Hallo lieber Leser,
der Roman "Sonja redet jetzt" wurde hier von mir schon einmal veröffentlicht, das ist Jahre her und ich erinnere mich leider nicht mehr an die Login Daten. Deswegen hier nun noch einmal...
Ich hatte an den Roman nicht mehr so viel gedacht, bzw auch nicht daran geglaubt, dass es etwas werden kann, es ist ein schwieriges Thema.
Nun habe ich mich aber wieder daran gemacht. Neue Kapitel folgen bald.
Liebe Grüße, eure Charlotte
Ich bin Sonja. Ich bin anders als andere Menschen und ihnen doch ähnlich. Ich denke wie sie, ich fühle wie sie, ich stehe wie manche von Ihnen bestimmt auch auf Musik von Nena und liebe Hunde und Pferde. Geschichten erzählt zu bekommen, ist für mich das Größte.
Ich bin nicht besonders hübsch, aber damit komme ich zurecht, denn den Spiegel bekomme ich nur selten zu Gesicht. Warum nicht? Weil selten einer auf meiner Höhe ist. Ich sitze nämlich nur- im Rollstuhl. Darum kann ich auch schwer beschreiben, wie ich eigentlich
aussehe. Braune Haare, die immer erwuschelt sind und hinten ein Nest aufweisen, weil ich mich an der Rollstuhl - Kopfstütze reibe. Braune Augen…meine Augen mag ich, weil sie sehr schön funkeln und viel ausdrücken können. Ich bin ziemlich klein, es ist schwer das genau zu bemessen. Aufrecht stehen ist mir nicht möglich. 26 Jahre bin ich schon alt. Ich habe einen richtigen Schulabschluss und ich bin auch gar nicht allzu dumm. Es gibt da nur ein kleines ABER: Ich bin schwer mehrfachbehindert. Das wollte ich euch nur gleich von vorne weg
erzählen. Denn für die meisten Menschen zählt das am Meisten, wenn sie von mir sprechen. Für mich selbst eigentlich gar nicht so sehr. Ich kann so einiges ziemlich gut. Zum Beispiel zuhören. Das ist aber mein Geheimnis. Kein freiwilliges, da ich kein Wort reden kann und deswegen keinem erzählen kann, dass ich im Kopf relativ fit bin. Die meisten Gespräche verstehe ich, solange die nicht mit Fachausdrücken und schweren Formulierungen um sich schmeißen, die Erwachsenen. Viele setzen, wenn sie mich sehen, einfach voraus, dass ich nicht viel
mitbekomme. Es ist sicher auch erstmal etwas einschüchternd und für manche befremdlich, wenn sie mir das erste Mal begegnen. In meinem Rollstuhl, mit abgeknickten Händen und Beinen, kaum in der Lage mich zu bewegen, oft sabbernd, weil mir keiner den Mund abgewischt hat. Dabei freue ich mich immer so sehr, wenn mir jemand freundlich und normal entgegenkommt und womöglich sogar ein Wort an mich richtet, wie er es auch bei jedem anderen tun würde. Das passiert auch gelegentlich. Allerdings eher
selten. Nach 26 Jahren, die ich nun schon erlebt habe, habe ich nun beschlossen, meine Geschichte zu erzählen. Es ist nicht immer, aber doch oft, eine schöne Geschichte. Ich will der ganzen Welt zeigen, dass man vor mir oder anderen die “anders” wirken, keine Angst oder Scheu haben muss. Ich fände es toll, wenn ich wenigstens einem mit meiner Geschichte seine Skrupel nehmen könnte. Ich möchte aber, bevor ich gleich loslege, unbedingt noch erwähnen, dass ich kein Mitleid von euch möchte. Wer will schon gerne Mitleid erwecken.
Nehmt mich so wie ich bin und begleitet mich ein Stück auf meinem Weg. Ich bin wirklich ein total fröhlicher und offener Mensch und ich fände es schön, wenn ihr mich trotz manchen meiner Schilderungen über meinen Zustand auch so wahrnehmen könntet: Ich habe zum Beispiel viele Hobbies. Ich liebe Musik, Baden, Hörbücher, das Tanzen…und wenn mir jemand etwas vorliest oder ich mit jemandem in Ruhe quatschen kann. Das wusste ich selber nicht, dass ich quatschen kann! Aber seit ich Anne kennen gelernt habe, meine Pflegerin, die mittlerweile meine
Freundin geworden ist und die mir gezeigt hat, wie ich mich super verständigen kann, auch ohne zu reden, bin ich ein anderer Mensch geworden. Doch das erzähle ich euch im Laufe meiner Geschichte noch genauer.
