Zähne der Bestien nicht durchdringen können. Ich kann den giftigen Speichel sehen, der über Léos Mantel rinnt. Im nächsten Augenblick höre ich
Schritte. Zwei Männer eilen auf uns zu, zwei Männer, die bereits an den U-Bahngleisen auf den Zug gewartet haben. Nun nimmt einer von ihnen eine Pistole hervor und erschießt die Bestie, mit der Léo kämpft. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Wir sind doch mehr als nur Tiere. Die Bestie schreit, lässt Léos Arm los, fällt zu Boden, ich sehe die schwarzen Schwingen in einigen letzten Bewegungen zucken, Léo sackt ebenfalls kraftlos in sich zusammen. Ich lasse für einen Moment meinen Kopf auf meinen Arm sinken, dann sehe ich wieder auf und will mich gerade
aufrappeln, als plötzlich Léos Körper ins Wanken gerät und er, wie ich zuvor auch, rückwärts die Treppe hinabstürzt. Sein Aufprall ist so hart wie meiner. „Großer Gott, was habt ihr Jungs denn gemacht?“, will einer der Männer wissen und kniet sich neben Léo, prüft seinen Puls und atmet erleichtert auf, als er die Augen aufschlägt. „Ich bin die Treppe runtergefallen und mein Bruder wurde schon vor ein paar Stunden von einer Bestie angegriffen“, sage ich und reibe mir den Kopf, der allmählich an einer Stelle zu schmerzen beginnt. Dann stehe ich endlich auf und klopfe meine Hose sauber. „Wart ihr denn schon im Krankenhaus?“,
fragt der andere Mann. „Wir kommen von da“, versetzt Léo nun. Im nächsten Augenblick können wir die U-Bahngleise quietschen hören. Der erste Mann greift Léo unter die Arme und zieht ihn zu sich in die Höhe. „Dann lasst uns jetzt schnell machen. Sonst verpassen wir noch unseren Zug.“ Der andere Mann übernimmt Léos rechte Seite und ich bleibe beinahe ein wenig verdattert zurück, doch ich fange mich schnell wieder. „Vielen Dank, dass sie uns geholfen haben!“, sage ich und hole eilig zu meinem Bruder und den beiden Fremden auf. „War doch selbstverständlich“, sagt der erste Mann. „Gut, dass du die Treppe
runtergefallen bist, sonst hätten wir dich und deinen Bruder gar nicht bemerkt.“ „Ja, super“, murmle ich und reibe mir verhalten den schmerzenden Ellenbogen. Als wir in der U-Bahn sind, schaffen wir es sogar, einen Sitzplatz für Léo zu ergattern. Müde lehnt er seinen Kopf gegen das kühle Glas, während die Bahn anfährt. Ich stehe, ich habe den Platz neben Léo dem älteren unserer beiden Retter überlassen. „Sagt mal, seid ihr beide Verteidiger hier in der Gegend?“, fragt der erste Mann nun. Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich arbeite im Krankenhaus. Mein Bruder war heute
für die Patrouille an der Grundschule eingeteilt“, erkläre ich. „Sollte dann nicht zumindest einer von euch bewaffnet sein?“, hakt der Mann nach. Erneut schüttle ich den Kopf. Pro Wohnung gibt es immer eine Feuerwaffe, damit man sein zu Hause vor den Bestien verteidigen kann. Die Waffen, die Léo auf Patrouille benutzt, sind hingegen nur geliehen. „Mein Vater hat unsere Waffe“, erkläre ich. Der Mann schnaubt. „Unverantwortlich, seine Kinder unbewaffnet zu lassen“, sagt er abschätzig. „Vor allem für dich wäre eine Waffe sinnvoll, immerhin arbeitest du im Krankenhaus und
bekommst dort kein Gewehr zugeteilt.“ Ich senke den Blick und sage nichts. Als die U-Bahn anhält, helfen die Männer mir dabei, Léo nach draußen zu schleppen. Er wirkt jetzt noch viel schwerer als vorher, vermutlich ist er total erschöpft. „Habt ihr Wasser bei euch zu Hause?“, fragt der Mann mich. Ich nicke. „Ja, sogar warmes“, erwidere ich. „Dann solltest du deinem Bruder ein Bad einlassen. Das soll helfen.“ Ich lächle. „Okay. Das werde ich tun.“ Ich greife mir Léos linken Arm und nehme dem Mann so seine Last ab. „Vielen Dank nochmal für ihre Hilfe“,
wiederhole ich. „Gern geschehen“, sagt der Mann und versenkt die Hände in den Hosentaschen. Dann wendet er sich ab und geht mit seinem Kumpanen die Straße entlang, bis er um eine Ecke biegt. Ich unterdessen suche unseren Wohnblock auf. Vor der Haustür steht unser Vater, mit offener Windjacke, irgendwie verloren. Früher stand er oft vor unserer Wohnung oder auf dem Balkon, um eine zu rauchen, doch heutzutage sind Zigaretten natürlich undenkbar. Der kalte Entzug macht ihm zu schaffen. Als er mich und Léo sieht, eilt er sofort
auf mich zu und hilft mir, meinen Bruder ins Treppenhaus zu ziehen. Doch als die Tür fast ins Schloss fällt, wird sie plötzlich aufgehalten. „Monsieur Maison?“, fragt eine autoritäre Stimme. Wir drehen uns beide verwundert um. Im Türrahmen steht ein Mann mittleren Alters mit Koteletten und grüner Uniform, wie Léo auch eine trägt. In seiner Hand ein Gewehr, in der anderen ein Ausweis. „Mein Name ist Éric Trelaud und ich bin der Vorgesetzte ihres Sohnes, Léo Maison.“ „Einen Moment bitte“, sagt mein Vater und gemeinsam setzen wir Léo auf der Treppe ab. „Mein Sohn ist zur Zeit leider
verhindert“, erklärt Vater dann. „Das weiß ich“, erwidert Monsieur Trelaud. „Und außerdem ist das nur schwer zu übersehen. Ich bin von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt worden und habe eine Bitte an sie. An sie beide.“ Nun fällt Éric Trelauds Blick auch auf mich. Er lässt uns keine Zeit zum Fragen. „Hören sie, zur Zeit gibt es ungewöhnlich viele Hilfskräfte in den Krankenhäusern. Doch Verteidiger werden immer weniger. Louis Maison, als Teil der Gesellschaft unterstehen sie der Pflicht, den Platz ihres Bruders einzunehmen, bis dieser wieder auf dem Damm ist.“ Meine Augen werden groß. „I-ich?“,
stammle ich. „Ich soll ein Verteidiger sein? Aber …“
„Du bist doch auch im Schießen unterrichtet worden, so wie jeder andere“, sagt Monsieur Trelaud und seine grauen Augen blicken mich kühl und berechnend an. „Dir sollte klar sein, dass das keine Bitte ist, sondern ein Befehl. Es tut mir leid. Wir brauchen jeden Mann.