14. Kapitel Wie ein Kind, das zu Weihnachten sein Traumgeschenk auspacken darf, starrte ich auf das Handy, um die Nachricht von Amelie immer und immer wieder zu lesen. Endlich, nach einer schmerzlichen Ewigkeit von fast vier Wochen hatte sie sich bei mir gemeldet. Mein Herz schlug vor lauter Aufregung viel zu schnell, ich fühlte mich wie ein Teenager und war in diesem Moment überglücklich, wenn ich auch nicht das zu lesen bekam, was ich mir in den vielen Stunden ihrer Abwesenheit gewünscht hatte. Wenigstens hatte sie mich nicht aus ihrem Leben verbannt und das allein
zählte. Es waren wirklich vier Wochen vergangen. Vier lange Wochen, in denen jeder einzelne Tag zur Qual geworden war. Mein Leben war zum Stillstand gekommen und mir waren im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. Rings um mich herum spürte ich noch entfernt das pulsierende Leben, für mich jedoch fühlte es sich so an, als ob ich es durch eine dicke Glasscheibe betrachtete und zum stillen Beobachter degradiert worden war. Ich durfte die Schule nicht betreten und auch das Trainingsgelände blieb für mich ein Tabu. Mr. Cumberland rief mich regelmäßig an, um sich nach meiner Lage zu erkundigen,
hatte jedoch nie eine positive Nachricht für mich. Die Untersuchungen zogen sich ungewöhnlich lange hin und er befürchtet bereits, dass er meine Stelle neu besetzen müsse. Er konnte von den anderen Lehrern nicht erwarten, dass diese meine kompletten Stunden so lange Zeit übernehmen würden. Ich hörte das Bedauern in seiner Stimme, was mir persönlich nicht weiterhalf und den Trost, den er jedes Mal aussprach. Wenn es nach ihm ginge, hätte er mich längst wieder als Lehrer eingesetzt, aber das Thema war einfach zu prekär. Nach jedem dieser Telefonate rutschte ich wieder ein Stück tiefer in meinem Sumpf und überlegte schon, ob ich mich
diesen Gesprächen überhaupt noch stellen sollte. Irgendwann würde es eine Entscheidung geben und so lange könnte ich mich auch verkriechen. Nicht anders ging es mir mit meinem heißgeliebten Sportverein. Jeder der Jungs beteuerte immer wieder, dass sie auf meiner Seite stehen würden, jederzeit für mich da wären und nur Freudschaft zählte. Und trotzdem suchte niemand der sechs Trainer wirklich Kontakt zu mir. Der Vorwurf, der wie eine Zentnerlast auf mir lag, wog einfach zu schwer und jeder versuchte offensichtlich Abstand zu halten, bis es eine Klärung in die eine oder andere Richtung geben würde. Georg und Logan
waren noch einmal bei mir in der Wohnung, betrachteten genau wie Mr. Cumberland irritiert mein Chaos, um mir auch nur mitzuteilen, dass sich keinerlei Neuigkeiten ergeben hätten. Logan war nach wie vor bemüht, keine Details an die Presse weiterzugeben, berichtete aber, dass von unbekannter Quelle immer wieder nachgeforscht würde. Mir war die Quelle natürlich alles andere als unbekannt, aber ich hatte Aaron versprochen, ihn und das Geheimnis der Familie nicht zu verraten. Meine einzige Hoffnung in diesen Wochen war, dass Josef zufrieden mit dem Ergebnis seiner Aktivität sei und mich vielleicht bald in Ruhe lassen würde, wenn Zeit verging.
Er hatte mit seiner wahrgemachten Drohung mein Leben in der Hand und ich hoffte immer noch, dass er die Sache im Sand verlaufen lassen würde. Es war ein verdammter Teufelskreis. Ich konnte nichts tun, außer abzuwarten und musste versuchen, die Hoffnung nicht ganz aufzugeben, dass er vielleicht doch nicht so mies war, wie es schien. Er hatte laut genug gebrüllt und seine gewünschte Reaktion von Amelie und mir bekommen. Vielleicht lehnte er sich doch irgendwann zufrieden zurück. Ich habe keine Ahnung, warum ich das zu der Zeit immer noch hoffte. Wahrscheinlich kannte ich ihn einfach noch nicht gut genug.