Bevor ich nun richtig loslege, muss ich noch kurz erklären, wie es eigentlich damals geschehen ist, dass ich so geworden bin. Bei meiner Geburt war die Nabelschnur um meinen Hals gewickelt. Dies muss nicht unbedingt schlimm sein. In meinem Fall jedoch wurde es von den Ärzten zu spät bemerkt. Ich hatte längere Zeit keinen Sauerstoff bekommen und war deswegen viel zu lange unterversorgt gewesen. Mein Gehirn hat davon einen ganz schönen Schaden davongetragen- meine Gliedmaßen wollen auch nicht mehr so
wie ich es gerne hätte- fragt mich bitte nicht, wie der Fachausdruck meiner Behinderung lautet, denn den vergesse ich ständig wieder, weil er mir nicht so wichtig ist. Anderen Menschen aber schon. Manchmal frage ich mich allerdings, ob sie nur wissen, wie meine Behinderung genannt wird, oder auch Wert darauf legen, was es bedeutet. Tatsache ist: Ich kann nicht laufen und außer meinen Armen und meinem Kopf nichts an meinem Körper selber bewegen. Meine Arme sind allerdings anders geformt als andere Arme und es
ist jedesmal eine Anstrengung, etwas mit ihnen anzustellen. Außerdem kann ich nicht sprechen, nur ein paar Laute kann ich von mir geben. Ich selbst finde diese Laute eigentlich immer recht eindeutig, aber andere Menschen scheinen sie oft völlig mißzuverstehen. Da schreie ich zum Beispiel vor Begeisterung auf und und alle erschrecken sich und denken, ich hätte irgendein Problem. Essen und Trinken geht natürlich auch nicht alleine, meine Speiseröhre ist kaputt, alles muss püriert werden. Gar nicht zu sprechen von sonst welchen Betätigungen, die für andere Menschen ganz normal zum Leben gehören wie
Klamotten anziehen, Schuhe zubinden, hüpfen, laufen, lesen, einen Hund streicheln… Manchmal habe ich ganz komische Anfälle, bei denen sich dann meine Augen verdrehen und alles sich ganz steif anfühlt. Diese Anfälle sind eigentlich das Schlimmste an der ganzen Sache. Ich habe mich dann überhaupt nicht mehr unter Kontrolle, meine Augen sind total verdreht, ich zittere ganz arg und man kann mir nur noch helfen, indem man mir Tabletten namens Diazepam verabreicht. Das nennt man wohl epileptische Anfälle. Bei mir kommen die völlig unberechenbar,
meistens ungefähr ein bis zweimal pro Woche. Das fühlt sich im Kopf immer an als würde etwas ausklinken und ich würde total meine Kontrolle verlieren. Ich kann mich dann auch nie erinnern, was in der Zeit passiert ist,wo ich den Anfall hatte. Auf jeden Fall ist es wie ein Blackout. Danach bin ich immer total müde und muss erst mal ein paar Stunden schlafen. Meine Mama und Anne werden dann immer ganz hektisch. Ich habe mal gehört, dass Mama zu Anne einmal gesagt hat: "Ich habe immer richtig Schiß, wenn Sonja einen Anfall hat! Theoretisch könnte sie daran sterben. Sie könnte sich verschlucken und keine Luft
mehr bekommen." Anne hatte damals darauf erwidert: "Frau Engel, wenn wir rechtzeitig eingreifen, kann da nichts passieren. Am Besten ist es, sie bleiben ganz ruhig. Das überträgt sich auch auf Sonja." Eine peinliche Sache fällt mir zu meiner Behinderung noch ein und ich habe lange mit Anne diskutiert, ob wir das in dem Buch erwähnen sollen. Ich habe mich dann aber für die absolute Ehrlichkeit entschieden: Ich bin inkontinent, das heißt ich trage eine Windel. Und ich sabbere viel, das muss man dann ständig vom Kinn weg wischen. Ich
gerate ganz oft in Situationen, wo mir das ganz unangenehm ist. Ich treffe jemanden das erste Mal und habe Sabber am Kinn hängen. Ich selber bekomme meine Arme nicht so hoch, dass ich da dran käme, und meine Hand ist wie eine Faust geballt, die kann ich auch nicht öffnen...und ich habe das dringende Bedürfnis, diesen blöden Sabberfaden da weg zu machen. Ich hasse dieses Gesabber. So, das waren, denke ich, die wichtigsten Fakten meiner Behinderung. Kurz zusammengefasst: Bei allen menschlichen
