15 Nicht einen Schritt weiter?
Dinge, die unaufgefordert über einen kommen, noch bevor die Sonne ganz über den Horizont geklettert ist, sind selten von guter Natur. So war es auch in diesem Fall. Ein wildes Poltern weckte Erik. Zunächst glaubte er, im Traum Trommeln aus den afrikanischen Ländern, die er bereist hatte, zu hören. Doch dann wurde er gewahr, das jemand wild an seine Tür pochte, immer wieder und ohne Unterlass. Er stand auf und öffnete sie. Davor standen der Strohkarl und hinter ihm Moritz von Werrentheim. Bevor sie etwas sagten, erkannte er an ihren Gesichtern, was geschehen war.
"Die Bestie hat wieder zugeschlagen!", keuchte Karl Jülich.
Die genügsame Stute trug ihn wieder, während Moritz auf einem braunen Rappen und der Strohkarl auf einem Maulesel saß. Erik hatte darauf bestanden, dass er sie begleitete, schließlich sah er in ihm einen Verbündeten.
Nach nicht ganz einer Stunde Ritt erreichten sie einen kleinen Hain. Soldaten standen zwischen den Bäumen, mit finsteren Mienen und Musketen in den Händen. Aus dem Wald trat ein Offizier und hob die Hand.
"Nicht einen Schritt weiter!", sagte er. "Im Namen des Grafen von Werrentheim und des Baron von Brachwitz!"
Dann erkannte er Moritz.
"Oh, nun gut, kommt näher." Er blickte Erik an und sagte: "Dann müsst ihr der Junker von Berensiel sein."
"Und Ihr seid Hauptmann von Leffersingen", erwiderte Erik, stieg von seinem Pferd und hielt dem Offizier die Hand hin, die dieser nur zögerlich ergriff. Der Mann zitterte leicht und
seine Nase war so rot wie ein Granatapfel. Auch ohne den Geruch von zu viel Wein war es leicht, den gewohnheitsmäßigen Trinker zu erkennen.
"Wo ist das Opfer?", wollte Erik wissen.
"Geht nur in den Wald und folgt euren Sinnen. Ihr könnt es nicht verfehlen. Dieser Doktor ist schon da."
"Neugieriges Volk?"
"Was glaubt Ihr denn, wozu meine Männer und ich hier sind, Herr Junker?", knurrte von Leffersingen. Er war offensichtlich verärgert, wahrscheinlich weil er in dieser Nacht noch gar nicht ins Bett gekommen war, man ihn direkt von einer Zecherei hierher befohlen hatte.
Es war einer der letzten kühlen Morgen, des vergehende Frühlings. Tautropfen hingen an den bereits kräftig grünen Farnen und Blättern der Bäume. Die Vögel sangen ihr allmorgentliches Lied und nichts in der Natur deutet daraufhin, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Das
Unterholz knackte bei jedem ihrer Schritte.
Sie sahen in der Tat schon aus der Ferne einige Soldaten beieinanderstehen und brauchten nicht lange um sie zu erreichen. Die Männer hatten verstörte Gesichter und einer von ihnen kleine Brocken seiner letzten Mahlzeit auf der Uniformjacke. Kriegserfahrung hin oder her, so etwas hatten sie wohl kaum erwartet.
"Ich bin froh, euch bei mir zu haben und setze auf eure Unterstützung, doch niemand muss das sehen, wenn er nicht mag", wandte sich Erik an seine beiden Begleiter, doch beide schüttelten den Kopf.
"Wer A sagt, muss auch B sagen", meinte der Strohkarl ernst.
Der süße Geruch von Blut und stinkendem Gedärm empfing sie. Doktor Himmelblau kniete über dem Körper und suchte ihn mit einem Vergrößerungsglas ab. Als er die Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um.
"Ah, Herr von Berensiel nebst Begleitung.
Kommt ruhig näher, wenn ihr Vertrauen in euren Magen habt." In seinen Worten steckte auch nicht nur ein wenig Ironie.
