Jugendbücher
Im Himmel gibt es keine Tränen - Leseprobe

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"Im Himmel gibt es keine Tränen - Leseprobe"
Veröffentlicht am 12. Oktober 2016, 252 Seiten
Kategorie Jugendbücher
© Umschlag Bildmaterial: Olga Drozdova - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Es ist gar nicht so einfach, Worte zu finden, mit denen ich mich beschreiben könnte. Also mache ich es ganz kurz: Ich habe die 43 überschritten, bin aber in meinem Herzen noch viel jünger (bilde ich mir wenigstens ein). Mein Geld verdiene ich als Erzieherin in einem evangelischen Kindergarten - jeden Tag eine Menge Storys. Ansonsten bin ich verheiratet, habe 3 Kinder und neben dem Schreiben noch andere Hobbys - fotografieren, lesen, reiten, ...
Im Himmel gibt es keine Tränen - Leseprobe

Im Himmel gibt es keine Tränen - Leseprobe

Prolog

Meine Patentante Annie hat einmal zu mir gesagt, dass man nie wieder jemanden so lieben wird, wie den einen.

Wenn man ihn verliert, wird es so sein, als wenn man sein Herz verliert.

Jetzt weiß ich, dass Annie Recht hatte.

Nie wieder würde ich jemanden so lieben können.

Nie wieder würde ich mein Herz verschenken können.

Ich würde es für mich behalten, fest verpackt in graues Papier, unscheinbar in eine dunkle Ecke meiner Seele gedrückt.

Versteckt, so weit hinten, dass es niemand finden kann.

Ich würde es für mich behalten, weil

man dieses einzigartige Geschenk nur ein einziges Mal jemandem überlassen konnte, der es wirklich verdiente.

Und keinem würde es je gelingen, dieses in graues Papier verpackte Etwas zu bergen.

Kapitel 1  

Das war es also gewesen, das berühmte erste Mal.

Doch da waren keine rosaroten Herzchen, die in der Gegend herumschwirrten, keine regenbogenfarbenen Seifenblasen, keine leuchtenden Himmelslaternen.

Da waren nur er und ich.

Und alles war eigentlich wie immer …

Ich drehte meinen Kopf vorsichtig zur

Seite und blinzelte im Licht der Morgensonne, die sich ihren Weg durch die hauchdünnen Gardinen in mein Zimmer bahnte, auf den Jungen neben mir.

Tom, der Traum aller Mädchen meiner Schule, lag da - in greifbarer Nähe.

Er war der unbestrittene Star der Schulfußballmannschaft. Und er war scheinbar völlig makellos, mit den blonden und stets gut gestylten Haare, dem durchtrainierten Sixpack, und selbst mit seinen großen Füßen, die da am Ende meiner Decke hervor schauten.

In diesem Augenblick war ich ganz froh, dass ich dieses Mal nicht die „One-Direction“-Bettwäsche gewählt hatte.

Nein, wir kuschelten unter der New-Yorker Skyline.

Jawohl (meine innere Prinzessin verschränkte zufrieden die Arme vor der stolzgeschwellten Brust und lächelte siegessicher) - dieser Traum von einem Typen lag hier zusammen mit mir unter meiner Decke.

Und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen - er schnarchte wie hundert Waldarbeiter.

Vielleicht war genau das der Grund, weshalb noch nie eines der anderen Mädchen ernsthaft bei ihm landen konnte. Die Peinlichkeit, dass eines von ihnen hinter sein Schnarch-Geheimnis kommen könnte, wollte er sich

anscheinend ersparen.

Nun gut, dachte ich, er hätte mich wenigstens vorwarnen können, dass er schnarchte.

Aber eigentlich machte es mir nichts weiter aus, denn ich war schon von klein auf an diese grausamste Art von Geräuschen gewöhnt. Mein Vater schnarchte in allen Facetten. Meine Mutter auch, sie gab es allerdings nicht zu und schob die Ruhestörung, die sich Nacht für Nacht ihren Weg aus dem Schlafzimmer meiner Eltern bis zu meinem Zimmer suchte, einzig und allein auf Papa.

Ich drehte mich auf die Seite und stützte meinen Kopf auf dem angewinkelten

Arm ab. Einige Minuten lang ließ ich meine Blicke auf Toms Gesicht ruhen. Er sah so zahm aus, wenn er schlief. Nichts an ihm erinnerte an den rebellischen, großkotzigen Typen, der er eigentlich war. Ich hatte einmal gelesen, dass alle Menschen, selbst die widerlichsten, im Schlaf Engeln glichen. Es stimmte tatsächlich.

Toms Eltern waren reich, sehr reich. Er konnte sich das Angeben leisten. Auch wenn es oft einfach nur nervte, das war das kleinere Übel. Viel schlimmer fand ich, dass er denen, die er nicht mochte und die durch sein Akzeptanzraster fielen, keine Chance ließ, so zu sein, wie sie eben waren. Irgendwie entdeckte er

immer einen Schwachpunkt, über den er herziehen konnte. Und in den meisten Fällen fiel ihm auch immer etwas Gehässiges ein, das er zu einem anderen Menschen sagen und ihn damit sehr verletzen konnte.

Aber wer weiß, vielleicht würde sich das jetzt ändern jetzt, da wir zusammen waren. Vielleicht würde ich einen guten Einfluss auf ihn haben. Vielleicht könnte er durch mich lernen, ein besserer Mensch zu sein, der andere akzeptierte, so wie sie eben waren.

Ich streckte meinen Zeigefinger aus und strich vorsichtig über seine mir zugewandte Wange. Für einen kurzen Moment hörte das Schnarchen auf, Tom

kräuselte leicht seine Nase, dann drehte er sich auf die Seite, sodass ich nun sein ganzes Gesicht vor meinem hatte - und schnarchte dann ungerührt weiter.

Ich hob die Decke ein wenig an. Etwas verlegen sah ich an unseren nackten Körpern herunter. Heute Nacht, als „es“ geschah, war es dunkel gewesen. Doch ich hatte seinen perfekten, durchtrainierten Körper an meinem gespürt.

Sein Sixpack hob und senkte sich mit jedem seiner Atemzüge. Wie konnte man in diesem Alter schon so einen Bauch haben. Logisch immerhin war er Sportler. Etwas beschämt besah ich mir mein Exemplar. Ich war schlank, auf

jeden Fall aber von trainiert konnte nicht die Rede sein. Dort wo man bei mir definitiv einen Bauch erkennen konnte, hatten ein paar der Mädchen aus meiner Klasse einen attraktiven Hohlraum. Den trugen sie an jedem warmen Tag unter ihren bauchfreien T-Shirts spazieren und machten uns andere, die Viel-Esser und  NichtSportler, echt neidisch.

Tja (meine innere Prinzessin triumphierte und stieß ihre rechte Faust siegreich in die Luft), aber letzten Endes lag Tom hier mit mir - in meinem Bett, unter meiner Decke. Letztendlich war er bei mir über Nacht geblieben und hatte mich „zur Frau gemacht“.

Ich spürte, wie mein Herz zu hämmern begann. Ja, wir hatten es getan. Einfach so. Völlig ungeplant. Völlig unvorbereitet. Völlig ich erschrak ungeschützt?

Ich suchte mit meinen Augen hektisch das kleine Schränkchen neben meinem Bett ab und entdeckte erleichtert die kleine Folienpackung. Ich erinnerte mich jetzt auch wieder daran, wie Tom sie aus seiner Hosentasche gezogen und auf das Schränkchen geworfen hatte. Es war ein paar Mal daneben gefallen und auf dem Boden gelandet. Von Bier und Schnaps betrunken, hatte Tom leise vor sich hin gekichert, während er es immer und immer wieder vom Teppich aufgehoben

und dann von neuem auf das Schränkchen gezielt hatte. Kaum zu glauben, dass er der unangefochtene Torschütze unserer Fußballmannschaft sein sollte. Okay, das Tor war ja auch geringfügig größer als mein Schränkchen und besoffen war Tom ja auch nicht, wenn er auf den Rasen lief.

Ich ließ die Decke wieder sinken und rutschte ein wenig näher an Tom heran. Ich wollte seine Nähe spüren, seine heiße Haut, seinen Atem.

Letzteres überlegte ich mir dann doch anders. Sein Nachtatem stank nach Bier, billigem Schnaps, verdautem Döner und keine Ahnung wonach noch. Gut jeder Mensch hatte irgendeinen Makel, selbst

der perfekteste. Und Tom hatte eben zwei er schnarchte und hatte am Morgen schlechten Atem.

Aber, sagte ich mir, man kann nicht alles haben.

Kapitel 2

Ein Klacken ließ mich aus dem Schlaf schrecken.

Ich streckte meine Arme zur Seite und reckte mich. Allem Anschein nach war ich noch einmal eingeschlafen.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass meine Hand Toms Körper treffen und ihn wecken würde, doch ich spürte nur das noch warme Kissen, auf dem er geschlafen hatte. Ruckartig drehte ich meinen Kopf zur Seite. Der Platz neben

mir war leer. Ich setzte mich abrupt auf.

Gut, vielleicht war er nur ins Bad gegangen. Auch Supertypen gingen morgens nach dem Aufwachen pinkeln. Aber der Klang, der mich geweckt hatte, ließ mich unruhig werden. Es war nämlich nicht die Tür zum Bad, die zugefallen war.

Ich konnte am Geräusch erkennen, welche der Türen unserer Wohnung geschlossen wurde. Das dumpfe „Klack“ in Verbindung mit einem leisen Scheppern war die Küchentür mit dem kleinen hölzernen Engel, den Mama vor Jahren von meiner Schwester zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und der seitdem das ganze Jahr über wie

ein friedlicher Wächter dort hing. Die Wohnzimmertür klirrte immer ein bisschen, weil das Glassegment etwas locker saß. Die Tür zum Badezimmer musste man immer ein wenig stärker ins Schloss ziehen, weil sie klemmte. Das zog meistens einen kleinen hohlen Knall mit sich. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern schloss sich fast lautlos mit einem leisen Schaben. Und von Pias Kinderzimmertür hörte man meist nur das Klappern der kleinen Blechschilder, die über das ganze Türblatt verteilt waren. Die Tür zu meinem Zimmer quietschte immer ein wenig. Schon gefühlte tausend Mal hatte ich Papa gebeten, das Quietschen zu beheben, aber

er hatte stets mit einem Grinsen im Gesicht geantwortet, dass er so wenigstens hören würde, wenn sich nachts heimlich jemand in mein Zimmer schleichen wollte.

Das klare, laute Klacken, das mich gerade geweckt hatte, hallte in unserem großen Flur wider. Es war die Wohnungstür.