Grundbedürfnissen benötige ich Hilfe von anderen. So betitelt man mich in der Regel als "Schwerstmehrfachbehindert". Dieser Stempel prägt mein ganzes Leben. Im Vordergrund steht nie, wie es mir geht, was ich gerne machen würde, was mir gefällt oder mit wem ich meine Zeit verbringen möchte, sondern fast ausschließlich, wie ich gepflegt werden soll, ob ich richtig in meinem Rollstuhl sitze, ob ich genug schlafe, welche Tabletten für meine Behandlung nötig sind oder ob ansonsten noch etwas zu meiner Betreuung beigetragen werden
kann. Das meinen die Menschen um mich herum nur gut. Ich freue mich auch wenn mir jemand hilft. Aber natürlich habe auch ich das Bedürfnis, mich wie jeder andere Mensch über ganz normale Dinge zu unterhalten wie zum Beispiel was ich gerade gerne höre was ich im Fernsehen geguckt habe wo ich spazieren war und so weiter und so fort. Die Meisten, die sich überhaupt mit mir beschäftigen (der Großteil geht Menschen wie mir von vorne herein aus dem Weg), wollen aber oft nicht glauben, dass ich viel mehr mitbekomme, als sie
mir anscheinend zugestehen. Das ist das, was für mich schwierig ist. Sie liegen teilweise so falsch, dass ich manchmal am liebsten laut schreien würde. Das tue ich manchmal sogar auch. Wäre Anne nicht in mein Leben getreten, und hätte mich gefragt, ob ich es ihr erlaube, meine Geschichte aus meiner Sicht zu erzählen, hätte ich auch niemals eine Möglichkeit gehabt euch diese ganzen Dinge so mitzuteilen. Anne ist eigentlich wie ein Geschenk des Himmels in mein Leben getreten. Eines Tages fragte sie mich dann plötzlich: „Sonja wie fändest du es, wenn
wir deine Geschichte einfach aufschreiben würden?“ Ich war davon ziemlich überrascht und wusste nicht wie sie das meinte. Sie sah meinen ratlosen Blick und erklärte mir dann, dass sie gerne versuchen würde, aus meiner Sicht mein Leben aufzuschreiben und es anderen zu erzählen. Da sie mich nach Jahren als meine Pflegerin sehr gut kannte, konnten wir da prima zusammen arbeiten: Sie las mir dann die in verschiedenen neuen Abschnitte vor und ich kommentierte es durch Nicken, Stirnrunzeln, wenn etwas nicht stimmig war oder Kopfschütteln wie ich das gerade fand und ob es richtig war, was sie geschrieben hatte. Sie gab sich dann
immer sehr viel Mühe, auf die richtige Lösung zu kommen und alles so zu schreiben, dass es absolut passte. Und am Ende hat alles gepasst. Das war meine Möglichkeit, einfach einmal alles zu erzählen, was ich schon immer an Gedanken und Gefühlen gehabt hatte und was ich so gerne anderen mitgeteilt hätte. ich bin unendlich dankbar, dass es solche Menschen wie Anne gibt, die sich um mich kümmern, die freundlich oder auch liebevoll zu mir sind und die mir ermöglichen, wenigstens einen kleinen Teil meines Lebens wie ein normaler
Mensch verbringen zu können. Und zum Glück gibt es auch ganz viele solcher tolle Menschen, die nicht mit mir reden, als wäre ich ein Kleinkind, die nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden, was für mich das Beste ist, die mich gleichwertig behandeln, ganz auf Augenhöhe. Wie Anne. Und meine Mama lernt das auch noch. Die Frage ist für mich einfach: Muss ich für jede Zuwendung von Menschen, die sich mit mir beschäftigen, uneingeschränkt dankbar sein, ohne meine Unzufriedenheit äußern zu dürfen? Das Gefühl habe ich nämlich manchmal!
