14 Wahrheiten
Als Erik am nächsten Morgen erwachte, war Amarant bereits fort. Er hatte damit gerechnet, war aber dennoch ein wenig enttäuscht. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen blickte er zu dem schweren Holzbaldachin über seinem Bett auf, ließ seinen Gedanken freien Lauf, nur um sie dann wieder einzufangen. Dafür war später Zeit, vielleicht ...
Nachdem er aufgestanden war, öffnete er die Balkontür. Der Wind stand günstig und wehte den Gestank des Misthaufens nicht zu ihm empor. Dann ging er zu seinem Schreibtisch. Erik wunderte sich ein wenig, dass der Bericht über den Tod Ida Ümmlers obenauf lag, denn er war sich sicher, sich zuletzt mit Reinald Swindeg beschäftigt zu haben. Ganz in der Nähe
hatte der eine Schmiede betrieben und war das einzige Opfer der Bestie gewesen, dass nicht im Freien gemordet wurde. Aber wahrscheinlich hatte Amarant der Versuchung einfach nicht widerstehen können. Ob sie sich damit einen Gefallen getan hatte, bezweifelte Erik.
Er setzte sich nach einer kurzen Morgentoilette wieder zu den Berichten. Da der Doktor sehr gründlich und sorgsam alles notiert hatte, war Erik sich sicher, dass er hier Antworten finden würde. Zumindest eine Idee, was er als Nächstes tun sollte, musste zwischen den Worten versteckt liegen. Und dann war da noch dieses schwer Beschreibliche, das er nicht fassen konnte, etwas, das ihn störte und doch eine Verbindung zwischen all diesen Toten bildete.
Kurz vor Mittag hatte Erik es begriffen!
Mit einem lauten Schrei sprang er auf. Er zeigte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Berichte und drehte den Kopf hin und her,
als suche er nach jemandem, dem er das erklären konnte. Und dann wurde er zornig. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Er hatte es erkannt. Warum auch nicht? Schließlich war er der einzige, der alle Toten gesehen hatte. Doch anstatt zu reden, hatte er den Mund gehalten. Er hatte geschwiegen und das Morden hatte nicht aufgehört.
Mit geballten Fäusten stand Erik da. So viel Feigheit machte ihn zornig. Dann schlüpfte er in seinen Rock, legte auch die Pistolen und das Entermesser an. Er eilte aus seiner Kammer, über die Treppen auf den Schlosshof und den Schlossberg hinunter. Er ging so schnell er konnte, ohne rennen zu müssen. Vor dem Haus angekommen, klopfte er heftig an die Tür. Als das üppige Mädchen mit den rosigen Wangen die Tür öffnete, ließ Erik sie gar nicht erst zu Wort kommen, schob sie beiseite und stürmte in das Lesezimmer. Sofort fand er sein Buch in dem Bücherregal und nickte zufrieden.
Mit hochrotem Kopf kam das Mädchen ihm nach und wollte protestieren, aber Erik blickte sie mit derart kalten Augen an, dass sie nur ein angestrengtes Pfeifen von sich gab.
"Hohlen sie den Doktor! Sofort!" befahl er. Das Mädchen gehorchte.
Kurze Zeit darauf erschien der Doktor Himmelblau im Lesezimmer. Seine Laune war noch schlechter als am vorherigen Abend.
"Ich hoffe doch sehr, dass Sie eine Erklärung für ihr Eindringen haben", sagte er in einem Ton, der klar machen sollte, dass es keinen solchen gab.
Doch Erik kümmerte sich nicht um ihn. Er schaute das Mädchen an und sagte: "Raus mit ihnen!"
Hilflos suchte die den Blick des Doktors, doch bevor der antworten konnte, fuhr Erik wieder dazwischen.
"Schau' ihn nicht an! Ich habe gesagt: Raus mit Dir! Und ich bin im königlichen Auftrag
hier. Das wiegt allemal schwerer als der Titel eines Doktors der Medizin!"
Friedrich Himmelblau nickte seiner Bediensteten zu, die sich daraufhin zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Die beiden Männer waren allein.