Mit einem lauten Seufzer ließ ich mich zurück in die Kissen fallen. Gut, redete ich mir ein, vielleicht musste er nach Hause und wollte mich nicht wecken. Immerhin war Samstag und er hatte am Vormittag ein Spiel, wie ich wusste. Ungeduscht und in den Klamotten der vergangenen Party konnte er da ja

schlecht auftauchen.

Keine Minute, nachdem die Wohnungstür zugezogen wurde, vibrierte mein Handy, das auf dem Schränkchen neben dem Bett lag.

Ohne hinzusehen tastete ich danach. Dabei fiel leise knisternd die Folienpackung zu Boden. Ich musste unbedingt daran denken, sie sofort nachher zu entsorgen, am besten gleich unten in der großen Mülltonne vor dem Haus. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn meine Eltern oder - noch schlimmer Pia sie entdecken würden. Nicht eine der Fragen, die das Auftauchen dieser kleinen bunten Packung aufwerfen würde, wollte ich

unbedingt beantworten müssen.

„Danke, dass ich bei dir pennen durfte. Bis bald mal wieder. Tom.“

Wie bitte? Danke, dass ich bei dir pennen durfte? Mehr hatte er nicht zu sagen zu unserer gemeinsamen Nacht? Ich las die Nachricht noch ein paar Mal. Aber sie blieb so, wie beim ersten Lesen. Da stand kein „Es war schön mit dir, Baby“ und auch nicht „Ich liebe dich so sehr, Mila“. Ich konnte auch nicht „Ich freu mich schon aufs nächste Mal“ finden. Bis bald mal wieder. So ein Arsch!

Am liebsten hätte ich mein Handy weit von mir geschmissen, am besten an die Wand, dass es in tausend Teile zersprang

und mit ihm diese Nachricht des größten Arschlochs unserer Galaxie.

Ich sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und riss es auf. Vielleicht erwischte ich ihn noch. Vielleicht war diese Nachricht nur ein Irrtum. Schnell dahin geschrieben, weil er es eilig hatte. Weil er nicht wusste, was er sonst schreiben sollte. Vielleicht hatte er auch nur Angst, dass meine Eltern die Nachrichten auf meinem Handy lesen könnten und er wollte mich nicht in Schwierigkeiten bringen. Sicher gab es irgendeine Erklärung dafür. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, dass das schon alles gewesen sein sollte.

Ich sah ihn hinten am Bäcker um die

Ecke biegen. Ich überlegte kurz, ob ich ihn rufen sollte, ließ es dann aber bleiben. Vermutlich hätte er es sowieso nicht gehört. Der samstägliche Hauptstraßenlärm schluckte jedes andere Geräusch.

Ich sah noch eine Weile zur Ecke am Bäcker. Vielleicht, so hoffte ich, würde er noch einmal umdrehen und zurückkommen. Doch ich wartete vergebens.

Ein langgezogener Pfiff vom Haus gegenüber riss mich urplötzlich aus meinen trüben Gedanken. Als ich meinen Kopf in die Richtung drehte, aus der der Pfiff gekommen war, sah ich Jonah aus meinem Abiturkurs am Fenster stehen.

Selbst auf diese Entfernung erkannte ich, dass er grinste. Unsicher hob ich die Hand zum Gruß und winkte, leicht verwirrt, weil er noch ein bisschen mehr grinste.

Kapitel 3

Erst da wurde mir bewusst, dass ich noch immer nackt war.

Die Scheiben klirrten, als ich mit voller Wucht das Fenster zuschlug.

So ein Idiot ich meinte Jonah. Was stand der eigentlich am frühen Morgen grundlos am Fenster und glotzte andere Leute an? Spanner, verdammter!

Ich lief zurück zum Bett und ließ mich auf die Matratze plumpsen. Dann nahm ich noch einmal das Handy zur Hand.

Hatte Tom vielleicht doch noch eine andere Nachricht geschrieben?

Aber da stand immer noch dieses schnörkellose „Bis bald mal wieder!“.

In diesem Augenblick hörte ich, wie der Schlüssel in der Wohnungstür klapperte. Das wird Pia sein, dachte ich. Gegen Mittag wollte sie von der Übernachtungsparty ihrer Freundin zurück sein.

Schnell schnappte ich mir meine Klamotten, die auf dem Fußboden verstreut lagen und huschte, noch ehe sie mich entdeckte, ins Bad.

Ich ließ das heiße Wasser eine gefühlte Ewigkeit über meinen Körper laufen.

Es schien fast so, als würde die

angenehme Hitze mein Gedankenkarussell zum Laufen bringen. Denn plötzlich war alles wieder da. Die Party am See, Musik, Lachen, Bier und billiger Schnaps. Der Heimweg mit Tom, der sich in meiner Erinnerung so anfühlte, als wären wir auf hoher See über das Deck eines schwankenden Schiffes gelaufen.

Je länger ich daran zurückdachte, umso schwindliger wurde mir im Kopf. Ich drehte den Hebel der Mischbatterie zur Seite und spürte sofort, wie das Wasser angenehm kühler wurde.

Mein Kopf erholte sich und konnte weiterdenken.

Jetzt war es passiert. Schon seit Monaten

hatte ich darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn ich morgens aufwachen und keine Jungfrau mehr sein würde. Ob man es mir ansehen konnte? So ein Quatscht, dachte ich. Man sah doch nicht anders aus, nur, weil man zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen hatte oder? Vielleicht konnte man es mir an meinem Gesicht ablesen? An einem verräterischen Dauergrinsen. Gut, Emma würde es vielleicht merken. Immerhin war sie meine beste Freundin. Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Keiner durchschaute mich mit nur einem Blick in mein Gesicht, keiner außer sie.

„Mila! Mila! Mila!“

Pia trommelte mehrmals nacheinander an

die Badezimmertür.

Mit einem genervten Augenrollen drehte ich den Wasserhahn zu und stieg aus der Dusche.

„Mila! Schnell, ich muss aufs Klo!“, erreichte mich von draußen Pias panischer Hektikanfall.

„Warum benutzt du nicht die Gästetoilette?“, fragte ich.

„Weil ich kein Gast bin!“

Das war nicht der Grund, das wusste ich. Jeder in unserer Familie wusste das. Schon seit dem Zeitpunkt, als meine Schwester in der Lage war, alleine aufs Klo zu gehen, weigerte sie sich aus irgendeinem abstrusen Grund standhaft, die Gästetoilette zu benutzen. Ich fand

das albern, meine Eltern komischerweise nicht. Zumal Pia bis vor kurzem tatsächlich in den Flur gepinkelt hatte, wenn man das Bad nicht schnell genug frei machte. Ich gebe zu, ich hatte die Situation manchmal ausgereizt, einfach um Pia auf die Gästetoilette zu zwingen. Vor ein paar Monaten habe ich sie sogar einmal für zwei Stunden dort eingesperrt. Letzen Endes hatte sie sich trotzdem in die Hose gepinkelt, obwohl sie diese zwei Stunden direkt neben der Kloschüssel verbringen musste.

„Mila!“  

„Ja, verdammt noch mal, ich beeil mich ja schon“, rief ich zurück, schnappte mir mein Badetuch und trippelte mit nassen

Füßen zur Tür. Kaum, dass ich den Schlüssel herumgedreht hatte, schoss Pia an mir vorbei ins Bad.

„Warum ist in deinem Bett Blut und hast du noch welche von den Erdbeerbonbons?“

Pias Worte ratterten mir wie eine Maschinengewehrsalve um die Ohren.

Ich war gerade im Begriff, die Tür hinter mir zu schließen. Jetzt öffnete ich sie wieder.

„Was hast du in meinem Zimmer zu suchen?“, fragte ich und funkelte meine Schwester gereizt an.

„Nichts!“, erwiderte sie wie selbstverständlich. Dann hockte sie sich aufs Klo und strullerte los.

Blut, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich, dass ich daran nicht gedacht hatte. Ich musste unbedingt die Bettwäsche waschen, bevor auch meine Mutter komische Fragen stellen konnte.

„Hab meine Tage bekommen“, log ich gekonnt natürlich.

Auf dem Weg in mein Zimmer grübelte ich über die Erdbeerbonbons nach, von denen Pia gesprochen hatte. Ich besaß keine. Ich mochte noch nicht mal Erdbeeren.

Kapitel 4

Am späten Nachmittag kamen dann auch meine Eltern zurück. Sie waren zu Tante Annies Geburtstagsfeier gewesen. Früher mussten Pia und ich immer noch mit,

aber seit einiger Zeit genossen es Mama und Papa, auch mal ohne uns unterwegs zu sein. Sie fanden, wir wären nun in einem Alter, in dem wir ruhig auch mal alleine zuhause bleiben konnten. Fand ich auch. Also, zumindest war ich mit meinen 17 Jahren alt genug. Mit 10 fand ich Pia zwar noch viel zu jung, um alleine zu bleiben. Aber sie war sowieso bei ihrer Freundin zur Übernachtungsparty, während ich mit meinen Freunden unterwegs gewesen war.

Noch bevor ich den Schlüssel nun zum zweiten Mal an diesem Tag im Schloss hörte, hatte ich mein Bett frisch bezogen und überlegte einen kurzen Moment, dass

ich ja noch irgendetwas machen wollte. Irgendetwas Wichtiges. Ich kam nicht darauf.

Immer wieder schaute ich auf mein Handy, ob Tom sich noch mal gemeldet hatte. Aber da waren Nachrichten von Emma und Kim, jede Menge Gequatsche im Klassenchat über die gestrige spontane Party am See, Kommentare meiner Facebookfreunde sonst nichts. Tom schien wie vom Erdboden verschluckt. Gut, vielleicht hatte seine Mannschaft heute gewonnen und nun feierten sie ein bisschen. Klar, dass er da nicht schreiben konnte. Würde ja ein bisschen komisch rüber kommen, wenn er zwischen Bier und Schnaps

Liebesnachrichten an mich tippte. Vielleicht konnte er ja auch nicht mehr tippen, weil er schon wieder besoffen war.

Irgendeine Erklärung würde es schon geben, sagte ich mir.

„Hallo, Mila. Wir sind wieder da.“ Mama steckte ihren Kopf durch die Tür in mein Zimmer und lächelte mich an.

„Seh ich“, erwiderte ich und hob meine Augen nicht eine Sekunde von dem Buch, in dem ich las.

„Alles okay? Hast du schlechte Laune?“

Ich klappte das Buch mit einem genervten Stöhnen zu und sah meine Mutter ebenso genervt an.

