Kurzgeschichte
So viele meiner Sommer sind vorbei

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"So viele meiner Sommer sind vorbei"
Veröffentlicht am 15. Oktober 2016, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: MerleSchreiber
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.
So viele meiner Sommer sind vorbei

So viele meiner Sommer sind vorbei

So viele meiner Sommer sind vorbei...

Und wieder geht er, einer meiner Sommer. Er mag es spektakulär und zieht noch einmal alle Register, greift tief in die Schminkschatulle und überdeckt seine Altersflecken mit fulminanten 

Herbsterdtönen. Doch wenn man etliche Tage verstreichen lässt und dann noch einmal genauer hinsieht, dann kann dieser Farbenrausch über die untrüglichen Zeichen der Vergänglichkeit nicht mehr hinwegtäuschen. Es geht dem Ende zu. 

Mit einem letzten Kraftakt ziehen die Pflanzen in den palisadengesäumten Blumenbeeten ihr Blattgrün ein oder

werfen es wie eine zu schwer gewordene Last auf den, die Erde bedeckenden, Rindenmulch. Die Blätter, die der Wind gestern in einem Anfall von überbordender Spiellaune vom Haselnussstrauch gezerrt hat, legten sich während der Nacht wie ein wärmender Schal um die Graniteinfassungen, welche die Terrassenfliesen begrenzen.

Nichts bleibt, wie es war. Veränderung ist angesagt. Nur ein paar Immergrüne

lassen sich von dem unwiderruflich in Gang gesetztem Wandel nicht beeindrucken und versehen weiterhin

stoisch ihren Dienst an der Längsseite des Gartengrundstücks. Es sind hochgewachsene Diamantthujen, deren

stringenter Habitus an die Leibgarde des englischen Königshauses erinnert. Sie ficht der vorhergesagte kalte Trog des Polarwirbels nicht an, doch mir fährt jedes Wort des smarten Wetterfrosches in die Glieder und meine Gedanken suchen

unwillkürlich Zuflucht in der

Wärmeschutzkammer meiner Seele.

Und spätestens jetzt weiß ich, dass es an der Zeit ist, mir Holzscheite für den Kachelofen von der Scheune ins Haus bringen zu lassen. Mit jedem Jahr des Älterwerdens steigert sich mein Bedürfnis nach Wärme. Habe ich etwa

schon angefangen, alt zu sein? Oder gehöre ich schon längst zu den Alten und ich habe nur bewusst unbewusst die

Zeichen übersehen oder falsch gedeutet?

Nein, ich weigere mich, dies auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Obwohl - einige Merkmale des Altseins erfülle ich schon seit längerem,

denn ich bin hilfs- und pflegebedürftig. Und das nicht erst seit diesem Sommer. Da sind dann wohl die silbrigen Fäden, die mein Naturblond durchziehen, nur noch ein völlig unbedeutendes und zu vernachlässigendes Indiz. Mein Blick fällt auf die im Sonnenlicht glitzernden Spinnfäden im Gebälk des Hauswinkels. Ich erinnere mich an die Sage, dass die Fäden von Göttinnen stammen sollen, die für die Lebensfäden der Menschheit 

verantwortlich wären. Sie sollten älteren

Menschen, die an ihnen kleben blieben, Glück bringen. Eine schöne Vorstellung, aber - niemals komme ich an dieses Gebälk heran....


So viele meiner Sommer sind vorbei - wie viele Sommer werden es noch sein?  

Ich weiß es nicht, wie viele - doch ich werde jeden Sommer, den ich noch kriegen kann, wie ein Fest begehen.


Ja, aber was ist mit der Zeit dazwischen, wirst du mich jetzt fragen, was ist mit der Zeit zwischen deinen Sommern, mit dem Davor und dem Danach? 