Der Doktor wollte etwas sagen, doch Erik gebot ihm mit erhobenem Zeigefinger Schweigen. Ohne zu zögern ging er zu dem Bücherregal, zog sein Buch heraus, öffnete das Geheimfach, griff nach dem Leuchter mit den sieben Armen und hielt ihn Friedrich Himmelblau unter die Nase und vor das schwere Kreuz, dass er auch jetzt wie immer um den Hals trug.
"Ich nehme an, dass Sie als Jude geboren wurden", begann Erik kalt und berechnend, "und nun sind Sie ein guter Christenmensch. Zumindest wollen sie das alle glauben machen. Der bekehrte Sohn Judäas, der den Weg in den Schoß von Mutter Kirche gefunden hat. Ist
bestimmt auch nicht schlecht fürs Geschäft. Ich frage mich dann nur, warum sie ein heimliches Fach in diesem Regal haben, in dem Sie eine Menora verstecken?"
Der Doktor zitterte. Die Augen hinter seiner Brille blitzen feindselig auf. "Sie Schweinehund sind nicht mehr als ein gemeiner Erpresser!", knurrte er.
Da lächelte Erik zur großen Überraschung des anderen. "Sie irren sich. Mir ist es völlig gleich an wen oder ob sie glauben, ob sie vorgeben zu glauben oder was sie sind. Christ, Jude, mir ist das völlig gleich."
"Aber..."
"Nur das warum würde mich interessieren."
Friedrich Himmelblau ließ sich in einen Stuhl nieder und fiel in sich zusammen. Er begriff, dass er in Erik keinen Feind vor sich hatte, doch wusste er nicht, was dieser denn dann war.
"Mein Herr, ich habe die Schnauze voll. Ihr seid viel umhergekommen. Vielleicht wisst ihr
darum nicht mehr, was es heißt, in diesem Land ein Jude zu sein. Die Blicke, das Tuscheln und hin und wieder wird einer von uns auch einfach totgehauen. Schaffen sie nichts, sind sie ein Geschwür und schaffen sie etwas, sind sie der Bösewicht, der hinter allem Übel steckt. Alles Gesindel darf sie anspucken oder von der Straße scheuchen. Jeden Tag leben sie in Angst, ob ihnen nicht jemand das Dach über dem Kopf ansteckt. Ich wollte so nicht mehr weiterleben. Schon lange hatte ich diese Idee. Doch erst nachdem meine Eltern gestorben waren, traute ich mich. Ich bin nun ein Christ. Jeder kann das sehen. Doch bete ich so, wie es meine Altvorderen es bereits taten. Und auf diesen Schwindel bin ich stolz!"
Doktor Friedrich Himmelblau reckte das Kinn und Erik erkannte, dass sich hinter der scheinbaren ständigen schlechten Laune des anderen große Aufmerksamkeit und Vorsicht verbarg. Er stellte den Leuchter zurück in sein
Geheimversteck und schob sein Buch wieder an seinen Platz.
"Ich finde, Sie sollten aber noch etwas wegen ihrem Namen machen", sagte er dann.
Der Doktor lachte verächtlich. "Himmelblau! Pah! Das ist, als würde ich eine Stern auf meiner Kleidung tragen, auf dem groß Jud steht."
"Streicht doch einfach das blau. Dann kommt ihr sogar dem Himmel ein Stückchen näher."
Da mussten beide Männer lachen.
"Herr von Berensiel, das ist eine gute Idee. Das werde ich eines Tages bestimmt machen, eines Tages, wenn ich von hier weggehe, fort aus Werrentheim, das mir im Augenblick aber noch als Versteck dient. Doch frage ich mich immer noch, was Sie von mir wollen, was dieser Überfall soll?"
"Ich will, dass Sie zugeben, was Sie denken und wisst, zumindest mir gegenüber."
"Was meinen Sie?", fragte der Doktor unsicher.
"Ich habe die letzten Tage damit verbracht, mir ihre Berichte anzusehen", begann Erik. "Sehr akkurat haben Sie alles aufgeschrieben. Sie sind der Einzige gewesen, der alle Opfer der Bestie gesehen hat. Als ich das begriff, wurde mir klar, dass da etwas ist, was alle Toten verbindet. Sie haben es nicht in Worten aufgeschrieben, dafür sind Sie zu klug - ich verstehe jetzt auch besser, warum Sie das so tatet und nicht anders -, aber Sie haben es erkannt. Am Anfang war es mir nicht klar, doch dann habe auch ich es entdeckt."