Mama kam in mein Zimmer und sah sich

um. Wie immer mit diesem besonderen „Du-könntest-mal-wieder-aufräumen-Blick“. Aber dieses Mal hatte sie keinen Grund zum Meckern. Ich hatte mein Zimmer aufgeräumt. Gut, das meiste Zeug, das gestern früh noch auf dem Boden gelegen hatte, befand sich nun im Schrank liebevoll hinein gestopft. Ich war mir sicher, dass Mama da garantiert nicht reinschauen würde jedenfalls nicht, solange ich mit ihr gemeinsam in meinem Zimmer war.

„Nanu? Schon wieder das Bett frisch überzogen?“ Sie sah erst mein Bett mit der Pferdebettwäsche und dann mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Warum musste sie auch alles merken, schoss es

mir in den Kopf. Einen kleinen Augenblick überlegte ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, nur das Bettlaken zu wechseln. Doch ich hatte mich entschieden, alles zu tauschen. Ich fand, dass mein ganzes Bettzeug irgendwie nach Sex gerochen hatte. Oder zumindest nicht nur nach mir.

„Ähm, ja, hab meine Tage bekommen“, log ich und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.

Mama nickte. Ich atmete erleichtert aus.

„Schon wieder?“, stellte sie allerdings noch fest, während sie das Zimmer verließ.

Warum wussten Mütter immer über alles Bescheid? Ich meine, immerhin redete

ich nicht mit ihr darüber, ob und wann ich meine Periode hatte. Zählte sie allen Ernstes die Tampons in der Packung nach, oder was?

Aber dann war sie weg.

Und ich suchte auf einmal hektisch meinen Fußboden ab. Denn in diesem Augenblick war mir eingefallen, was ebenfalls plötzlich weg war. Das Kondomtütchen! Wo zum Geier war es abgeblieben? Ich kniete mich auf den flauschigen Teppich und sah unters Bett. Scheiße! Da lag die Packung auch nicht. Ratlos lehnte ich mich gegen das kleine Schränkchen und dachte nach.

Wahrscheinlich hatte ich es zusammen mit der Bettwäsche in den Waschkorb im

Bad geschmissen. Ich sprang auf und rannte ins Bad. Ich zerrte das Bettzeug aufgeregt aus dem Korb und schüttelte es aus. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn meine Mutter die Bettwäsche in die Waschmaschine stopfte und ihr das Tütchen entgegen fiel.

„Was machst du denn?“ Plötzlich stand Papa im Bad und sah meinem Treiben zu.

„Ich suche die Kondompackung, die ich vielleicht aus Versehen in das mit meinem Blut besudelte und nach Sex stinkende Bettzeug gewickelt habe, weil ihr nicht merken sollt, dass ich heute Nacht in meinem Bett von einem euch fremdem Jungen entjungfert wurde!“,

hätte ich ihm am liebsten entgegen geschleudert. Aber ich konnte mich gerade noch so beherrschen.

„Ähm, ich … suche …“, ich grübelte, wonach ich suchen könnte. Was war harmlos und zugleich wertvoll genug, um meinen Aufstand zu erklären? „ … einen der Ohrringe, die Emma mir zum Geburtstag geschenkt hat. Ich muss ihn im Bett verloren haben“, sagte ich schließlich. Papa sah mich mit einem seltsamen Blick an. Wahrscheinlich wusste er nicht, welche Ohrringe ich meinte, denn ich trug sie so gut wie nie, aus Angst sie zu verlieren.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Mila?“, fragte er sanft.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein? Ich bin keine Jungfrau mehr und irgendwo hier liegt ein Kondomtütchen herum“, dachte ich. „Ja, alles in Ordnung. Was soll denn sein?“, entgegnete ich, sichtlich darum bemüht, völlig normal zu klingen. Die hektischen Tonsprünge in meiner Stimme überhörte ich großzügig und hoffte, Papa würde das auch tun.

Papa zeigte auf meinen Kopf. „Du hast die Ohrringe an deinen Ohren. Beide.“

Verwirrt fasste ich nach meinen Ohrläppchen. Ich Idiot hatte vergessen, dass ich die kleinen glitzernden Schmetterlinge gestern Abend ja tatsächlich angelegt hatte, weil Emma

und ich uns einen schönen Abend machen wollten.

„Ähm, ja, hab ich gar nicht bemerkt“, stammelte ich.

„Wir essen gleich“, sagte Papa noch und ging kopfschüttelnd davon.

Okay, Mila, denk nach. Wo könnte diese kleine verfluchte Tüte noch sein? Hatte ich sie schon in den Müll geworfen? Ganz sicher nicht, denn ich wollte sie ja gleich nach unten bringen.

Vielleicht hatte ich sie in meinem Papierkorb entsorgt.

Aber auch da fand ich sie nicht. Das kleine bunte verflixte Ding war wie vom Erdboden verschwunden.

Beim Abendbrot erzählten Mama und

Papa vom Besuch bei Tante Annie.

Sie war meine Patentante und normalerweise fuhr ich gerne zu ihr. Am liebsten allerdings allein. Dann saßen wir stundenlang in ihrem kleinen gemütlichen Garten hinter ihrem kleinen gemütlichen Haus und quatschten über Gott und die Welt. Tante Annie war Mamas beste Freundin und genauso alt wie meine Mutter. Aber irgendwie kam sie mir gar nicht wie 40 vor, sondern viel jünger. Sie kleidete sich anders, sie redete anders und sie verstand die Dinge, die ich ihr anvertraute auch ganz anders als meine Mutter. Mama versuchte immer, die Dinge zu erklären oder zu ergründen. Sie versuchte ständig, mir

gute Ratschläge zu geben und wusste immer alles besser als ich. Aber Tante Annie hörte zu, nickte nur hin und wieder. Bei ihr hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht immer verbessern und belehren wollte. Sie nahm mich ernst. Mich und meine Gefühle, mich und meine Ängste.

„Mütter müssen so sein“, sagte sie mir immer. Ja, Mütter waren zum Erziehen da, zum Beschützen vor großen Fehlern, zum Belehren. Und Tante Annie war einfach da, um eine gute Freundin zu sein.

„Annie fragt, wann du mal wieder zu ihr kommst. Du warst schon lange nicht mehr da“, sagte Mama.

„Vielleicht nächstes Wochenende. Ich kann mit dem Zug fahren“, meinte ich. Vorausgesetzt, ich habe Zeit. Könnte ja auch sein, dass ich dann mit Tom unterwegs bin, dachte ich.

„Mama, hast du noch welche von den Erdbeerbonbons?“, quasselte Pia in unser Gespräch.

„Welche Bonbons meinst du denn, Schatz?“, fragte Mama.

„Die, die du Mila gegeben hast“, antwortete meine kleine Schwester. „Die will ich auch haben“, schob sie trotzig hinterher. In ihrer Stimme schwang der berühmt-berüchtigte „Ich-könnte-was-verpassen-Ton“ mit.

„Pia-Schatz, ich weiß nicht, was du

meinst.“ Mama sah meine Schwester mit einem leicht verständnislosen Blick an.

Pia kramte mit einem genervten Augenrollen in ihrer Hosentasche und knallte nach ein paar Sekunden mit den Worten „Die hier!“ eine kleine bunte Folienverpackung mit der Aufschrift „Erdbeergeschmack“ auf den Tisch.

Kapitel 5

„Wie kommt das hier in dein Zimmer?“

Mama hielt mir die Kondomverpackung mit spitzen Fingern vor die Nase.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie keine plausible Antwort von mir wollte, sondern nur die absolute Wahrheit.

„Was war gestern Abend hier los?“, pfefferte mir Mama die nächste Frage

um die Ohren.

Ich knabberte an meinem rechten Daumennagel und schwieg.

Ich war echt froh, dass Tom wenigstens das benutzte Kondom irgendwie hatte verschwinden lassen. Ich überlegte kurz, ob Mama mir das auch vor die Nase gehalten hätte.

„Mila! Ich rede mit dir!“ Die Stimme meiner Mutter wurde noch etwas lauter. Papa stand da und sagte kein Wort. Doch an seinen Blicken glaubte ich zu erkennen, was er dachte. In seinem Kopf schien er sich die Szenen, die sich vergangene Nacht hier in meinem Zimmer abgespielt haben könnten, vorzustellen. Verwirrendes Kopfkino!

Mit entsetzten Augen sah ich in seine Richtung.

„Biologieunterricht“, stammelte ich und war sichtlich froh über meinen spontanen Einfall.

Mama zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Wir hatten … im Biologieunterricht … Aufklärung …“. Ich wusste nicht, ob meine Eltern mir das abnehmen würden. Immerhin war ich schon in der 11. Klasse. Den Aufklärungsunterricht hatten wir schon in der 7.

„Aufklärungsunterricht, soso.“ Okay, Mama glaubte mir nicht. „Und was habt ihr da so gelernt?“

„Och, Mama. Das was man da eben so

lernt. Wie man sowas“, ich zeigte auf die kleine Packung, die sie noch immer zwischen den Fingern hielt, „benutzt.“ An ihrem Gesicht sah ich, dass sie mir noch immer nicht glaubte.

„Du weißt doch, in der Zehnten sind zwei Mädels schwanger geworden“, fiel mir plötzlich ein. Das stimmte tatsächlich. Die Story war in der ganzen Stadt Gesprächsthema Nummer 1. „Und nun wollen die Lehrer, dass das nicht noch mehr Mädchen passiert. Sicher ist sicher“, flunkerte ich weiter.

„Und du hast die Verpackung also aus Versehen mitgenommen?“

„Ja, und dann ist sie aus meiner Hosentasche heraus gefallen, als ich

mich gestern Abend ausgezogen habe. Und Pia hat sie gefunden und für die Verpackung von Erdbeerbonbons gehalten“, erklärte ich schon sichtlich genervt, aber ganz zufrieden mit meiner kleinen Notlüge, die meine Eltern mir anscheinend doch abnahmen. Denn plötzlich war das Gespräch beendet. Mit einem letzten skeptischen Blick in meine Richtung verließen die beiden das Zimmer.

Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Ich wusste nicht, ob meine Erklärung sie zufrieden gestellt hatte oder ob sie mir noch immer nicht glaubten. Aber das Gegenteil konnten sie mir ja auch nicht beweisen. Doch mir

war klar, dass sie von jetzt an sicher genau aufpassen würden, was sich so in meinem Umfeld tat.

Mit einem leisen Seufzer ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich nahm mein Handy zur Hand und suchte den Chat zwischen mir und Tom.

„Bis bald mal wieder“ stand da als letztes.

„Hi Tom, war schön vergangene Nacht“, tippte ich. Dann löschte ich die Worte schnell wieder. Nach einem Augenblick schrieb ich sie erneut.