Das allerschlimmste in den Wochen war jedoch, dass ich nicht das geringste Lebenszeichen von Amelie erhielt. Ich konnte nicht davon ausgehen, dass sie meinen Brief gelesen hatte, ehe ihn Josef in die Finger bekam, war ziemlich sicher, dass er oder einer seiner Lakaien ihn vorher abgefangen hatte. Somit wusste sie nichts von mir, ich nichts von ihr und je mehr Zeit verging, befürchtet ich, dass sie aufgegeben hatte. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, bekam ich eine Gänsehaut, weil mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wollte sie uns keine Chance mehr geben? Hatte sie von der verbotenen Frucht gekostet und lehnt sie
nun doch ab, obwohl sie ihr schmeckte? Wollte sie allem Ärger aus dem Weg gehen oder waren ihre Gefühle für mich doch nicht tief genug, um dafür zu kämpfen? Oder war sie einfach nur in der gleichen beschissenen Zwangslage wie ich und hatte keine Möglichkeit, Kontakt zu mir aufzunehmen, weil Josef sie nach wie vor bedrohte? Ich drehte mich in diesem elenden Gedankenkarussell und fürchtete, durchzudrehen, wenn es noch länger so weitergehen würde. Ich sehnte mich so sehr nach Amelie, dass es schmerzte, aber fast noch mehr tat mir die Ungewissheit weh. Nachdem ich mich zwei Wochen lang
ohne Nachricht und ohne Perspektive in meinem Elend gesuhlt hatte, immer wieder aus Träumen hochschrak, in denen Amelie ungreifbar in meinen Händen zerfloss, beschloss ich, wider jeder Vernunft aktiv zu werden. Ich hatte im Halbschlaf einen Plan geschmiedet. Ehe ich ihn umsetzen wollte, räumte ich meine Wohnung und mich auf. Den ganzen Vormittag war ich damit beschäftigt, Müll wegzuräumen, Berge von Geschirr abzuspülen, Staub zu entfernen und den Boden zu säubern. Ich schämte mich wegen dem vielen Dreck und Unrat und nahm mir vor, egal, was passieren würde, es nicht wieder so weit kommen zu lassen. Es war
inzwischen Herbst und die tiefstehende Sonne schien in mein Fenster, beleuchtete das ganze Elend mit einem warmen Licht. Umso zufriedener war ich, als am frühen Nachmittag zumindest die Wohnung wieder zivilisiert und bewohnbar war. Ehe ich mich mit mir beschäftigte, zog ich nach langer Zeit endlich wieder meine Laufklamotten an und machte mich auf die Spur. Wenn ich auch auf dem Trainingsgelände immer noch nicht auftauchen durfte, konnte mir keiner verwehren, im Wald zu laufen, der am Stadtrand von Beaverton begann. Ich lief wie um mein Leben. Viel zu lange und viel zu schnell, als nach der langen Pause gesund gewesen wäre, aber
es tat gut. Ich spürte mich zum ersten Mal wieder und merkte, dass ich noch am Leben war, schöpfte neue Kraft. Es durfte einfach nicht sein, dass uns oder mich dieser Miesling Josef Barton dermaßen beeinflusste. Fast zwei Stunden rannte ich durch den herbstlichen Wald, durchdachte immer wieder meine Idee, an die ich mich klammerte, die mir kurzfristig Hoffnung gab. Ich sog die reine Luft in meine Lungen, hielt mein Gesicht immer wieder in die Sonne, die durch die letzten Blätter funkelte und fühlte mich in diesem Moment endlich wieder stark. Zuhause angekommen, stellte ich mich lange und ausgiebig unter die Dusche,
rasierte mich, gönnte mir schließlich einen kurzen, freudlosen Spaß mit mir selbst und träumte dabei von Amelie. Anschließend telefonierte ich mit Hank und vereinbarte ein Treffen mit den Jungs. Er, Otis und Terry hatten fast jeden Tag versucht, an mich heranzukommen, aber ich hatte sie täglich abblitzen lassen und zum Schluß überhaupt nicht mehr auf ihre Anrufe reagiert. Erfreut darüber, etwas von mir zu hören, war kurz darauf ein Treffen beschlossen. Wir würden uns bei Terry sehen, denn ich war trotz aller Euphorie nicht bereit, in einen Pub oder sonst ein Lokal in der Öffentlichkeit zu gehen. Nicht auszudenken, wenn ich Eltern