Die Bestie hatte der Frau - eine Frau war es ganz eindeutig - den Leib zerfetzt. Die Bauchdecke war aufgerissen und Teile der Eingeweide quollen heraus. Eine halbverdaute Apfelkitsche, die sie kurz vor ihrem Tod in einem Stück heruntergeschlungen haben musste, lag neben der Toten. Ein Gestank von menschlichem Unrat lag in der Luft. Der Unterleib war so sehr geschunden worden, dass die blanken Beckenknochen hervorstanden. Ein Bein war abgerissen, von dem anderen fehlte der Unterschenkel. An den nackten Oberarmen waren blutige Kratzspuren zu sehen. Das Gesicht schien unversehrt. Der Schrecken lag noch auf den erkaltenen Zügen der Frau. Doch die linke obere Schädeldecke fehlte. Überall war Blut.
Moritz hielt dem Anblick nicht lange stand. Er
stammelte einige unverständliche Worte, dann drehte er sich um, tat einige Schritte in den Wald und übergab sich stöhnend so lange, bis sein Magen vollends geleert war. Der Strohkarl sagte nichts, doch in seinem Mundwinkeln zeigte sich ein leichtes Zucken. Erik zwang sich näherzutreten. Viel hatte er auf seine Reisen gesehen, doch niemals so etwas. Vergleichbares war hier in den letzten zwei Jahren schon dreiundvierzig Mal zuvor geschehen? Kein Wunder, dass alle nur von einer Bestie sprachen.
"Ihr erkennt die Tote?", fragte Doktor Himmelblau und holte ihn aus seinen Gedanken.
"Ja", antwortete Erik. "Wenn ich nicht gänzlich falsch liege, ist das Helene Ümmler."
Fast zwei Stunden wartete sie auf ein Fuhrwerk. Keiner der Soldaten wollte die Leiche anfassen, so mussten Erik und der Strohkarl sie auf die Ladefläche hiefen. Als der Wagenknecht, bevor sie den Körper bedecken
konnten, sah, was er da transportieren sollte, sprang er vom Bock und zog es vor, zurück zu laufen. Da band der Strohkarl sein Maulesel an den Wagen und nahm die Zügel selbst in die Hand. Erik, Moritz und Doktor Himmelblau folgten ihm. Die Soldaten bildeten in einiger Entfernung einen sichernden Kordon um sie.
Im Schloss angekommen, schafften sie die Leiche in das Schlachthaus und legten sie auf einen blankgescheuerten Tisch, wo sonst Schweinehälften zerteilt wurden. Moritz wäre gerne geblieben, doch sein bereits vollkommen leere Magen meldete sich wieder. Der Strohkarl bewachte von außen die geschlossene Tür. So kam es, dass der Doktor und Erik allein mit der toten Helene Ümmler waren.
Friedrich Himmelblau griff nach seiner Tasche und entnahm ihr einige Gerätschaften. Damit begann er den Körper zu untersuchen. Das Vergrößereungsglas hatte er ständig zur Hand. Erik hatte er einen kleinen Beutel mir
getrockneten Kräutern gereicht, den dieser nun vor seine Nase hielt. So war nur noch der Anblick abscheulich. Langsam und mit Bedacht arbeitete der Doktor. Zuerst wandte er sich dem aufgerissenen Körper zu und versuchte herauszufinden, ob er alle Organe - oder das, was von ihnen geblieben war - vollständig zählen konnte. Tatsächlich fehlte keines. Erik bekam all das mit, weil der andere alle Beobachtungen, die er machte, leise vor sich hinsprach, ob für sich oder einen Beobachter war nicht auszumachen. Schließlich hatte er etwas gefunden, tat einen Aufschrei und winkte Erik heran. Er bedeutete ihm, durch das Vergrößerungsglas zu schauen.
"Sehen Sie es?"fragte der Doktor begeistert.
Zunächst erkannt Erik nur Blut und Fleisch, doch dann meinte er zu erkennen, was der andere ihm zeigen wollte.
"Die Ränder sind ausgefleddert, als ob jemand an dem Fleisch gezogen und gezerrt hätte. Sind
das Bissspuren?"