„Hi Tom, war schön vergangene Nacht. Treffen wir uns morgen am Bootsanleger? Mila.“

Ich zögerte noch einen Moment, bevor

ich die Nachricht abschickte. Doch schließlich drückte ich auf „Senden“.

Es dauerte nur einen Augenblick, dann piepte mein Handy neben mir. Hektisch nahm ich es zur Hand.

„Hi, Mila-Maus. Lebst du noch?“, las ich. Mila-Maus so nannte mich nur eine. Emma. Ich hatte den ganzen Tag nicht einmal daran gedacht, ihr eine Nachricht zu schreiben oder ihr zu antworten.

„Hi, Emma. Sorry, hatte mein Handy verlegt“, log ich tippenderweise.

„Wohin bist du gestern Abend verschwunden?“, kam einige Sekunden später Emmas nächste Nachricht.

Scheiße, Emma hatte ja gar nicht mitbekommen, dass ich mit Tom

gegangen war. Sie hatte anscheinend alle Hände voll mit Felix zu tun.

„Ich war müde. Bin nach Hause“, lautete meine kurze knappe Antwort. Nein, ich wollte Emma nicht absichtlich belügen. Ich wollte mit ihr per Whatsapp aber weder meine Entjungferung, noch meinen Beziehungsstatus auswerten.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte sie. Ich zögerte. Es gab nichts, was ich lieber getan hätte. Außer, mich mit Tom zu treffen. Doch seine Antwort stand ja noch aus.

„Mal sehen. Gute Nacht“, schrieb ich und drückte auf „Senden“.

Emma schrieb nicht mehr zurück. Tom reagierte auch nicht. Vielleicht war er müde

von der vergangenen Nacht und vom Fußballspiel. Irgendeine Erklärung gab es sicher, dachte ich, bevor ich sanft ins Reich der Träume hinüber glitt.

Als ich am anderen Morgen am Frühstückstisch erschien, war alles wieder normal. Niemand wollte mehr etwas von der Herkunft gewisser Folientütchen wissen. Und keiner stellte in Frage, ob ich die Nacht von Freitag auf Samstag tatsächlich alleine zu Hause verbracht hatte.

Alles war wie immer. Wie an jedem Sonntag sträubte ich mich zunächst dagegen, zusammen mit meiner Familie und Oma Magda zum Gottesdienst in die Stadtkirche zu gehen. Schließlich ließ

ich mich breitschlagen und ging mit. Beim Mittagessen im Biergarten von Papas Lieblingsitaliener redeten mal wieder alle durcheinander, ganz besonders Omi, die wie immer versuchte, mit jedem von uns gleichzeitig Gespräche über grundverschiedene Themen zu führen. Ich klinkte mich schon recht bald gedanklich aus und drehte abwesend mein Smartphone in den Händen. Immer wieder starrte ich auf das Display. Aber noch immer hatte ich keine Nachricht von Tom empfangen. Gut, vielleicht hatte auch er Familientag, tröstete ich mich. Auch, wenn das nur ein schwacher Trost war.

Schließlich piepte mein Handy doch und

unter den vorwurfsvollen Blicken meiner Mutter las ich die angekommene Nachricht: „Bin heute ab drei am Bootsanleger. Du auch?“

Kapitel 6

Der Anleger war unser Lieblingsort. Boote legten da schon lange nicht mehr an. Seit es im Hafen auf der anderen Seite des Sees einen neuen Anleger gab, verfiel der alte Holzsteg mehr und mehr. Aber meine Freunde und ich fühlten uns dort wohl. Die kleine Bucht, umgeben von Bäumen und Gestrüpp, war unser Rückzugsort am Nachmittag. Hierhin verirrte sich niemand, der hier nichts zu suchen hatte. Ab und zu vielleicht ein paar Touristen, die den Radweg

verfehlten. Doch ansonsten gehörte die Bucht uns ganz allein. Wenn es regnete fanden wir in dem kleinen Bootshaus, das am Ufer stand, Zuflucht. Trotz der unzähligen Löcher im Dach waren wir hier geschützt.

Im Bootshaus hatte sich so manche meiner Freundinnen während der einen oder anderen Party mit ihrem Lover zurückgezogen und klammheimlich ihre Unschuld verloren. Okay, klammheimlich war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn jeder von uns wusste, was im Bootshaus geschah, wenn zwei allein dorthin verschwanden. Da ich in der vergangenen Nacht mein weiches Bett den harten Holzdielen vorgezogen

hatte, konnte ich mir sicher sein, dass keiner unserer Freunde von Tom und mir wusste.

Emma saß schon auf dem Steg und ließ ihre nackten Füße ins Wasser hängen, als ich am Nachmittag zum Treffpunkt geradelt kam. Sie trug ein leichtes Trägertop und ihren superkurzen, superschicken Minirock. Genießerisch ließ sie ihr Gesicht von der Sonne bescheinen.

Ich ließ mein Fahrrad ins Gras fallen und ging zu ihr auf den Steg. Emma tat so, als würde sie mich nicht hören, dabei knarrte jede der Holzbohlen laut, wenn ich sie mit den Füßen berührte.

Auch als ich mich neben sie auf den Steg

setzte und meine Schuhe auszog, reagierte meine Freundin nicht.

„Hi, Emma. Alles klar?“, fragte ich.

Emma drehte mir ihr Gesicht zu und schob ihre große Sonnenbrille ins Haar.

„Bei mir schon. Und bei dir?“, erwiderte sie.

Ich plätscherte mit meinen nackten Zehen im Wasser herum. Gerade in diesem Augenblick musste ich auf einmal an Toms große wunderbare Füße denken, die unter meiner Decke hervor geschaut hatten. Eine kleine wohlige Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper, die aber gleich wieder verschwand, als ich daran dachte, dass er mir noch immer nicht geantwortet hatte.

Emmas Tonfall klang nach einer Mischung aus beleidigt und schnippisch. Wobei es da fast keinen Unterschied gab. Wenn Emma beleidigt war, reagierte sie immer auch schnippisch.

„Bist du sauer auf mich?“, fragte ich.

„Hätte ich einen Grund?“

Ich holte tief Luft. Das konnte ja ein lustiger Nachmittag werden.

„Ich weiß nicht. Sag du mir, was ich angestellt habe“, schlug ich vor.

Emma sah mich eine gefühlte Ewigkeit schweigend an. Ihre Blicke lasen mein Gesicht.

„Irgendetwas ist anders an dir. Ich bin mir nur noch nicht ganz so sicher, ob es das ist, was ich denke“, murmelte sie.

Ich erschrak innerlich. Hatte sie es tatsächlich gemerkt? Wie machte sie das?

Kriegte man einen riesigen Pickel auf der Stirn, wenn man keine Jungfrau mehr war?

Oder bekam man ein verräterisches Leuchten in den Augen? Oder waren es die roten Hektikflecken an den Wangen, die einen verrieten? Erschien der Busen jetzt größer? Oder der Bauch dicker? Oder lief man anders?

Ich musste grinsen bei all meinen blödsinnigen Gedanken.

Emma drehte ihren Kopf wieder in Richtung See.

„Jonah hat mir erzählt, dass er Tom gestern früh aus deinem Haus kommen

gesehen hat“, erklärte sie mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, dass mir schlagartig übel wurde.

Gleichzeitig überkam mich eine derartige Wut auf Jonah, die mich fast dazu brachte, auf mein Rad zu springen und zurück in die Stadt zu rasen, um ihm eine reinzuhauen.

Doch ich versuchte, meinen Schreck zu vertuschen. „So, hat er das?“, fragte ich scheinbar gelassen. „Was hast du denn mit Jonah Steinberg zu schaffen?“ Ich konnte eine gewisse Abneigung gegen den Jungen aus dem Haus gegenüber nicht verbergen. Wollte ich im Grunde genommen auch nicht. Was mischte der sich eigentlich in meine Angelegenheiten

ein?

Emma antwortete mir nicht. Sie ließ ihre Blicke wieder hinter der großen dunklen Sonnenbrille verschwinden und über die scheinbar endlose Weite des Sees wandern.

Emma, meine liebe gute Emma, hatte eine Art an sich, die ich gleichzeitig liebte und hasste.

Sie konnte einem das Gefühl geben, den größten Fehler seines Lebens gemacht zu haben. In ihrer Nähe fühlte ich mich eigentlich sehr wohl. Logisch, sie war meine beste Freundin. Doch zugleich kam ich mir manchmal so unendlich dumm in ihrer Gegenwart vor. Weil sie mir, ohne es selbst zu wollen, immer

wieder das Gefühl gab, ein besserer Mensch zu sein als ich es war. Weil sie nie das Verlangen verspürte, mich wegen irgendetwas anzulügen. Weil sie, egal was es war, immer die Wahrheit sagte.

Ich hatte sie schon öfter angelogen, weil mir die Wahrheit zu unbequem oder zu anstrengend erschien. Sie hatte mich immer durchschaut und es mich wissen lassen. Ich war in ihrer Gegenwart eine schlechte Lügnerin. Emma wollte immer die Wahrheit hören, weil sie der Meinung war, einen Anspruch darauf zu haben, nicht angelogen zu werden. Einfach deshalb, weil sie selbst ein grundehrlicher Mensch war.

Ich holte noch einmal tief Luft.

„Okay“, sagte ich schließlich. „Jonah hat Recht. Tom war Samstagnacht bei mir.“

Jetzt war es raus. Doch Emma reagierte keineswegs mit Erstaunen oder Freudentaumel. Auch Erschrecken konnte ich nicht in ihrem Gesicht sehen. Noch nicht einmal das kleinste Bisschen Neid. Meine innere Prinzessin verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Ich muss zugeben, ich hatte schon etwas mehr erwartet. Immerhin kam es nicht alle Tage vor, dass ich den heißesten Typen der ganzen Schule in meinem Bett liegen hatte. Jedes andere Mädchen hätte wenigstens Neid gezeigt oder zumindest nachgefragt: „Was? Du? Wieso?“

Aber nicht Emma.

Emma saß da, schaute über den See und ließ die Füße ins Wasser baumeln.

„Und?“

Ich zuckte zusammen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass Emma doch noch einmal mit mir sprechen würde an diesem Nachmittag.

„Was und?“, fragte ich.

„Wie war es - mit Mister Genial?“ Emma nahm die Sonnenbrille ab und sah mich mit ihrem verschwörerischen Grinsen und ihren strahlenden blauen Augen an. Ich atmete erleichtert auf. Sie war nicht mehr sauer.