"Was haben Sie entdeckt", fragte Friedrich Himmelblau, doch es war offensichtlich, dass er die Antwort kannte.
"Den Zusammenhang habe ich entdeckt."
"Und was ist dieser?"
"Dieser Zusammenhang ist meiner und ihrer Meinung nach Hass!"
Eine ganze Zeit lang war es still im Raum. Und dann begriff der Doktor, dass er zu lange
geschwiegen hatte, um zu widersprechen.
"Ja", seufzte er. "Das fiel mir gleich bei der kleinen Ida Ümmler auf. Und bei den anderen setzte es sich fort."
"Dann sind Sie also auch der Meinung, dass diese mordende Bestie nur eines antreibt, nämlich Hass, ein unstillbarer, unglaublicher Hass?"
"Ja, Herr von Berensiel, das glaube ich."
Erik nickte ernst.
"Sie und ich sind Menschen, die nicht an Gespenster, Hexerei, Fabelwesen oder Bösewichte aus Märchen glauben. Die gibt es nur in Geschichten. Dies ist aber keine Geschichte. Es ist das Leben. Ein Leben, in dem eine Bestie den Tod gibt. Ich frage euch, Herr Doktor, welches Tier kennen Sie, dass aus Hass und nicht, weil es überleben muss, tötet?"
Friedrich Himmelblau wagte es nicht aufzuschauen.
"Nur eines, Herr von Berensiel."
"Und das wäre?"
"Der Mensch!"
Man verabredet, sich an einem anderen Tag noch einmal zu treffen und die Berichte gemeinsam zu sichten. Doch zwei Fragen hatte Erik noch, bevor er sich verabschiedete.
"Wieso sind die Berichte bei ihnen gewesen und nicht in der Kanzlei des Grafen?"
"Der Graf hat alle Berichte gelesen. Zunächst nahm sie auch Brecht Killian an sich. Doch als die Fälle sich mehrten, wollte der Graf nichts mehr von all dem wissen. All das schmerzt ihn so sehr, dass er es leugnet. So gab man sie mir stets zurück."
"War Reinald Swindeg der einzige, der in einem Haus gemordet wurde?"
"Ja. Seltsam nicht?"
Zurück im Schloss schaute Erik zunächst nach Trudwin Ümmler. Er hatte ein wenig
zugenommen und seine Haut und seine Augen hatten ein wenig Farbe bekommen. Maja, die Frau von Karl Jülich - jene mit dem blassen Gesicht, dem zerzaustem schwarzen Haaren und dem großen Ernst in den Augen - kümmerte sich rührend um ihn. Weil ihm das etwas besonders schien, fragte Erik den Strohkarl.
"Maja ist die Schwester von Hilla Niederwalter. Deren Tod, der ihrer Nichte und ihres Neffen und der Selbstmord ihres Schwagers hat sie sehr getroffen. Und was sie trifft, trifft auch mich. Wir wollen, dass diese Bestie zu Strecke gebracht wird."
Ohne zu zögern legte Erik dem anderen seine Hand auf die Schulter.
Auf der Treppe auf dem Weg zu seinem Zimmer veranlasste ein leises Zischen Erik den Kopf zu drehen. Hinter einer alten Rüstung hatte sich Amarant versteckt. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, dann warf sie sich ihm an den Hals und küsste ihn. Seine Hände fuhren
durch ihr feuerrotes Haar.
"Hast Du ein wenig Zeit für mich?", flüsterte sie.
Da musste Erik tief durchatmen. "Nichts wäre mir lieber. Aber ich habe etwas erfahren und muss noch einmal die Berichte durchgehen."
"Oh, du kennst die Lösung?", fragte Amarant überrascht.
"Ich bin ihr auf der Spur", war Eriks Antwort.
"Na, dann werde ich wohl ausreiten müssen. Alleine ausreiten müssen."
Sie verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen, das Erik nicht zu deuten wusste. Aber Frauen hatte er noch nie besonders gut verstanden.
- Fortsetzung folgt -