Und habe ich schon aufgrund meiner Einschränkungen die Pflicht,, glücklich zu sein, dass ich überhaupt am Leben bin? Das verstehe ich nicht. Es ist aber ein häufiger Gedanke von "normalen" Menschen, das weiß ich, denn ich habe den Satz so oder etwas verändert schon manche sagen hören. Ich bekomme viel mehr mit als viele denken würden. Und ich kann auch viel mehr. Ich hasse es, wenn Menschen meinen, dass das Leben für mich eine Qual sei und ich vielleicht besser gar nicht erst geboren wäre. Das stimmt nämlich einfach nicht
und bei meinen Freunden die ich hier im Heim kennengelernt habe, stimmt das auch nicht. Wir haben so viel Spaß am Leben wir lachen viel und amüsieren uns zusammen und mit unseren Betreuern. Wir sind oft auf Partys, wir feiern Karneval und Weihnachten und Geburtstage. Wir kriegen hier Bücher vorgelesen, wir arbeiten in Werkstätten, wir unterhalten uns auf unsere Art und wir bekommen Unterstützung dabei, uns auszudrücken und unsere Bedürfnisse mitzuteilen. Wir mögen fast alle zum Beispiel gerne Schlager und feiern auf Partys richtig ab. Viele Betreuer haben coole Mooves mit unseren Rollstühlen drauf und wir haben riesen
Spaß! Und da behaupten die Leute wir, bekommen nichts mit? Und es wäre besser gewesen, uns nicht mit dem Leben zu quälen? Die wissen einfach nicht was sie da sagen. Da sollen sie sich doch erstmal einfach einen Tag mit uns näher beschäftigen. Jeder von uns hat seine eigenen Vorlieben und seine eigenen Hobbys und die können wir hier bei uns auch ausleben. Wenn wir mal wieder nachmittags zum Bummeln in der Stadt sind und wieder Leute auf die andere Straßenseite gehen und ihre Kinder
warnen, nicht mit uns zu sprechen, dann haben sie uns hier beigebracht, darüber einfach hinweg zu sehen und sich zu denken: diese Menschen wissen es nicht besser. Das ist einfach Angst und Unsicherheit. Ich hoffe, dass ich mit dieser Geschichte einigen Menschen diese Angst nehmen kann. Wir freuen uns, wenn man mit uns spricht und wir lernen alle gerne neue Leute kennen. So, hier ist nun der Punkt gekommen, in meine Geschichte einzusteigen. Beginnen tut sie im Haus meiner Eltern und enden in einem Wohnheim für
schwerstmehrfachbehinderte Menschen wie mich. Dort werde ich wohl für immer bleiben. Und darüber bin ich meistens froh. Hier habe ich Freunde gefunden und eine zweite Familie. Aber beginnen wir von vorne!
Was nun folgt, daran kann ich mich natürlich nicht selber erinnern. Als Anne auf die Idee kam, „mein Buch zu schreiben“, sprach sie deswegen auch viel mit meiner Mama, gerade über die ersten Jahre. Da erfuhr ich selber auch noch vieles, was ich noch nicht gewusst hatte! „Erzählen Sie, was Sie möchten und können, Frau Engel,“ hatte Sonja zu meiner Mutter gemeint und diese, froh darüber sprechen zu können, hatte bereitwillig und ausführlich Einblick gewährt.
Meine Mama und mein Papa waren
natürlich geschockt, als ihnen das Ausmaß meiner Behinderung nach meiner Geburt erläutert wurde. Im Laufe der Schwangerschaft war ja alles noch in bester Ordnung gewesen. Jeder Ultraschall war absolut unauffällig. Sie hatten sich, wie das alle Eltern tun, auf ein gesundes, hübsches Baby eingestellt. Nun hatten sie stattdessen mich. Ich würde nicht krabbeln, nicht laufen und nicht sprechen können, wie ihnen der freundliche Stationsarzt erklärte.
Auch sonst würde ich einem normalen Kind nicht viel ähneln. Das sahen sie schon, als sie mich nach der Geburt das erste Mal im Arm halten durften.
Vorher war ich schon viele Stunden lang auf der Intensiv Station behandelt worden, um mein Leben zu retten. In der Zwischenzeit hatte man meine Eltern dann aufgeklärt, was geschehen war. Sie standen unter Schock. Meine Mutter weinte und erklärte mehrere Male, dass doch während der Schwangerschaft alles okay war, ob da nicht ein Irrtum vorliegen könnte.
Der Arzt, der wirklich sehr mitfühlend war, sagte bedauernd zu ihr: „Frau Engel, Ihre Tochter hatte über mehr als eine Minute hinweg keinen Sauerstoff, da kann vorher alles noch so okay gewesen
sein, jetzt ist es das aber leider nicht mehr.“ „Aber vielleicht wird es ja wieder?“ fragte meine Mutter hoffnungsvoll. „Da gibt es doch bestimmt Therapien oder sowas?“ Der Arzt erklärte: „Das können wir momentan noch nicht wissen. Es könnte sein, dass sich das Gehirn noch ein stück weit erholt und auch andere Therapien möglich sein werden.“
Mein Vater saß nur still da und starrte vor sich hin. Ihn anzusprechen war hoffnungslos. Meine Mutter strich ihm tröstend über den Arm, obwohl sie selber dringend Halt und Trost gebraucht hätte und sagte zu ihm: „Wir schaffen das,
Wolfgang. Wir werden Sonja trotzdem lieben, sie ist unsere Tochter.“ Er reagierte nicht. Da ging die Tür auf und eine Schwester trug mich herein. Ich war in ein weißes Krankenhaushandtuch gewickelt. Meine Mutter streckte ohne zu zögern die Arme aus und zog mich an sich.