Und ich werde dir antworten:

Vor dem Fest muss Alltag sein und hinterher auch wieder. Sonst ist ein Fest kein Fest, nichts Herausragendes, nichts Besonderes. Das ist wie beim Sex, ohne Schlechten wüsste man auch einen Guten

nicht zu schätzen ;-)

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MerleSchreiber
Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.

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Brigitte das hast du wieder so wundervoll geschrieben und auch ein wenig wehmürig. Auch mir ist so zumute wenn die Natur stirbt. Und ich freue mich schon wieder auf den Frühling. ganz liebe Grüße an dich Brigitte
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Deine Betrachtung kommt meinem Empfinden sehr nahe, liebe Merle. Zwar bin ich nicht pflegebedürftig, aber älter als du. Frage mich auch oft, wie viele Sommer es noch sein werden, vor allem zu zweit!
Wir versuchen zwischendurch immer wieder besondere Höhepunkte in den alltäglichen Jahresablauf zu setzen, sie zu kleinen Festen zu machen...
Versuchen wir einfach, jedem Tag das Beste abzugewinnen!

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Eine feine ´melancholisch angehauchte` Betrachtung der fortschreitenden Zeit, deren Auswirkungen auf Natur und Mensch. Ein Gleichnis der besonderen Art. Die ausgewogenen Formulierungen geben der von Dir gewählten Thematik Tiefe und unterstützen die Authentizität. Ein nachvollziehbarer Text, der mir sehr gefällt, liebe Merle.
Der letzte Satz nimmt der Geschichte die vermeintliche "Härte", doch ohne ihn hätte sie mir persönlich noch besser gefallen.
Alles in allem - großartig!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Bei mir gibt es keine Feste mehr ... es gibt nur noch das tägliche
Einerlei ... aber ich versuche jeden Tag irgendwie zu genießen ...
und das ist (noch) gut so.
Liebe Grüße und danke Dir für diese Zeilen
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber "Lebenskünstler ist, wer seinen Sommer so erlebt, dass er ihm noch den Winter erwärmt." Alfred Polgar
Dieses Zitat ist mir heute morgen schon untergekommen und ich finde es passt zu Dir und Deinen Geschichten, Gertraud.
Lass Dich wärmen von Deinen Erinnerungen (und uns gleich mit).
DANKE für Deinen Kommi!
Mit lieben Grüßen, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Ein sehr guter Sprich ... Danke Dir liebe Merle für Deine
nette Antwort und die Talerchen . hat mit wieder sehr gefreut.
Ganz liebe Grüße an Dich
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Das ist eine "merlemässig" starke Betrachtung des Lebens - speziell des Älterwerdens. Jedes Wort kann ich nachvollziehen, weil es so grundehrlich ist.
Und bevor man in Sentimentalität versinkt, holst du deine Leser mit dem letzten Satz zurück ans Licht. Sehr gekonnt! Daumen hoch.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Du sprichst das Thema Authentizität an, Sabine. Da gibt es ein so einfaches wie lehrreiches Zitat (Unbekannt):
"Ganz egal wie lange ein Baumstamm im Wasser liegt, er wird kein Krokodil werden."
Ich danke Dir für deinen Kommentar, den ich als sehr wertschätzend empfinde!!
Liebe Sonntagsgrüße zu Dir, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Luap Deine Gedanken kann ich gut verstehen, doch kann man durchaus dem Danach und Davor auch gute Seiten abgewinnen. Gestern habe ich eine meiner beiden Laternen repariert (Gläser waren kaputt) und freue mich nun auf die Vorweihnachtszeit, wenn sie wieder vor der Haustür stehen und am Abend darin die Kerzen flackern...

Liebe Grüsse
Paul
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Du hast recht, Paul. Auch das Davor und Danach birgt Schönes, Erfüllendes. Irgendwie hilft mir aber das Betrauern den Übergang besser zu schaffen.
Hab vielen Dank, herzliche Grüße von Merle
Vor langer Zeit - Antworten
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