"Ich wusste doch, das Sie ein gescheiter Mann seid, Herr von Berensiel. Ja, dass sind Bissspuren. Mächtige Bissspuren. Ein kräftiger Kiefer hat sie ihr beigebracht."
"Ein Wolf?", vermutete Erik.
"Ja, ein Wolf, das glaube ich auch. Wissen können wir das natürlich erst, wenn wir ihn erlegt haben. Aber da sind noch ein paar Dinge, die ich Ihnen zeigen möchte. Sehr euch die Arme an."
"Kratzspuren."
"Ja, Kratzspuren, blutig und tief. Helene Ümmler hat sich gegen den Angreifer gewehrt. Oder es zumindest versucht, wenn Sie mich fragen.
Friedrich Himmelblaus Gehirn arbeitet und es arbeitete mit Freuden.
"Aber das würde ja heißen ...", begann Erik, kam jedoch nicht sehr weit.
"Ganz genau, ja, ganz genau", unterbrach ihn
der Doktor. "Das würde heißen, dass die Bestie sie lebendig angefallen und zerrissen hat."
Da ballte Erik die Faust und schlug auf den Tisch. "So viel zu der Idee, dass unsere Bestie ein Mensch ist", knurrte er.
"Nicht so schnell mit ihren Schlüssen, Herr von Berensiel, nicht so schnell. Sehen Sie sich den Kopf an, dort wo ein ganzes Stück fehlt. Kennen Sie solche Wunden?"
Langsam ging Erik um den Tisch an dessen Kopfende und betrachtet den Schädel. Erstaunt legte er die Stirn in Falten.
"So etwas habe ich schon einmal auf dem Schlachtfeld gesehen."
"Meine ich auch, ganz ihrer Meinung. Man hat ihr in den Kopf geschossen. Große Wucht. Aus nächster Nähe würde ich sagen."
"Ein Wolf kann nicht schießen!"
"Nein, Herr von Berensiel, dass kann er nicht. Aber ein Mensch kann schießen, so viel ist sicher."
Während Erik grübelte, was das zu bedeuten hatte untersuchte Doktor Himmelblau das nahezu unversehrte Gesicht. Schließlich öffnete er der Toten den Mund.
"Was ist denn das?", rief er erstaunt aus. Aus einer Tasche holte er eine Pinzette, mit der er unter die Zunge der Toten griff. Zum Vorschein brachte er ein winziges Stück Papier, auf dem nur ein Wort stand: Culpa! *
Der Doktor schüttelte den Kopf. "Johann Hartwig ist ein Geizkragen, wie er in keinem Buche steht, aber dass er seinen Mägden und Knechten Bücher als Mahl serviert, möchte ich doch sehr bezweifeln. Außerdem wären die noch teurer, als Gerstenbrei."
Mehrerer Augenblicke lang starrten die beiden Männer sich an. Dann sagte Erik: "Also hat jemand dieses Stück Papier dort platziert."
"Nach dem Tode, möchte ich meinen", ergänzte Friedrich Himmelblau.
Der Doktor hatte noch viel zu tun und verabschiedete sich. Auch glaubte er, nicht mehr viel herausfinden zu können. So übergab man den Leichnam den Totengräbern, die in der Zwischenzeit benachrichtigt worden waren. Erik beobachtete aus einiger Entfernung, wie sie die Überreste, die einmal ein Mensch gewesen waren, abtransportierten. Dann kam er auf einen Gedanken. Er ging in die Gesindeküche und fragte Maja Jülich, ob er wach sei. Die bejaht das. Langsam ging Erik in seine Kammer. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster auf das Bett, in dem der kleine Mann lag.
"Ihre Frau ist tot. Die Bestie hat sie gemordet", sagte Erik geradeheraus.
Da zeigte sich, zum ersten Mal seit zwei Jahren, wieder ein Lächeln auf den Lippen von Trudwin Ümmler.
- Fortsetzung folgt -
Anmerkungen:
* culpa - lat. "Schuld"