Schon als Neugeborenes waren meine Behinderungen kaum zu übersehen. Doch meine Mutter war, so erzählte sie es, von ihrer Liebe zu mir überwältigt. Sie schaute mir in die Augen und sagte: „Hallo, kleine Sonja. Ich bin deine Mama, die, die immer so viel mit dir geredet hat.“ Für sie waren meine
Behinderungen von Anfang an kein Grund, mich nicht liebzuhaben. Mein Vater brachte es nicht über sich, mich in den Arm zu nehmen. Meine Mutter wollte mich ihm geben, da sagte er: „Es tut mir leid, Greta, ich kann das einfach nicht.“ Meine Mutter blickte ihn an und fragte leise: „Möchtest du sie denn gar nicht genauer anschauen?“ Er zuckte die Schultern und erwiderte: „Das kann ich doch auch, wenn sie bei dir auf dem Arm bleibt, oder?“
Meine Mutter wollte ihn nicht weiter unter Druck setzen und schwieg. Bloß keinen Streit jetzt, so kurz nach der Geburt. Er würde sich sicher an mich
gewöhnen und mich dann genau so liebhaben, wie sie mich schon jetzt lieb hatte. Doch sein Verhalten verletzte sie sehr.
Nach fünf Wochen im Krankenhaus, über die man, wie meine Mutter sagte, ein eigenes Buch schreiben könnte, durften sie mich mit nach Hause nehmen. Sie bekamen Adressen von Hilfsorganisationen mit. Meine Mutter meinte, heutzutage hätte es da sicherlich noch mehr Unterstützungsangebote gegeben, aber ich bin nun schon 26 Jahre alt und damals war alles noch etwas anders.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Meine Eltern fügten sich in das Unvermeidliche und versuchten, mich so zu nehmen wie ich bin. Das versuchten sie wirklich. Doch ich habe eine feine Intuition und nahm sehr wohl die Blicke wahr, die sie austauschen, wenn sie meinten, ich würde es nicht sehen. Sie stritten auch oft. Meine Mutter fühlte sich unverstanden. Und mein Vater brachte es nicht über sich, mich zu halten oder sich anderweitig mit mir zu beschäftigen.
„Versuch es doch wenigstens“ sagte meine Mutter immer wieder, aber er weigerte sich. Oft verließ er dann einfach die Wohnung und war
stundenlang weg.
Meine Mutter weinte oft. Wie gut erinnerte sie sich noch an die Blicke der Menschen, die in meine Kinderaugen schauten und mit gespieltem Mitleid zu ihr sagten: „Da haben sie es aber schwer, Frau Engel! Ich weiß nicht, ob ich damit klarkommen würde". Meine Mutter lächelte dann immer tapfer und sagte "nun ist Sonja da und wir müssen lernen, zu akzeptieren, dass sie anders ist als andere Kinder". Wahrscheinlich dachte sie sich bei diesem Satz nichts weiter und kam nicht auf die Idee, dass ich mich gerade durch ihre Aussage isoliert von der Außenwelt fühlte.
Ich habe mir als ich größer wurde im Nachhinein immer gewünscht, das sie wenigstens einmal gesagt hätte: "Das ist meine Tochter und ich bin stolz auf sie, egal ob sie anders ist oder nicht. Also ersparen Sie sich in Zukunft bitte solche und ähnliche Kommentare!“
Ich weiß, das ist viel erwartet, denn meine Mutter litt ja anscheinend. Und ich denke, dass sie einfach auf eine solche Antwort gar nicht gekommen ist. Darum tat sie mir meistens leid, denn ich mag es bis heute nicht, wenn sie leidet. Da fühle ich mich auch immer etwas schuldig. Und ich glaube, dass Leute, die
solche Sätze sagen, das auch im Grunde gar nicht böse meinen und sich einfach keine Gedanken darüber machen, wie sich „behinderte“ Menschen wie ich dabei fühlen. Viele gehen bestimmt davon aus, wir bekommen es sowieso nicht mit.
Meine Mutter versuchte, aus der Situation das Beste zu machen. Aber mein Vater kam mit mir gar nicht zurecht. Ich kann mich kaum erinnern, dass er einmal mit mir gesprochen hätte oder sich anders mit mir beschäftigt hätte. Erinnern kann ich mich aber daran, dass er ständig weg war und ich eigentlich gar nicht wusste wer er genau
ist. So wuchs ich also bei meinen Eltern heran. Und es änderte sich auch nach einem Jahr nicht viel an der Situation.
Meine Mutter kümmerte sich ganz rührend um mich und tat alles, was sie pflegerisch für mich tun konnte. Ich merkte zwischendurch immer wieder, wie sehr sie mich lieb hatte.
Meinen Vater sah ich nur selten, denn er war immer "unterwegs". Oft fragte ich mich als Kleinkind, was "unterwegs" wohl heißt, doch ich konnte ja nicht sprechen und die Laute, die ich zur
Verständigung zu benutzen versuchte, wurden nur in den seltensten Fällen verstanden und wenn dann leider meistens falsch.
Ich hoffte auf jeden Fall, dass mein Vater nicht erst so oft "unterwegs" war, seit ich da war.