„Naja, es war okay“, antwortete ich, griff aus lauter Verlegenheit mit beiden

Händen nach meinen langen braunen Haaren und drehte sie zu einem Zopf, der sich allerdings sofort wieder auflöste, als ich ihn losließ.

„Nur okay?“

„Er schnarcht fürchterlich und stinkt morgens schrecklich aus dem Mund“, erklärte ich.

Emma lachte leise. „Und sonst?“ Ich wusste genau, worauf sie hinaus wollte.

„Keine Ahnung. Nicht anders als sonst“, sagte ich.

„Habt ihr wenigstens verhütet?“ Emma legte ihren verantwortungsvollen Blick auf.

Ich kam mir plötzlich vor wie bei einem Verhör.

„Ja, selbstverständlich“, antwortete ich trotzdem pflichtbewusst.

Einen kurzen Augenblick herrschte wieder Schweigen zwischen uns und ich erzählte schnell die Story mit den vermeintlichen „Erdbeerbonbons“, die Emma erwartungsgemäß zum Lachen brachte.

Irgendwann kamen noch ein paar andere aus unserer Clique zum Bootsanleger. Mit einem Blick gab ich Emma zu verstehen, dass wir das Thema nun lieber beenden wollten.

„Und wie geht es nun weiter mit euch?“, flüsterte sie mir noch schnell zu.

Meine Antwort war ein kurzes Schulterzucken, das in mir ein eigenartig

trauriges Gefühl hinterließ.

Kapitel 7

Ich wusste nicht, wie es mit Tom und mir weitergehen würde.

Ich wusste nicht, was da zwischen uns war.

Ich wusste noch nicht einmal, ob überhaupt etwas zwischen uns war.

Bis zum Montag hatte er nicht auf meine Nachricht geantwortet.

Die Angst, die sich in meinem Herzen breit zu machen versuchte, überspielte ich mit Erklärungen.

Vielleicht hatte ihm jemand das Handy geklaut.

(Möglich)

Oder er besaß nur eine Prepaidkarte, die

zufälligerweise gerade jetzt leer war. (Unwahrscheinlich)

Er war mit seinen Eltern in einen spontanen Wochenendurlaub gefahren.

(Möglich)

Was es auch sein mochte, ich wollte es spätestens am Montag in der Schule heraus bekommen.

Doch das hatte ich mir eindeutig viel zu leicht vorgestellt. Ich merkte recht bald, dass ich nicht einfach zu ihm hingehen und sagen konnte: „Hey, Tom, lass uns über uns und unsere gemeinsame Nacht reden.“ Irgendwie kam ich nicht an ihn ran. Ständig war er von seinen Fußballkumpels und den Mannschaftsgroupies umzingelt. Wenn

ich in seiner Nähe war, versuchte ich, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, doch auch das gelang mir nicht. Ich konnte zu ihm hinstarren, ihm gewisse Blicke zuwerfen es schien beinahe so, als wäre ich für ihn in keiner Weise existent.

Meine innere Prinzessin zog sich in die letzte Ecke meiner Seele zurück und vergrub heulend den Kopf in den Armen.

Emma war sofort aufgefallen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Doch anstatt blöde Fragen hinsichtlich meines vermeintlichen One-Night-Standes zu stellen, nahm sie mich wortlos in den Arm und drückte mich fest an ihr großes ehrliches Freundinnenherz.

„Er ist so ein blöder Idiot“, murmelte

ich in ihre Blümchenbluse.

„Ach komm, Mila. Vielleicht ist es ihm nur peinlich vor seinen Freunden. Jungs sind manchmal so. Pass auf, heute Nachmittag schickt er dir ´ne nette kleine Nachricht“, meinte Emma tröstend. Doch ich ahnte, dass sie sich selbst nicht glaubte. Eigentlich wusste sie schon ganz genau oder vermutete es zumindest was Sache war. Nur ich schien mir immer noch einzureden, dass es für Toms abweisende Haltung einen guten Grund geben würde.

Okay, Tom beachtete mich nicht, obwohl wir eine ganze Nacht miteinander verbracht hatten. Und trotzdem fühlte ich mich den ganzen Tag über irgendwie

von irgendwem beobachtet. Ich brauchte auch gar nicht lange überlegen, wer derjenige war. Denn ich entdeckte ihn immer in meiner Nähe.

„Ey, stalkst du mich etwa?“, fuhr ich Jonah an, als er mir zum vielleicht hundertsten Mal beinahe zufällig über den Weg gelaufen war.

Jonah war ein eher schüchterner Junge aus meinem Kurs. Soweit ich wusste, hatte er kaum Freunde jedenfalls keine interessanten. Eher die Streber, die Leser, die Musiker, die Schauspieler keiner der Sportler gehörte dazu. Dabei war er nicht mal hässlich. Im Gegenteil. Jonah war schlank, fast schon schmal. Mit seinen blauen Augen schaute er

meist witzig und charmant in die Welt. Auf seinem Kopf trug er stets eine „MyBoshi“, unter der vereinzelt nur noch ein paar seiner Haare heraus schauten ich glaube, er besaß hunderte dieser bunten Häkelmützen. „Oben ohne“ hatte ich ihn bisher nie gesehen. Deshalb hätte ich auch nicht sicher sagen können, welche Haarfarbe oder Frisur genau er trug.

Als mir das in den Sinn kam, wurde mir mit Erschrecken wieder bewusst, dass er am Samstag alles von mir gesehen hatte. Er konnte unter Umständen sogar die Farbe meiner Schamhaare benennen, wenn ihn jemand zufälligerweise danach fragen würde.

„Wieso sollte ich dich denn stalken? Anscheinend bist du völlig uninteressant, wenn ich mir Tom so ansehe“, entgegnete Jonah gelassen mit einem Grinsen und wies mit dem Kopf in die Richtung, in der Tom stand.

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram“, blaffte ich ihn an und ging schnell weiter.

Für alle anderen war Toms Verhalten völlig normal, doch für drei Menschen für Emma, Jonah und mich lag in Toms Verhalten ein deutliches Zeichen. Das Zeichen dafür, dass ich ihm nichts, aber auch gar nichts bedeutete. Und dass die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, nichts Besonderes für ihn war.

Für Emma und Jonah war das anscheinend klar, nur ich wollte nichts davon wissen.

„Hey, warum redest du nicht mit mir“, schrieb ich Tom in der Mittagspause. Ich saß auf einer der Bänke, die unter der großen Rotbuche mitten auf dem Schulhof standen.

Tom saß quatschend mit seinen Freunden in einiger Entfernung drüben auf der niedrigen Mauer. Kaum, dass ich meine Nachricht gesendet hatte, unterbrach er sein Gespräch, zog lässig sein Handy aus der Hosentasche und las. Offensichtlich meine Nachricht. Dann ließ er seine Blicke über den Schulhof wandern. Als er mich entdeckte, verzog er genervt das

Gesicht und tippte auf seinem Handy herum. Kurze Zeit später piepte mein Handy.

„Texte mich nicht zu. Es ist alles gesagt.“

Ich starrte auf mein Handy und sah dann entgeistert zu Tom hinüber, der mir einen kurzen, eisigen Blick zuwarf und sich dann wieder den Gesprächen seiner Freunde widmete.

Mit stockte der Atem. Das Sonnenlicht tanzte vor meinen Augen. Mir wurde heiß und kalt zugleich und ich befürchtete, dass ich gleich in Ohnmacht fallen würde.

Denn plötzlich wurde mir alles klar: Dass er sich nach unserer Nacht nicht bei

mir gemeldet hatte, lag nicht daran, dass er unterwegs war, auch nicht an einer leeren Prepaidkarte. Es war auch kein Versehen. Das war pure Absicht. Ich war tatsächlich nur ein One-Night-Stand für ihn gewesen. Nichts weiter. Da war keine Liebe, nicht mal ein kleines Bisschen Verliebtheit. Das war so, als hatte man Hunger und kaufte sich an einer Dönerbude, an der man gerade vorbeikam, mal eben einen Döner. Beim nächsten Hunger sucht man sich eben einen anderen Imbissstand.

Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg und unbedingt aus mir heraus wollte.

Wie in Trance schob ich mich von der Bank, auf der ich saß, und lief in die

Richtung, in der Tom und seine Freunde standen. Emma kam gerade zu mir, doch ich ließ sie einfach stehen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, ohne nachzudenken, was als nächstes passieren würde und nahm nichts von dem wahr, was um mich herum geschah. Nicht das Lachen und Kreischen der Unterstufenschüler, die sich quer über den Schulhof jagten. Nicht das aufgesetzte Gelächter der mageren blondierten Schulzicken, die in kleinen Grüppchen herumstanden und über andere lästerten. Und auch nicht Jonah, der mich am Arm festhalten und an irgendetwas hindern wollte.

Kapitel 8

Ich kam erst in dem Moment wieder zu mir, als ich meine vom Hieb schmerzende Faust zurückzog und Toms entgeistertes Gesicht mit dem roten Rinnsal, das sich einen Weg von seiner Nase bis zu seinem Kinn bahnte, erblickte.

Irgendwie war es um uns herum schlagartig still geworden. Toms Freunde verstummten augenblicklich, die Zicken stellten für kurze Zeit das Lästern ein, die Kleinen stoppten ihr Herumflitzen. Alle Augen schienen auf Tom und mich gerichtet zu sein.

Das nächste, was ich mitbekam, war, dass Emma mich am Arm mit sich zog. Irgendwohin.

Wohin, das war mir im Grunde genommen egal Hauptsache weit weg von all den Menschen, die um eine Sensation reicher waren.

„Bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden?“ Emma starrte mich entgeistert an.

„Wow, Mila. Ich hoffe, dass du nie so sauer auf mich bist“, meinte Jonah anerkennend und ich wunderte mich einen sensationell kurzen Moment, weshalb er neben mir stand.

„Aber das war jetzt echt stark“, schob Jonah hinterher, ignorierte Emmas Blitzblicke und hockte sich wie selbstverständlich neben uns auf die Bank.  

Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn an, als würde ich ihn heute zum ersten Mal sehen. Jonah verzog sein Gesicht zu einem spitzbübischen Lächeln.

„Verpiss dich“, schnarrte ich ihn an, „oder glaubst du, dass du mir jetzt ständig hinterher laufen kannst, nur, weil du mich einmal nackt gesehen hast?“

Jonahs Lächeln erstarb und seine blauen Augen verloren von einem auf den nächsten Moment ihr freches Glitzern. Ich tat so, als ob ich Emmas irritierte Blicke nicht bemerkte.

„Wenn du meinst“, flüsterte Jonah.

