Unachtsamkeit
Der Mann mit dem dunkel-blonden Haar und einem leichten Bauchansatz, nach seinem äußeren nach so um die Mitte dreißig begann zögernd zu sprechen: An diesen Tag werde ich mich mein restliches Leben erinnern. Es war ein Mittwoch im Juni, der achte Tag des Monats. Nachdem ich morgens von meinem Wecker, um halb sieben, geweckt wurde und mich gewaschen und was gegessen hatte, bin ich mit dem Auto losgefahren. Es regnete, aber der Wetterbericht hatte vorausgesagt, das es am Nachmittag aufklaren und die Sonne scheinen sollte. Ich hoffte so sehr darauf, das die Vorhersage zutreffen
würde, denn ich hatte mit meiner Frau ein nettes Picknick geplant. Nur wir zwei auf einer schönen Wiese. So etwas hatten wir schon lange nicht mehr gemacht. Ich hatte immer viel zu viel geschäftlich um die Ohren. Doch an diesem Tag hatte ich alle Kunden auf den Vormittag gelegt. Dieser Tag oder zumindest der Nachmittag sollte nur uns beiden gehören....
„Herr Nikolai. Ich teile Ihre Meinung, das sie für diesen Tag eine sehr originelle und romantische Planung hatten. Doch ich sehe bis jetzt keinen Zusammenhang mit den Ereignissen, die sich an diesem Tag ereignet haben und wegen denen wir nun hier sind. Würden
sie sich bei Ihrer Aussage bitte um die für uns relevanten Ereignisse beschränken. Ich habe heute nicht nur ihren Fall auf dem Terminkalender. Der Mann, der ihn unterbrach, saß vor ihm hinter einem länglichen Tisch an der Längsseite. Die lange Seite des Tisches war auch ihm zugewannt. Auf der Seite des Tisches, auf der der Mann saß der ihn unterbrochen hatte, saßen auch zwei andere Männer, der Unterbrecher in ihrer Mitte. Die beiden Männer trugen ein weißes Hemd und einen Schwarzen Anzug. Der Mann in der Mitte eine schwarze Robe. Er saß in einem Gerichtssaal und musste eine Aussage ablegen.
Auf diese Unterbrechung war er nicht vorbereitet. „Hören sie. Das was ich ihnen erzähle ist wichtig, damit sie mich nicht falsch einschätzen und mir auch glauben. Er wurde nervöser, während der Richter ihn einige Sekunden musternd ansah. „Na schön. Wenn sie meinen. Versuchen sie jedoch sich so kurz wie möglich zu halten. Damit würde er klar kommen. „Danke. Der Nachmittag war also für mich und meine Frau reserviert. Jedoch musste ich am Vormittag noch arbeiten. Ich bin Versicherungsvertreter und im Außendienst tätig. Wie bereits gesagt, hatte ich an diesem Tag alle Kunden auf den Vormittag verlegt. Das war aus zwei
Gründen möglich. Der erste war, das ich an diesem Tag nur vier Kunden hatte und der zweite, das alle damit einverstanden waren, das ich am Vormittag vorbeischauen würde. So eine Chance auf einen entspannten Mittag mit meiner Liebsten hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Sie müssen wissen, das ich öfters auch am Wochenende arbeiten muss. Und meine Frau arbeitet als Krankenpflegerin in der Uniklinik. Sie muss also auch öfters am Wochenende arbeiten. Die Arbeitszeiten sind für uns beide sehr flexibel. Damit will ich sagen, wir sehen uns recht selten. Als ich anfing dort zu arbeiten war ich mir sicher, ich würde
bald aufsteigen, hätte geregelte Arbeitszeiten und mein Gehalt würde für uns beide reichen. Doch weit gefehlt.
Ich fuhr also zum ersten Kunden. Mein Vorhaben war es, zuerst den Kunden zu besuchen, zu dem ich die weiteste Strecke zu fahren hatte. So würde ich um acht Uhr bei ihm eintreffen. Früher besuche ich meine Kunden nur sehr ungern. Ich möchte nicht in die Situation geraten, in der ich jemandem aus dem Bett geklingelt hatte und der mir plötzlich im Pyjama die Tür öffnet.
Der Termin beim ersten Kunden verlief hervorragend. Er bemerkte sofort meine Vorfreude,
interpretierte sie vermutlich als Freude
und so hatten wir ein gelockertes Beratungsgespräch.
Die nächsten beiden verliefen ähnlich gelockert. Meine dritte Kundin sprach mich sogar während dem Gespräch darauf an, das ich auf sie einen fröhlicheren Eindruck machen würde als sonst. Ich erzählte ihr von meinem Vorhaben für den Nachmittag und so entstand noch ein Nebenthema Seitenthema, das eine willkommene Abwechslung zum Gespräch über den Versicherungsvertrag, welches recht trocken war, war.