Aus meinem Handicap (das Wort mag ich lieber als “Behinderung”) folgte natürlich, dass ich einen Rollstuhl bekam. Ich kann auch wie ihr schon wisst nicht sprechen, sondern mich nur durch Laute verständigen. Die hören sich so ungefähr wie ein Gurgeln an. Ich lernte deshalb, zu versuchen, den
richtigen Blick im richtigen Moment aufzusetzen und zu hoffen, dass dieser dann richtig gedeutet werden würde. Meistens hatte ich aber das Gefühl das klappte nicht...wenn ich zum Beispiel keine Lust auf Essen hatte (das war immer nur püriert, da auch meine Speiseröhre perforiert ist und das Zeug war irgendwie immer braun, egal welche Farbe es vorher hatte…manchmal hatte ich darauf einfach keine Lust…), dann drehte ich halt mit den Augen. Meine Mutter meinte aber, ich wolle sie nur ärgern und sagte Sachen wie "Sonja, du weißt dass du essen musst".
Sie gab sich ja auch Mühe mit der
Zubereitung, aber ich weiß nicht, ob ihr schon oft püriertes Essen gegessen habt...man sagt doch immer „Das Auge isst mit“. Und ich weiß nicht wie ihr es fändet, wenn ständig der Salat mit der übrigen Mahlzeit und dazu mit Milch, Wasser oder Sahne zum Verdünnen, zusammen gematscht wäre. Ich hätte zum Beispiel viel gegeben für einfaches Apfelmus oder Kartoffelpüree als Alternative...aber das konnte ich ja nicht sagen. Außerdem wollte meine Mutter immer alles perfekt für mich machen und das wäre wohl unter ihrem Niveau gewesen. Woher sollte sie auch wissen, warum ich die Augen so komisch
verdrehte? Außerdem weinte sie ja sowieso schon so oft.
Und weil ich außerdem ja meistens so Hunger hatte, aß ich eben meistens, was sie mir anreichte...pürierte Pizza, püriertes Fleisch mit Gemüse... und alles andere mögliche was es eben gerade gab. Und dazu immer die blöde Schnabeltasse, die viel zu weit unter meiner Zunge steckte...puh! Da kriegte ich meistens einen ganz dollen Würgereiz von! Ich war mir eigentlich ganz sicher, dass die unnötig war, aber der Arzt hatte sie meiner Mutter empfohlen.
Aber ich wollte mich jetzt auch nicht unnötig über mein Essen auslassen. Auch nicht über meine Mutter. Es war mir ja klar, dass sie darunter litt, dass ich nicht singend und tanzend durch den Garten hüpfte und mit meinen Freunden Verstecken spielte.
Und dass sie ihr gesamtes Leben für mich umgekrempelt hat. Okay, dass hätte sie auch bei einem "normalen" Kind gemusst, aber ich denke, ich brauchte (und brauche immer noch) mehr Zuwendung und vor allem Pflege als andere Kinder.
Ich wäre auch gerne gewesen wie andere Kinder. Furchtbar gerne sogar. Die konnten so schön sprechen und singen und lachen und rennen…
Obwohl auch ich trotz allem kein missmutiges Kind war. Ich hatte eine Menge Spaß in meinem Leben und lachte ganz viel und oft. Wenn jemand nett zu mir war und sich für mich Zeit nahm, machte mich das sehr glücklich. Oft dachte ich mir auch selber lustige Sachen aus oder beobachtete Menschen, die sich lustig verhielten, dann musste ich auch immer lachen! Am schönsten war es immer, wenn Oma und Opa da waren.
Opa war eigentlich der Einzige, der mich nicht wie ein rohes Ei behandelte. Und Oma half Mama immer viel und das tat Mama gut, auch wenn sie das nicht zugeben wollte, dass sie im Grunde vielleicht auch Hilfe gebraucht hätte.
Und ich hörte gerne Musik und Geschichten auf meinem CD Player. Manchmal hörte ich allerdings tagelang die gleiche CD, weil sie einfach immer wieder von vorne angemacht wurde! Ich glaube die Leute denken manchmal wirklich ich bekomme das sowieso nicht mit.
Bei unseren Nachbarn wohnten
Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge, die waren ein Jahr älter als ich. Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Rollstuhl im Garten saß und sie beim Spielen beobachtet habe...da kamen viele Gefühle in mir hoch, Sehnsucht und auch ein bisschen Neid auf die beiden wenn ich ganz ehrlich bin, weil sie so toll laufen und sprechen konnten und weil ihre Mutter immer so stolz auf sie war und sie so oft in den Arm nahm.