meiner Schüler treffen würde. Der Abend verlief wie in alten Zeiten, gemütlich und ohne jeden Hintergedanken. Die drei Jungs hatten nichts mit meinem Lehrer-Job zu tun und noch weniger mit Sport. Alle drei waren Techniker und arbeiteten in Werkstätten oder Ingenieurbüros. Darum waren alle Informationen die sie besaßen nur vom Hören und Sagen entstanden und natürlich wollten sie wissen, was an der ganzen Geschichte dran war und wie das alles weitergehen würde. Ich schwankte, wieviel ich preisgeben sollte, entschied mich trotz der vertrauten Atmosphäre dennoch, nur wenige Details zu erzählen. Ich wollte
mir und ihnen die gute Stimmung nicht verderben, die ich gerade empfand und von der ganzen Liebelei mit der Frau meiner Träume verstanden sie, als eingefleischte Junggesellen sowieso nichts. Keiner von uns hatte bis dahin eine ernsthaft Beziehung aufbauen können und von Zeit zu Zeit sinnierten wir darüber, ob dieser Umstand unserer Vergangenheit zuzuschreiben war, kamen aber nie zu einem Ergebnis. Allein Hank war bereits Vater einer inzwischen fünfjährigen Tochter, die aus einer kurzen und heftigen Affäre entstanden war. Mutter und Tochter lebten jedoch am anderen Ende des Landes, in der Nähe von New Orleans
und der einzige Kontakt zu ihnen fand über ihr Konto statt. Einmal im Jahr bekam er ein aktuelles Foto, hatte aber nie das Bedürfnis, ein Vater zu sein. Er hüllte sich diesbezüglich genauso in Schweigen, wie ich in diesem Moment. Ich hatte einfach keine Lust auf Ratschläge und Witzeleien. Welcher außenstehende Mensch würde schon begreifen, was mich mit Amelie verband und in welcher heiklen Lage wir uns zugleich befanden. Ich schwieg also, wenn es um mein Thema ging, schaffte es ansonsten aber trotzdem, mich ein wenig ablenken zu lassen und den Abend zu genießen. Dankbar hatte ich mich spät verabschiedet, nachdem ich
versprechen musste, mich nicht wieder so lange einzuigeln. Sie wollten mir helfen, aber durch mein Schweigen wussten sie nicht, mit wem sie es zu tun haben würden. Daheim angekommen, schaffte ich es nach langer Zeit endlich einmal wieder, in der folgenden Nacht traumlos durchzuschlafen. Erholt und nur wenig zermürbt, wachte ich am Montagmorgen vom Weckerpiepton meines Handys auf. Ich dachte noch einmal kurz über meinen Plan nach, war immer noch zufrieden und verließ schon kurz danach meine Wohnung. Ich musste früh am Morgen handeln, weil Amelie nie am Morgen in
Beaverton auftauchte und ich auf jeden Fall ein Zusammentreffen verhindern musste. Im Grunde war es albern, was ich mir ausgedacht hatte, aber die ganze Situation machte eben erfinderisch. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mich jemals auf solche Spielchen einlassen würde, aber im Moment hatte ich keine andere Wahl, wenn ich Kontakt zu Amelie aufnehmen wollte. Es fühlte sich einfach an und ich hoffte, das würde es auch. Im Supermarkt kaufte ich zwei billige Prepaid-Handys, bestückte sie noch im Auto mit den Karten und umwickelte das, welches für Amelie bestimmt war, mit meiner Nachricht und der anderen
Nummer. Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit zu viel Criminal Minds geschaut, wo solche Methoden ja zur Tagesordnung gehörten. Mit wenigen Worten hatte ich ihr versichert, dass ich sie nach wie vor über alles liebte und bat um eine kurze Nachricht, ob es ihr gut ginge. Ich würde sie zu nichts drängen, sie soll ihre Entscheidung allein treffen, mir aber bitte antworten. Inständig hoffte ich, dass mein Plan aufgehen und ich bald wissen würde, was passiert war. Da es gerade sieben Uhr war, wagte ich es, bis vor Amelies Haus zu fahren. Wie ein Dieb schlich ich mich den kleinen Gartenweg entlang, in der Hoffnung,
dass die hintere Tür wie üblich nicht abgeschlossen war. Obwohl ich es eilig hatte, blieb ich trotzdem eine Minute im Garten stehen. Alle Gefühle brachen über mir zusammen und ich wünschte mir nichts sehnlicher als Amelie, die mir aus dem Haus entgegen laufen würde. In diesem Garten zu stehen, war so schwer und doch so schön zugleich, weil alle Erinnerungen dort so präsent waren. Ich roch Amelie und fühlte sie, als ich kurz die Augen schloss, aber alles was ich wirklich sah, war der herbstlich veränderte Garten, der noch so gut wie im Dunkeln vor mir lag. Auf den Bäumen befanden sich fast keine Blätter mehr, aber das Laub am Boden