Während er sich erhob und schließlich mit hängenden Schultern davon ging,

spürte ich, wie sich mein Herz zusammen zog und in meinem Hals ein dicker Kloß wuchs. Irgendwie überfiel mich ein komisches Gefühl, als ich Jonah über den Schulhof schleichen sah.

„Warum hast du Tom eine gescheuert? Ich dachte …“, holte mich Emma aus meinen Gedanken. Ich zog wortlos mein Handy aus der Hosentasche und hielt es ihr unter die Nase. Emma überflog die Chatnachrichten zwischen Tom und mir mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Ich wusste es. So ein Idiot!“, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor.

„Noch Fragen?“, murmelte ich. Emma schüttelte leicht den Kopf. Doch schon im nächsten Moment sah sie mich mit

ihren großen blauen Augen an.

„Doch … eine Frage hätte ich noch. Wann hat Jonah dich eigentlich nackt gesehen?“

Ich öffnete meinen Mund, um ihr eine Antwort zu geben, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich es ihr erklären konnte, ohne dass sie einen totalen Lachanfall bekommen würde.

Doch zum Glück hörten wir gerade in diesem Augenblick die Schulglocke läuten. Erleichtert darüber, dass diese peinliche Angelegenheit nun erst einmal Jonahs und mein „Geheimnis“ bleiben würde, machte ich meinen Mund wieder zu und schob mich von der Bank. Ich fasste nach Emmas Ärmel und zog sie

mit mir. „Los, wenn wir bei der Berthold zu spät kommen, gibts Ärger. Und den kann ich gerade nicht gebrauchen“, sagte ich.

„Wann? Und wo? Los, Mila, sag schon“, bettelte Emma, während wir zum Schulhaus gingen. Aber ich schwieg beharrlich. Ich dachte nicht daran, ihr die Story zu erzählen jedenfalls nicht hier und jetzt; nicht mitten auf dem Schulhof.

Auch Tom und seine Kumpels machten sich auf den Weg zum Unterricht.

„Schaut nicht danach aus, als hätte dem dein Schlag was ausgemacht“, bemerkte Emma mit einem Blick auf ihn. „Der hat sich das Blut aus dem Gesicht gewischt

und weiter gehts.“

Meine Augen folgten ihren Blicken. Tom tuschelte mit den Jungen, die neben ihm gingen, ab und zu sahen sie zu uns her und lachten.

Meine innere Prinzessin schmollte weiter in der hintersten dunklen Ecke meiner Seele vor sich hin und putzte sich mit dem letzten Rest meines dünnen Selbstbewusstseins die Nase. Trotzdem zuckte ich nur mit den Schultern.

„Na, und? Aber es hat ihm wehgetan und er hat geblutet“, murmelte ich trotzig und scheinbar zufrieden mit mir. Ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob ich das auch wirklich war. Immerhin hatte ich eine absolute Niederlage erzielt. Tom

hatte mich nur benutzt. Und ich Idiotin hatte geglaubt, dass er es ernst meinen könnte. Dass er sich wirklich für mich interessierte. Jetzt war mir allerdings klar geworden, dass er viel zu besoffen gewesen war und ich ebenfalls. Denn sonst hätte ich mich nie und nimmer darauf eingelassen, dass er mit zu mir kommt. Dann hätte ich die ganze Sache penibel durchdacht. Immerhin musste das erste Mal gut vorbereitet sein. Davon konnte in diesem Fall ja wohl nicht die Rede sein. Gut, Tom war vorbereitet immerhin hatte er ein Kondom dabei. Mit Erdbeergeschmack! Ich hasste Erdbeeren und nur deshalb wurde mir in diesem Augenblick klar, dass es jedes

andere Mädchen hätte sein können, mit dem er in dieser Nacht im Bett gelandet wäre. Er hatte mich nur spontan auserwählt. Wahrscheinlich war ihm aber auch erst nach dem Aufwachen bewusst geworden, wo er war.

„Los, lass uns rein gehen. Ich will keinen Stress“, meinte ich schwach und zog Emma hinter mir durch die große Glastür, durch die Sekunden vorher auch Tom und seine Kumpels verschwunden waren.

Kapitel 9

Ich wollte mich ablenken.

Ablenken von jedem Gedanken an Tom und daran, dass er mich benutzt hatte. Ich wollte nicht mehr daran denken, dass

ich mich ihm für einen One-Night-Stand hingegeben hatte. Ich wollte die Tatsache, dass er mich, obwohl wir miteinander geschlafen hatten, wie Luft behandelte, aus meinem Kopf werfen.

Ich war wütend auf mich, weil ich einer Illusion erlegen war. Der Illusion, dass Tom und ich eines Tages händchenhaltend durch den Park spazieren würden, er mir Schmeicheleien ins Ohr flüstern und ich amüsiert kichern würde. Diese ganze rosarote Seifenblase war in einer Sekunde zerplatzt. Ich konnte mich nur nicht entscheiden, ob bereits an dem Morgen, als Tom unsere Wohnung sang- und klanglos verlassen hatte oder erst in dem

Augenblick, als mich auf dem Schulhof die bittere Wahrheit erwischte.

Nur eins war sicher ich musste diesen Typen aus dem Kopf bekommen. Und mit ihm diese Nacht.

Die Frage war nur, wie?  

Immerhin sahen wir uns an jedem verdammten Tag in der Schule. Tom war zwar in keinem meiner Kurse, doch wir liefen uns öfter über den Weg als mir lieb gewesen wäre. Ganz egal, ob ich aufs Klo, in die Cafeteria oder in einen der Unterrichtsräume ging irgendwo standen er und seine Kumpels immer herum, glotzten blöd und feixten mich dämlich an.

„Behandle ihn einfach auch so, als wäre

er gar nicht da“, riet mir Emma, als wir an einem Nachmittag zusammen durch die Stadt schlenderten. „Tu einfach so, als wäre zwischen euch nie etwas gewesen.“

„Klar doch, ist ja nicht so, dass ich mit diesem Affen mein erstes Mal hatte. Ist ja völlig unwichtig“, blaffte ich und sah Emma wütend an. Wie kam sie auf so einen blöden Gedanken. Sie konnte doch gar nicht mitreden. Immerhin hatte meine Freundin noch nie mit einem Jungen geschlafen. Felix und sie wollten auf den richtigen Augenblick warten. Sie wusste doch gar nicht, wie sich das anfühlte, wenn man jemandem das Beste und Wertvollste, das man besaß,

schenkte, er dieses Geschenk als selbstverständlich hinnahm und an der nächsten Ecke achtlos fallen ließ.

„Warum bist du denn so aggressiv? Seit Tagen heulst du mir die Ohren voll wegen Tom. Aber meine Meinung darf ich nicht sagen!“ Jetzt sah mich Emma ebenso wütend an, wie ich sie. Wir waren inzwischen stehen geblieben und standen uns mit funkelnden Augen gegenüber.

„Ich hab dir nicht gesagt, dass du deine Meinung kundtun sollst. Außerdem hast du gar keine Ahnung von all dem“, schnauzte ich Emma an.

„Aber du hast mir ständig deine Probleme vorgejammert“, entgegnete sie

mir. „Tom reagiert nicht auf meine Nachrichten. Tom hat mich benutzt. Tom behandelt mich wie Luft“, äffte sie mich nach.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte ich meiner besten Freundin, meiner herzallerliebsten Emma, eine reingehauen. Aber ich konnte mich gerade noch so beherrschen.

„Argh!“, rief ich aus, stampfte einmal kräftig mit dem Fuß auf und entspannte im gleichen Augenblick meine Hände wieder.

„Tut mir leid, Emma, ich wollte nicht …“, sagte ich leise. Ich hoffte, dass sie das versöhnen würde, doch Emma sah mich trotzig an.

„Weißt du was, ich halt ab jetzt einfach meine Klappe und kümmere mich nicht mehr um deine Probleme. Und wenn du wieder klar im Kopf bist, dann kannst du mir ja ´ne Nachricht schicken!“

Mit diesen Worten ließ mich Emma stehen. Meine beste Freundin, meine herzallerliebste Emma, ließ mich einfach so mitten auf dem Gehweg stehen. Ich sah ihr nach, solange, bis sie zwischen den anderen Menschen verschwunden war. Während ich hinter ihr her sah, spürte ich, wie Tränen in mir aufstiegen. Tränen der Wut, Tränen der Verzweiflung, Tränen der Einsamkeit, Tränen über den Verlust meiner Jungfräulichkeit. Und dann stand ich da

mitten auf dem Weg und heulte. Ich kümmerte mich nicht um die Leute, die einen Bogen um mich machen mussten und mich verwirrt anstarrten. Ich kümmerte mich nicht um die Mädchen, die kichernd an mir vorbeistaksten. Es war mir völlig egal, ob sie über mich lachten und was sie von mir dachten. Mir war alles egal. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf und hoffte, dass sie all das wegspülen würden, was mich belastete.

Keine Ahnung, wie lange ich da stand, doch irgendwann kam mir in den Sinn, dass ich ja schlecht den Rest meines jämmerlichen Lebens hier auf dem Gehweg stehen bleiben und heulen konnte.

Also wischte ich mir entschlossen die Tränen aus dem Gesicht. Und dachte dabei nach: Ich musste etwas finden, womit ich mich ablenken konnte. Ja, Ablenkung war das Richtige, wenn ich Tom vergessen wollte. Und ich musste unbedingt zu Emma. Ich musste sie um Verzeihung bitten. Tagelang hatte ich ihr die Ohren vollgequatscht. Über Tom und über meine Jungfräulichkeit, die ich am liebsten von ihm zurückgefordert hätte. Sie hatte Recht ich musste wieder klar im Kopf werden. Ich musste diesen Idioten, die Nacht und alles, was dazu gehörte, einfach vergessen.

Zaghaft setzte ich einen Fuß vor den anderen. Und wenn sie mich nicht sehen

wollte? Wenn sie meine Entschuldigung nicht annahm? Was, wenn sie mir die Freundschaft aufkündigte? Ich musste schlucken und beinahe hätte ich wieder angefangen mit heulen.

Plötzlich bekam ich einen schmerzhaften Stoß in den Rücken. Ich stolperte, taumelte zur Seite und konnte gerade noch verhindern, dass ich mitten auf dem Gehweg stürzte.

„Steh doch nicht im Weg herum“, schnauzte mich der alte Mann an, der mir seinen Ellenbogen in den Rücken gerammt hatte. Dann hastete er weiter.

„Arschloch!“, rief ich ihm hinterher und befürchtete, dass er noch einmal umdrehen und zurückkommen würde.

Doch zum Glück war er wahrscheinlich schon halb taub - nichts geschah.