Die Mutter hatte wohl auch ihren Kindern gesagt, sie sollten nicht mit mir spielen...ich habe mal so ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihr belauscht. Da hat sie über irgendeinen
Einfluss gesprochen, den ich auf ihre Kinder hätte, aber genau habe ich nicht verstanden worum es ging. Meiner Mutter war es auf jeden Fall seitdem unangenehm, wenn ich im Garten saß und ich wurde nicht mehr so oft auf die Wiese geschoben, wenn die Zwillinge draußen spielten.
Meine Mutter hätte glaube ich am liebsten darauf verzichtet, mich in einen Kindergarten zu stecken. Ich weiß nicht warum, doch ich vermute, dass sie einfach Angst hatte, ich könnte ausgelacht und gehänselt werden. Was ich sicher wusste, war, dass es ihr sehr schwer fiel, sich von mir zu trennen und mich jemand anderem anzuvertrauen. Das hatte sie zu Oma gesagt. „Dann ist Sonja jeden Tag so lange weg! Ich hoffe, dass sie da gut mit ihr umgehen können und sie etwas Vernünftiges zu essen bekommt!“ Meine Oma antwortete
gelassen: „Ach, mach dir doch keine Sorgen, Kind! Die haben das gelernt, das sind ausgebildete Fachkräfte. Die werden das schon schaffen mit Sonja!“ Entschieden hatte meine Mama sich für einen integrativen Waldorfkindergarten, das sagte mir nichts, aber sie sagte das sei toll, denn dort seien noch mehr Kinder "wie ich" und ich würde mich nicht so alleine fühlen. Ich freute mich auf die anderen Kinder und den Kindergarten. Endlich würde ich jemandem zum Spielen haben. Klar war es toll, mit meiner Mama Zeit zu verbringen, aber sie war erwachsen und ich wollte nun endlich mit anderen
Kindern spielen! Das wünschte ich mir schon so lange. Am Telefon hörte ich meine Mutter zu einer Freundin sagen "vielleicht hat das Ganze ja doch etwas Gutes, denn so habe ich mal wieder ein bisschen Zeit für mich". Ja, sie hatte wenig Zeit. Sie war ja immer mit mir beschäftigt. Das würde ihr sicher gut tun. Der erste Tag im Kindergarten war toll. Schon als meine Mama mich aus dem Auto hob und ich das Haus sehen konnte, war ich begeistert. Es war bunt angemalt und über dem Eingang war ein großes Bild von Pipi Langstrumpf gemalt, wo
sie auf ihrem Pferd, kleiner Onkel, ritt und lachte. Ich kannte sie gut. Meine Mama hatte mir ganz oft Geschichten von ihr erzählt. Sie war stark, mutig und interessierte sich nicht dafür, was andere von ihr hielten. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Meine Mutter lächelte und sagte: „Das habe ich mir gedacht, dass dir das gefällt!“ Sie setzte mich in meinen Rollstuhl. Extra für diesen Tag hatte sie für die Räder bunte Perlen gekauft, die man auf die Speichen fädeln konnte. Das sah toll aus und klackerte so lustig. „Dann wollen wir uns mal den
Kindergarten anschauen!“ sagte meine Mama und rollte mich den langen Weg mit den großen Bäumen am Rand entlang zum Eingang. Eine Frau uns entgegen. „Hallo, sie müssen Familie Engel sein. Und du bist dann sicher die Sonja!“ Sie lächelte mir zu. „Ich bin Nicole, ich werde mich hier um dich kümmern.“ Sie war sehr nett. Und riesig! Bestimmt einen Kopf größer als meine Mama. Und die war schon groß! Sie hatte die Haare so schön geflochten, das gefiel mir! Und eine schöne bunte Spange hatte sie auch. Ihre Augen funkelten lustig. "Darf ich?" fragte sie meine Mutter, nahm ihr den Rollstuhl ab und schob
mich hinein in das große, schöne Haus. Ich fühlte mich gut. So als sei ich hier genau am richtigen Ort. Die ersten Tage würde meine Mutter noch mitkommen, hatte sie gesagt. Darüber war ich auch froh, es war alles so neu und aufregend hier. Aber alle waren nett zu mir und wollten gleich wissen wie ich heiße. Es waren auch noch ein paar andere neue Kinder da und die meisten davon wirkten wie ich noch etwas schüchtern. Es gab auch ganz "normale" Kinder. Sie sahen zumindest ganz normal aus. Und die schienen sich nicht daran zu stören,
dass einige von uns anders waren. Auch die Eltern von den anderen neuen Kindern waren ganz lieb. Die fanden anscheinend nicht, dass ich ein schlechter Einfluss war für ihre Kinder. Das tat mir gut. Es gab noch ein anderes Mädchen, sie hieß Emma, die auch im Rollstuhl saß. Zwei Mädchen kamen zu uns hin und wollten meine Rollstuhl- Klackerperlen begutachten. Die Erzieherinnen, so hießen die, die sich um uns kümmern würden, das hatte meine Mama mir erzählt, waren auch ganz nett und hilfsbereit zu uns. Nach und nach kamen alle zu mir hin und erzählten, wie sie hießen und was sie im
Kindergarten machten. Eine war die Köchin, eine putzte dort immer und viele waren immer bei uns Kindern und spielten mit uns. Nicole blieb immer an meiner Seite und redete viel mit mir. Einmal bemerkte sie, dass bei mir das Sabbern wieder angefangen hatte, und ganz selbstverständlich nahm sie ein Taschentuch und wischte es weg. Das fand ich prima, dass sie das gemerkt hatte. Ich war schon ganz verzweifelt gewesen, als ich gemerkt hatte, dass es wieder anfing, denn ich wollte nicht, dass das alle sahen.