war natürlich ordentlich zusammengeharkt. Nur noch sehr wenig erinnerte an die schönen und dennoch verzweifelten Stunden, die wir hier im Sommer verbracht hatten. Unsere Ecke im hinteren Teil war fortgeräumt, nur die Schaukel hing still an ihrem Platz. Ich widerstand dem Drang, mich auf das Brett zu setzen, zu sehr machten mich der Anblick und die Erinnerung traurig. Abrupt wendete ich mich ab, griff zur Klinke und stellte erleichtert fest, dass die Tür tatsächlich nicht verschlossen war. Nun musste ich nur noch das Handy verstecken, um dann auf dem schnellsten Weg das Haus und die Straße zu verlassen. Ein müdes Dämmerlicht
empfing mich im Inneren und Amelies Dad, der mit seiner Gehhilfe durch die Wohnküche schlurfte. Ich wollte ihn eigentlich nicht antreffen, aber als er vor mir stand, freute ich mich doch. „Guten Morgen Mr. Baker“, begrüßte ich ihn und nahm den mageren, zerbrechlichen Mann kurz in den Arm. „Hallo Jungchen“, freute auch er sich, mich zu sehen. „Du sollst doch Dad zu mir sagen. Wie oft soll ich das denn noch erwähnen.“ Dieser Satz erwischte mich kalt und ich hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Verdammt, warum war das alles nur so kompliziert. Zu gern würde ich der Schwiegersohn sein, den er sich so
offensichtlich wünschte. Ich nahm mir kurz Zeit für ihn, begleitete ihn zu seiner Chaiselongue und hielt für kurze Zeit seine Hand, so wie ich es im Sommer oft getan hatte. Dann erklärte ich ihm, dass ich etwas für Amelie da lassen würde, weil ich nicht auf sie warten könne und legte das Handy mit der Botschaft unter das Kissen. Ich wusste, dass Amelie dieses immer als allererstes für ihren Dad aufschüttelte, wenn sie ins Haus kam und hielt den Ort darum für das sicherste Versteck. Danach begann die Warterei, gemischt mit Hoffnung und Sehnsucht. Am gleichen Tag passierte nichts. Unruhig
und aufgeregt starrte ich immer wieder auf das ungewohnte Display, rief mich mehrfach selbst an, um zu testen, ob alles richtig funktioniert. Bis zum späten Abend geschah nichts und ich redete mir ein, dass Amelie wahrscheinlich an diesem Tag nicht bei ihrem Dad war. Auch am zweiten Tag passierte nichts - keine Nachricht, kein Anruf. Konnte es sein, dass Amelie an zwei Tagen in Folge nicht zu ihrem Dad gefahren war? Nachdem auch am dritten Tag nichts erfolgte, wurde ich mehr und mehr unruhig. Ich lief jeden Tag meine Strecke im Wald, versuchte mich abzulenken, aber gerade beim Laufen mahlten die Mühlen in meinem Kopf.
Warum reagierte Amelie nicht? Wollte sie nicht? Kam sie überhaupt nicht zu ihrem Dad? War womöglich etwas geschehen? Tag vier, fünf, sechs - nichts! Ich war dem Durchdrehen nahe, verstand das alles nicht und verfluchte Josef, den Rest der Welt und mich Trottel. Ich sollte meine Sachen packen und aus Beaverton verschwinden. Wie lange würde ich diese Situation noch aushalten, ohne verrückt zu werden? Aber konnte ich einfach gehen, ohne zu wissen, warum Amelie mir nicht antwortete? Auch Tag sieben, acht und neun vergingen und ich kann nicht mehr
sagen, wie ich sie überstanden habe. Ich durchlebte die Hölle und war drauf und dran, alles auf eine Karte zu setzen und am Haus auf Amelie zu warten. Langsam machte ich mich jedoch mit dem Gedanken vertraut, dass der wahre Grund für ihr Schweigen wohl der war, dass sie keinen Kontakt mehr zu mir haben wollte. Ich würde es irgendwann überleben, aber ich hätte die Gewissheit gern gehabt, damit ich irgendwann die Chance hätte, zur Ruhe zu kommen. Augenscheinlich hatte ich mich getäuscht und würde mit meinem Elend zurechtkommen müssen. Und dann passierte es doch! Gerade in dem Moment, als ich dachte, ich könne
nicht mehr tiefer fallen, ertönte der mir fremde Klingelton und kündigte eine Nachricht auf dem Handy an.
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