Ich lehnte mich noch einen Augenblick gegen die Mauer des Hauses, neben dem ich stand. Und in diesem Augenblick entdeckte ich die perfekte Ablenkung. Es kam mir vor wie ein zaghafter Wink des Schicksals. „Aushilfe gesucht“, las ich auf einer kleinen schwarzen Tafel, die mitten auf dem Fußweg stand. Die pinkfarbenen Buchstaben sprangen mich direkt an. Ich hob meinen Kopf und sah, dass die kleine Tafel offensichtlich zu einem Cafè gehörte.

Ich blieb noch eine Weile unschlüssig stehen, doch meine innere Prinzessin sprang aus ihrer dunklen Ecke und schob

mich voller Ungeduld zur Tür.

Kapitel 10

Als ich an diesem Tag nach Hause kam, war ich Aushilfe im „Enjoy“.

Rasmus, der Besitzer, hatte mich zwar zuerst etwas irritiert gemustert, was sicher an meinen verheulten Augen gelegen hatte, doch er gab sich mit meiner plausiblen, wenn auch gelogenen Erklärung zufrieden, dass ich an einer Allergie leide. Und stellte mich schließlich ein.

Nun musste ich nur meinen Eltern noch erklären, dass ich ab heute dreimal in der Woche nach der Schule in dem kleinen gemütlichen Café in der Altstadt unseres Ortes Gläser und Tassen

herumtragen wollte.

„Und was wird mit den Hausaufgaben?“, lautete der erste Einwand meiner Mutter. Typisch!

„Du hast doch selbst gesagt, ich soll mir einen Job suchen, wenn mir mein Taschengeld nicht genug ist “, erwiderte ich.

„Ja, schon aber das hab ich doch nicht so gemeint“, versuchte meine Mutter ihre Äußerung zu verharmlosen.

Ich zuckte trotzig mit den Schultern. „Pech gehabt. Jetzt hab ich einen.“

Meine innere Prinzessin verschränkte die Arme vor der Brust und sah mit mir gemeinsam Mama selbstbewusst entgegen. Niemand auch nicht meine Mutter

würde mich daran hindern, diese verfluchte Nacht vergessen zu können.

Mit selbstbewussten Schritten verließ ich die Küche.

„Und die Hausaufgaben?“, rief mir Mama hinterher.

„Mach ich auch!“, rief ich über die Schulter zurück.

Das war die einzige Diskussion zu diesem Thema. Meine Eltern hatten sich damit abgefunden, dass ich versuchte, auf eigenen Füßen zu stehen. Zumindest war das ihre Erklärung für meine überstürzte Jobsuche. Ich hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass dieser Job mir sozusagen in einer ausweglosen Situation schicksalhaft vor die Füße gefallen war.

An einem Freitagnachmittag hatte ich meinen ersten Tag im „Enjoy“.

Rasmus hatte mir bereits einen Tag vorher alles Wichtige erklärt und gezeigt. Es war eigentlich nicht schwer. Ich musste die Bestellungen der Gäste aufnehmen, sie Rasmus übermitteln und dann warten, bis er alles vorbereitet hatte. Dann kam der schwierige Teil des Jobs, nämlich die Bestellung in Form von gefüllten Tassen, Tellern, Gläsern oder Eisbechern an die jeweiligen Tische zu transportieren.

Als ich zum ersten Mal eine Bestellung völlig falsch ablieferte, lachte Rasmus noch. Bei der ersten Bestellung, die auf dem Boden landete, ebenfalls. Nachdem

ich einer Dame einen Eiskaffee über die weiße Spitzenbluse geworfen hatte, zog er schon die rechte Augenbraue nach oben. Doch von Tag zu Tag gelang es mir immer besser, die Bestellungen unfallfrei zu den Tischen zu bugsieren. Ich durfte bleiben.

Emma allerdings war ein wenig sauer, dass ich nun so viel Zeit mit meinem Job anstatt mit ihr verbrachte. Ich wertete das als gutes Zeichen dafür, dass sie mir die Freundschaft nicht aufkündigen würde. Während ich Geld verdiente und dabei versuchte, Tom und diese verfluchte Nacht zu vergessen, hockte sie nun Nachmittag für Nachmittag im „Enjoy“ und erledigte ihre

Hausaufgaben. Wenn ich nicht so viel zu tun hatte, leistete ich ihr Gesellschaft und schrieb nebenbei an meinen Hausaufgaben.

Ich kam also meistens gar nicht dazu, über irgendwelche Dinge nachzudenken und so nach und nach gelang es mir tatsächlich, die Nacht aus meinen Gehirnschubladen zu schmeißen.

Bis zu dem Tag, als Tom „mein“ Cafè zu „seinem“ Cafè machte und die Schublade einfach wieder bis oben hin füllte.

Kapitel 11

Plötzlich saß er da. Ich hatte ihn weder kommen sehen, noch hatte ich bemerkt, wie er und seine Freunde sich an einen der Tische setzten. Es war ziemlich viel

los an diesem Nachmittag. Rasmus und ich hetzten nahezu ohne Pause vom Tresen zu den Tischen und wieder zurück. Ich hatte gar keine Zeit, zu erkennen, wer da saß und wen ich überhaupt bediente.

„Ey, Mila, beweg deinen Hintern endlich mal zu uns“, grölte es plötzlich von einem der Tische.

„Ja, Mann. Wir verdursten sonst“, hörte ich hinter mir.

„Moment“, rief Rasmus den Jungen zu. „Ihr seid auch gleich dran.“

„Aber wir wollen von der Schnecke da bedient werden. Ist nämlich die persönliche Freundin unseres Kumpels hier!", grölte es wieder, begleitet von

lautem Lachen.

Ich drehte mich abrupt um. Und da saß sie - die halbe Fußballmannschaft. Und Tom saß zwischen ihnen und grinste mich höhnisch an.

Ich blickte hilflos zu Rasmus. Mit einem Kopfnicken beorderte er mich hinter den Tresen.

„Was soll das? Wer sind die Typen?“, fragte er mich.

„Die Hälfte unserer Schulfußballmannschaft“, antwortete ich mit einem genervten Blick in Richtung des Tisches, an dem die Jungen saßen.

„Und was wollen die von dir?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Kaffee und Kuchen?“

„Ist der eine da dein Freund?“, quetschte mich Rasmus weiter aus und nickte in Toms Richtung.

Mein Chef war in den vergangenen Wochen ein echter Kumpel für mich geworden. Ich war ihm wirklich dankbar dafür, dass er mich, trotz meines anfänglichen Unvermögens beim Kellnern, behalten hatte. Aber ich konnte und wollte ihm nicht unbedingt erklären müssen, wie mein Verhältnis zu Tom aussah.

„Der ist heiß“, schob Rasmus hinterher, als ich wortlos zu Tom sah.

„Rasmus, noch ist der Typ minderjährig. Da kriegst du Ärger“, meinte ich darauf und klang dabei nicht mal ein klein

wenig amüsiert.

Rasmus sah aus wie ein Mann, er lief wie ein Mann, er sprach wie ein Mann und er liebte einen Mann. Als ich ihn das erste Mal mit seinem Sascha im Cafè herumknutschen sah, war ich noch geschockt. Inzwischen war es für mich normal, dass die beiden Zärtlichkeiten austauschten, wenn Sascha hier bei uns war.

„Aber gucken darf ich“, scherzte Rasmus weiter, doch dann sah er mich ernst an. „Er beachtet dich nicht, was?“ Seine Stimme bekam einen mitfühlenden Klang und ich musste schlucken.

„Ach komm, Süße, wenn er nicht weiß, wie toll du bist, dann ist er ein Idiot“,

sprach Rasmus weiter und nahm mich kurz in den Arm. Ich blinzelte schnell die Tränen weg, die sich auf den Weg aus meinen Augen heraus machen wollten.

„Wenn es nur das wäre“, murmelte ich in seine halblangen lockigen Haare.

Rasmus fasste mich bei den Schultern, schob mich ein Stück von sich weg und sah mir prüfend ins Gesicht.

„Oh, nein“, seufzte er. „Nicht das!“

Wie gesagt, Rasmus sah aus wie ein Mann, aber tief in sich fühlte er auch ab und zu wie eine Frau. Ich spürte sofort, dass er das Richtige dachte und nickte.

„Okay, kümmere dich um die anderen Tische. Die Burschen da übernehme ich“,

meinte Rasmus und schob mich in die andere Richtung. Ich war ihm unendlich dankbar dafür, dass er mich an diesem Naschmittag davor bewahrte, Tom und seinen Freunden ausgeliefert zu sein.

Doch seitdem kamen die Typen jeden Tag ins „Enjoy“. Ich wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Tom es darauf anlegte, mich demütigen zu wollen.

Manchmal war Rasmus nicht da und ich musste den Laden allein schmeißen. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu bedienen. Die Jungen bestellten dann wild durcheinander und amüsierten sich köstlich darüber, dass ich ins Schwitzen kam. Doch ich dachte nicht daran, sie spüren zu lassen, wie unsicher

ich mich fühlte.

„Ey, Mila, jetzt mach doch mal hin! Wir wollen hier nicht unseren Rentenantrag ausfüllen“, rief Fynn, einer von Toms Freunden, an einem der Nachmittage, an denen ich allein im Café arbeitete.

Es war nicht allzu viel los, doch die Kaffeemaschine spann, ich musste neue Milch aus dem Vorratskeller holen und noch ein paar Kuchen bei unserer Haus- und Hofbäckerin bestellen.

„Ja, Moment, bitte“, entgegnete ich, sichtlich um Beherrschung bemüht, denn der Ton, den dieser Kerl mir gegenüber anschlug, war unverfroren.

„Ey, Tom, war die im Bett auch so langsam?“

Mir fiel vor Schreck das Latte-Macchiato-Glas aus der Hand, das ich gerade füllte. Ein Gemisch aus Scherben und Milchkaffee spritzte über den Tresen und auf den Fußboden.

Schlagartig wurde es mucksmäuschenstill. Alle Cafèbesucher stellten augenblicklich ihre leise gemurmelten Gespräche ein und starrten mich an. Ich weiß nicht, ob sie mich in Tränen ausbrechen oder einfach meine Reaktion auf diese Frechheit sehen wollten, doch diese unzähligen auf mich gerichteten Augenpaare brachten mich fast um den Verstand.

Fynn feixte. Ich vermutete, dass er die Frage an Tom absichtlich so laut gestellt

hatte, dass es jeder im Cafè hören konnte.

Ich sah zum Tom. Wie würde er reagieren? Sein Blick verriet mir, dass wohl auch ihm diese Frage unangenehm war. Vielleicht auch nur meine Reaktion darauf. Doch mit jeder Sekunde, die verging, verzogen sich seine Mundwinkel mehr und mehr zu einem breiten, bösen Grinsen.