„Möchtest du gerne bei den Mädchen mitspielen, Sonja?“ fragte sie mich, denn sie hatte bemerkt, dass ich eine Gruppe beobachtet hatte, die gerade mit schönen Stoffpuppen spielte. „Da möchte Sonja bestimmt gerne mitmachen!“ sagte meine Mama erfreut. Auch ihr schien es hier gut zu gefallen. Nicole schob mich zu den Mädchen hin. Es waren auch die beiden dabei, die sich so für meine Perlen interessiert hatten. Sofort kam eine zu mir und drückte mir eine besonders schöne Puppe in die Hand. „Die heißt Erika“ sagte sie. Sie hatte mir einfach so die Puppe in die Hand gedrückt! Und auch mit meiner Fausthand konnte ich sie super
festhalten. Ich fühlte mich sehr glücklich. Es war schön, mit Kindern zu spielen. Und sie mochten mich gerne, das merkte ich. Es machte ihnen auch gar nichts aus, dass ich nicht reden konnte. Wir spielten dann, dass wir den Puppen etwas kochten und sie fütterten. Als meine Mama sagte, dass wir nun gehen müssten, war ich ganz enttäuscht. Ich hatte hinterher gar nicht gemerkt, dass sie noch da war. „Morgen kommst du wieder, Sonja“, verabschiedete sich Nicole. Ich konnte es jetzt schon kaum erwarten. Meine Mama war immer an meiner Seite
geblieben. Ich glaube sie hatte sich auch für mich gefreut, dass ich so schön spielen konnte. Bei den Leuten im Kindergarten hatte ich auch nicht das Gefühl, dass ich eine Belastung sein könnte. Die Zeit in der Villa Kunterbunt wurde eine der schönsten meines Lebens. Wir spielten ganz viele tolle Spiele, gingen viel nach draußen in den Garten oder einmal in der Woche auch in den Wald. Den genoss ich sehr, denn zu Hause gingen wir ja nur noch selten spazieren. Ich wurde im Kindergarten auch
"gefördert." Da kam eine Frau, die stellte mich in ein Gerät hinein. Das erste Mal konnte ich aufrecht stehen. Sie schob mich darin herum. Am Anfang hielt ich das nicht lange durch, es war sehr anstrengend für mich, die Balance zu halten. Aber mit der Zeit wurde es besser und ich konnte manchmal durch den ganzen Kindergarten laufen! Eine andere Frau übte mit mir die "Lautbildung", wie sie erklärt hatte, da sollte ich lernen, mich mit anderen zu verständigen. Das Essen im Kindergarten mochte ich auch, die Köchin zauberte immer leckere Sachen für uns Kinder. Natürlich musste es für mich püriert werden. Aber daran war ich mittlerweile gewöhnt.
Ich war jeden Morgen schon ganz früh wach, weil ich mich so auf den Kindergarten freute. Keiner behandelte mich anders als die anderen und keiner machte sich über mich lustig. Sogar Freunde habe ich gefunden. Ein Mädchen, Mona, war fast genauso alt wie ich. Sie saß auch im Rollstuhl und konnte nicht sprechen und essen. Ich war oft bei denen zu Besuch oder sie bei uns. Meine Mama wirkte viel entspannter und kam mit Monas Mama oder manchmal auch den anderen Müttern immer öfter ins Gespräch. Das tat ihr
gut, dieser Austausch. Meine Mama ist ein zurückhaltender Mensch und sie tut sich schwer, Freunde zu finden. Aber hier gehörte auch sie dazu. Einmal sagte eine der Erzieherinnen ziemlich am Schluss der Kindergartenzeit zu mir: "Lass dir niemals erzählen, du seist nichts wert und du seist ja eh nur eine dumme Behinderte. Du bist ebenso viel wert wie jeder andere Mensch auch. Und du bist ein toller Mensch." Das war das Schönste, was je jemand zu mir gesagt hatte. Es würde mich ein Leben lang begleiten. Ich war richtig traurig, als die Zeit im
Kindergarten nach drei Jahren zu Ende war.