Ich fuhr also mit gutem Gefühl zu meinem letzten Kunden. Allerdings mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Der
letzte Kunde hatte einen, durch einen Einbruch verursachten Schaden an einer Fensterscheibe, welche eingeschlagen wurde, gemeldet. Der Sachverständige besuchte den Mann noch am selben Tag und lehnte eine Erstattung des Schadens ab, nachdem er sich diesen kurz angeschaut hatte. Der Kunde legte darauf Widerspruch ein. Ich musste ihm nun erklären, das es in der gesamten Geschichte der Menschheit noch keinen Fall gab, in dem ein Einbrecher, um in ein fremdes Haus durch ein Fenster einzudringen, die Fensterscheibe von innen eingeschlagen hatte. Und das er Glück hatte, das wir so Gnädig seien und nicht wegen Versicherungsbetruges
Strafanzeige erstatteten. Vorausgesetzt, er würde aufhören von uns die Kostenerstattung der neuen Scheibe zu fordern.
Mein Bauchgefühl war berechtigt. Der Kunde war schneller von null auf zweihundert als ein Rennwagen bei der Formel eins. Ich versuchte ihn zur Vernunft zu bringen und brachte gleichzeitig meine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung an ihre Grenzen. Nach einer Weile wurde mir klar, das der Versuch zum Scheitern verurteilt war. Ich klärte ihn darüber auf, das wir nun die Polizei hinzu ziehen würden und verließ den Kunden.
Mit einem gemischten Gefühl machte ich
mich nun mit meinem Wagen auf den Weg nach Hause. Ich freute mich schon auf den gemeinsamen Nachmittag mit meiner geliebten Frau. Gleichzeitig war ich noch in Rage wegen der grenzenlosen Dummheit des Versicherungsbetrügers. Beide Gefühle waren sehr stark und so gegensätzlich. So was hatte ich noch nie empfunden und bis zu dem Moment hielt ich es für unmöglich. Nicht das sie mich falsch verstehen, gemischte Gefühle hatte ich schon mal. Es kam jedoch noch nie vor, das ich zwei so unterschiedliche Gefühle in so heftiger Intensität zur selben Zeit hatte.
Unterwegs telefonierte ich mit meinem
Vorgesetzten um ihn über den Fall des Versicherungsbetrügers auf den neuesten Stand zu setzen. Anschließend wählte ich die die Handynummer meiner Frau. Es dauerte eine Weile.
Als sich schließlich eine weibliche Stimme meldete, wusste ich sofort, das irgend etwas nicht stimmen würde. Den die Stimme, die in das Handy meiner Frau sprach war nicht die meiner Frau.
Sie stellte sich als Dr. Blohm vor. Ich wusste auch sofort wer es war, denn ich hatte mich mal mit ihr unterhalten, als ich meine Geliebte vor einigen Monaten während ihrer halbstündigen Pause abholte, um mit ihr eine Straße weiter in einem Restaurant eine recht gestresste
Mahlzeit zu mir zu nehmen. An dem Tag hatte sie nämlich Geburtstag. Es war eine Ärztin, die im gleichen Krankenhaus wie sie in der Notaufnahme arbeitete.
Nachdem ich mich zu erkennen gegeben hatte, teilte sie mir mit, das es meiner besseren Hälfte sehr schlecht ginge. Sie hatte vor knapp einer Stunde einen schweren Herzinfarkt und wurde gerade noch operiert. Auf die Frage, ob sie bereits außer Lebensgefahr war,
antwortete sie nur, das es ihr leid täte. Man könne zu diesem Zeitpunkt noch nichts mit Sicherheit sagen. Meine Gefühle waren nun nicht mehr nur gemischt. Meine Gefühlswelt explodierte
Buchstäblich. Ich war immer noch wütend auf den Idioten mit der gebrochenen Scheibe. Meine Vorfreude jedoch zischte aus mir heraus wie ein prall aufgepumpter Luftballon, der mit einer Nadel angestochen wurde. Sie machte einer noch größeren Angst Platz. Und zusätzlich kam noch ein Hass auf mich selbst dazu.
Am Morgen hatte sie sich noch über leichten Schwindel und leichte in kurzen Intervallen auftretende stechende Schmerzen im Brustbereich beklagt. Ich jedoch in einem überwältigenden Gefühl der Vorfreude rationalisierte diese Symptome als Zeichen des Stresses von der Arbeit, welche sicher wieder
verschwinden würde, sobald sie sich am Nachmittag gemeinsam beim Picknick entspannen würden.
Mein klares Denken trübte sich ein und meine Urteilsfähigkeit wurde von den gewaltigen Emotionen geschluckt. Ich hatte nur noch einen Gedanken. So schnell wie Möglich in die Klinik kommen und bei meiner Frau sein. Für sie da sein. Ich blendete alles um mich herum aus. Dabei bemerkte ich nicht, das ich immer schneller wurde und Anfing die Kurven zu schneiden. Ich hatte das Gefühl über die Straße zu fliegen und mir war nicht mehr bewusst, das ich es war, der das Fahrzeug lenkte. Meine Gedanken wechselten zwischen
Sorgen und Selbsthass hin und her.
Nach einer Kurve bemerkte ich nebenbei, das mir ein anderes Fahrzeug, ein weißer Kombi, entgegenkam. Kurz darauf durchbrach ein lautes und alles durchdringendes Geräusch mein komplett durcheinander geratenes Bewusstsein und riss mich in die Realität zurück. Und als mir die gegenwärtige Situation klar wurde, wurde mein Körper urplötzlich mit Adrenalin geflutet.
Ich fuhr im Gegenverkehr mit einhundert und zwanzig Kilometern die Stunde und mir fuhr auf der selben Spur ein anderes Fahrzeug entgegen. Durch das Adrenalin kam mir alles
vor wie in Ultrazeitlupe. Das entgegenkommende Fahrzeug war nur noch zwanzig Meter
von mir entfernt. Mir war sofort klar, das bremsen nicht mehr möglich war. Also versuchte ich auszuweichen. Ich drehte das Lenkrad so schnell und so weit ich konnte nach rechts. An andere Fahrzeuge dachte ich gar nicht und es kamen zum Glück auch keine.
Danach spürte ich, wie die Front meines Wagens mit einer mächtigen Wucht nach rechts gezogen wurde. Ich blickte aus dem linken Seitenfenster und als mein Wagen für Sekundenbruchteile quer vor dem anderen Fahrzeug stand, konnte ich für einen kurzen Moment in das
Wageninnere sehen. Dabei sah ich auch einen Teil der Rückbank. Ich dachte eigentlich es sei biologisch unmöglich noch stärker unter Schock zu stehen. Mein Körper bewies mir das Gegenteil.
Im nächsten Moment fühlte ich die Räder meines Wagens vom Asphalt abhoben und gleich danach mein Waagen Anfing sich um die Längsachse zu drehen. Danach kam ein lautes schepperndes und knallendes Geräusch von zwei metallener, schwerer Gegenständen die mit enormer Kraft aufeinander prallten.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich im Krankenhaus. Es dauerte eine Weile bis ich mich wieder an alles
erinnern konnte. Aber ich merkte schnell, das was nicht stimmte. Die Pflegerin die mich versorgte, aber auch die Ärztin versuchten zwar freundlich zu mir zu
sein. Jedoch konnte ich ihre Verachtung unter der freundlichen Maske erkennen. Die
Geschichte zu erzählen machte ihn fertig. Er hatte schon vor zehn Minuten die ersten Tränen bemerkt, die ihm die Wange herunterliefen. Jetzt schluchzte er auch leise. Und er hoffte, das der Richter ihn nicht fragen würde, was er in dem anderen Waagen gesehen hatte, als sein Waagen quer stand. Er war sich sicher, dieses Bild wieder in sein
Bewusstsein zu rufen würde ihn psychisch zusammenbrechen lassen. Doch dann stellte der Richter die gefürchtete Frage.
„Ich sah auf den Vordersitzen ein junges Paar, die beiden waren so Mitte zwanzig. Und auf der Rückbank.... , ein lautes schluchzte unterbrach den Satz. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Auf der Rückbank sah ich ein kleines Mädchen, maximal drei Jahre alt und links von ihr die Hälfte einer Babyschale, in der ein noch sehr kleines Baby lag. Jetzt war es nicht mehr aufzuhalten und er fing an loszuheulen. Er hörte noch, wie der Richter das Ende der Beweisaufnahme verkündete. Von der
Seite reichte ihm sein Rechtsanwalt ein Taschentuch und legte tröstend einen Arm um seine Schulter.
Epilog
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Richter und die beiden Schöffen wieder herein. Der Richter meinte, das er von dem Umfang und der Detailliertheit des Geständnisses positiv Überrascht sei. Außerdem würde er deutlich erkennen, wie sehr der Angeklagte seine Tat bereue. Aufgrund der Emotionalen Lage zur Zeit des Geschehens, erkannte der Richter an, das Herr Nikolai nur eingeschränkt Schuldfähig gewesen war. Am Ende lautete das Urteil zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsentzug wegen
fahrlässiger Tötung. Diese könne jedoch bei guter Führung nach zwei Jahren in Bewährung umgewandelt werden. Außerdem wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen.
Der Richter sprach damit ein sehr mildes Urteil aus, den er wusste, das Urteil seines Gewissens gegen ihn selbst würde lebenslange Schuld bedeuten.