„Nun ja, was soll ich sagen“, begann er in seinem großkotzigsten Tonfall und ließ mich dabei nicht eine Sekunde aus den Augen, „der Hammer war sie nicht. Aber beweglicher als jetzt auf alle Fälle.“

Seine Kumpel am Tisch fingen laut an zu

brüllen. Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und lachten sich scheckig.

„Dann beweg dich jetzt mal an unseren Tisch!“, grölte Fynn mit Tränen in den Augen.

„Oder besser noch auf dem Tisch!“, brüllte Marvin lachend.

Ich weiß echt nicht, was daran so lustig sein sollte. Das war kein Witz, das war noch nicht mal ein Scherzchen, über das man hätte lachen können. Das war einfach nur saudumm und gemein. Ich stand hinter dem Tresen, verspürte aber weder die Kraft, einfach zu gehen, noch die Kraft, diesen idiotischen Kerlen eine passende Bemerkung an den Kopf zu

pfeffern. Ich konnte einfach nur dastehen und den Tränen der Enttäuschung und der Demütigung freien Lauf lassen.

Durch den Tränenschleier hindurch sah ich plötzlich, wie  sich jemand in der anderen Ecke des Cafès langsam erhob. Ich hatte diesen Gast den ganzen Nachmittag lang noch nicht wahrgenommen. Rasmus hatte ihn noch bedient, kurz bevor ich gekommen war. Seitdem hatte er noch nichts Neues bestellt.

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

Klar und deutlich sah ich nun, dass der Junge, der sich fast wie im

Zeitlupentempo auf den Tisch von Tom und seinen Freunden zubewegte, eine hellgrüne Mütze auf dem Kopf trug.

Kapitel 12

„Lass Mila in Ruhe, du Blödmann!“, knurrte Jonah, als er vor dem Tisch stand.

Tom hob kurz seine rechte Hand und brachte seine Kumpels mit dieser Geste zum Schweigen.

„Was hat der Spasti mit dem grünen Eierwärmer auf dem Kopf zu mir gesagt?“, fragte er seine Freunde, schraubte sich betont langsam vom Stuhl und wischte Jonah mit einer schnellen Handbewegung die Mütze vom Kopf.

Braune Haare, braune halblange Haare

kamen zum Vorschein. Nun war das Rätsel um Jonahs Haare endlich gelüftet. Ich war von dieser Erkenntnis ziemlich verblüfft. Später hielt ich es für völlig absurd, dass mich Jonahs Frisur in diesem Moment so vorrangig beschäftigt hatte.

Jonah bückte sich, hob seine Mütze vom Boden auf und setzte sie in aller Ruhe wieder auf den Kopf. Ein paar seiner braunen Haarsträhnen schauten an den Seiten heraus.

„Du sollst Mila in Ruhe lassen, Tom Bergmann!“, zischte er währenddessen seelenruhig, doch ich vermutete, dass er wütend war. Seine Gelassenheit schien jedoch die Wut, die er in sich spürte, im

Zaum halten zu wollen.

Tom ließ seine Hand nach vorn schnellen und packte Jonah am Shirt. Er zog ihn dicht an sich heran. Jetzt konnte man noch viel deutlicher sehen, dass Tom den schmalen Jungen nicht nur um fast zwei Köpfe überragte, sondern auch sonst viel muskulöser und breitschultriger als Jonah war. Neben Tom wirkte Jonah wie ein Unterstufenschüler.

„Halt deine Fresse, du Intelligenz-Pussy. Dich hat keiner nach deiner Meinung gefragt!“, fauchte Tom Jonah wütend an.

Doch der dachte nicht daran. „Such dir Leute, die dein Niveau haben, wenn du dich zoffen willst. Aber lass es nicht an einem Mädchen aus.“

Jonah kam mir in diesem Augenblick so stark vor, obwohl er sichtbar schwächer war, als Tom. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Tom, der eindeutig Stärkere, in dieser Situation nicht wirklich wusste, was genau er jetzt tun sollte. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, Jonah einfach eine reinzuhauen und dann schnell zu verschwinden. Ehrlich gesagt, befürchtete ich genau das und wusste nicht, wie der schmächtige Jonah das verkraften würde.

Doch ich bemerkte, dass Tom zögerte.

Jonah sah Tom entschlossen ins Gesicht. Er musste dafür seinen Kopf leicht in den Nacken legen und es hatte für mich den Anschein, dass er dem größeren

Jungen direkt in die Augen blicken wollte. Nur um ihm zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte.

„Na los, Tom. Drück ihm eine rein!“, „Mach ihn platt, den Schlappschwanz!“, „Stopf ihm das Maul, damit er sich merkt, dass er sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen soll!“, feuerten Toms Freunde ihren Mannschaftskapitän an. Doch der zögerte noch immer.

Ich sah mich hilflos nach den anderen Gästen um, doch immer, wenn mein Blick sie traf, sahen sie in einen andere Richtung oder begannen ein Gespräch mit ihren Begleitern.

Gerade jetzt war keiner der

Stammkunden im Cafè. Die hätten sicher eingegriffen, doch die Touristen wollten sich anscheinend nicht in den Streit einmischen. Wenn nur Rasmus oder wenigstens Sascha gleich kommen würden. Aber Rasmus hatte sich frei genommen, weil er Sascha einen Shoppingnachmittag versprochen hatte. Das konnte dauern. Auf die beiden brauchte ich jetzt noch nicht zu hoffen.

„Lass Jonah in Ruhe, Tom. Das ist doch eine Sache zwischen dir und mir”, bat ich beinahe flehend, als ich meine Fassung, die mir vor ein paar Minuten durch Toms Bemerkung verloren gegangen war, zurück erlangte. Toms eisige Blicke trafen mich und sie fuhren

durch meinen ganzen Körper. Mir wurde schlagartig kalt.

Diese ganze Zärtlichkeit, die ich in jener Nacht gespürt hatte, schien eine riesengroße Illusion gewesen zu sein. War das überhaupt dieser Tom, mit dem ich in meinem Bett unter der New Yorker Skyline Streicheleinheiten und Küsse ausgetauscht hatte? War das dort der Junge, der mit einem engelsgleichen Gesicht neben mir gelegen hatte? Das war schwer zu glauben.

Ich hasste mich in diesem Moment dafür, dass ich an diesem Abend am See zu viel getrunken und dadurch offensichtlich meinen Verstand verloren hatte. Und ich hasste den Jungen, der dort vor mir

stand und seine ganze Kraft an einem ihm unterlegenen Gegner auszulassen drohte. Ich hasste ihn dafür, dass er seinen Fuß jemals ins mein Haus, in mein Zimmer, in mein Bett und schließlich in „mein“ Cafè gesetzt hatte. Ich hasste ihn dafür, dass er mir das Wertvollste genommen und es achtlos weggeworfen hatte.

Meine innere Prinzessin erhob sich und war fest entschlossen, sich wenigstens ihre Würde wieder zurück zu holen.

Wie in Zeitlupe lief ich über die kleinen Scherben, die am Boden lagen und hörte sie leise unter meinen Schuhsohlen knistern. Ich ging bis zu der Stelle, an der Tom und Jonah standen.

Tom hielt Jonah noch immer am Shirt gepackt und sah mich herausfordernd an. Ich erwiderte seinen Blick standhaft.

„Geh, Mila. Ich schaff das schon“, zischte mir Jonah entgegen. Doch ich achtete nicht darauf.

„Lass ihn los! Sofort!“, knurrte ich.

„Und wenn nicht?“, fragte Tom.

Tja, was dann? Darüber hatte ich nicht nachgedacht. Ich war aus irgendeinem Grund davon ausgegangen, dass er Jonah in Frieden lässt, wenn ich das sage. Doch scheinbar dachte er nicht im Entferntesten daran.

„Dann rufe ich die Polizei!“

Meine innere Prinzessin stellte sich kerzengerade mit  stolzgeschwellter

Brust hin und legte ihren triumphierenden Blick auf. Ich hatte keine Ahnung, woher dieser Gedanke gekommen war, aber scheinbar schien er zu wirken. Gleichzeitig angelte ich in meiner Hosentasche nach dem Telefon.

Tom ließ Jonahs Shirt los. Jonah taumelte ein wenig nach hinten, blieb aber auf beiden Beinen stehen. Vorsichtshalber hatte ich meinen Arm ausgestreckt, um ihn notfalls auffangen zu können. Aus irgendeinem Impuls umfasste ich nun seine schmalen Hüften, sodass es aussah, als würde ich ihn liebevoll umarmen. Doch bereits im nächsten Moment zog ich meinen Arm zurück, als hätte ich einen schmerzhaften

Stromschlag bekommen.

Jonah drehte sein Gesicht zu mir, warf mir einen bedauernden Blick zu und zwinkerte im gleichen Augenblick frech. Ich fragte mich, wie um alles in der Welt er schon wieder so drauf sein konnte, obwohl Tom ihn beinahe zusammengeschlagen hätte.

„Und jetzt verschwindet ihr aus dem Cafè“, zischte ich. „Und kommt am besten gar nicht wieder. Ihr habt hier Hausverbot!“

Tom gab seinen Kumpels ein Zeichen, worauf hin sie sich erhoben. Als sie an der Tür waren, drehte er sich noch einmal um. Er verharrte einen Augenblick und ich fragte mich, was er

vorhatte. Wollte er sich etwa entschuldigen?

Mit einem langen Schritt war er wieder bei uns und schlug Jonah urplötzlich mit der Faust mitten ins Gesicht.

Jonah ging in die Knie und presste sich seine Hände vor die Nase. Auf dem Boden vor ihm bildete sich ein roter See.

„Damit das Hausverbot in dieser Schwulenkneipe nicht umsonst ist, du dämliche Tussi!“, knurrte er in meine Richtung, dann verließ er das „Enjoy“.

An der Tür stieß er mit Rasmus zusammen, der gerade in Saschas Begleitung sein Cafè betrat.

Sprachlos starrte Rasmus abwechselnd

auf den roten Blutsee vor Jonah und zur Tür, durch die Tom fluchtartig verschwunden war.

Kapitel 13

„Was war denn hier eigentlich los?“, fragte Rasmus ganz aufgeregt, während ich am Boden neben Jonah kniete und ihm eine Serviette nach der anderen reichte.

„Hol etwas Kaltes. Wir müssen es ihm in den Nacken legen“, redete einer der Gäste von der Seite auf mich ein. Ich drehte meinen Kopf und sah ihn entgeistert an.

„Ich bin Arzt“, sagte er, vielleicht, weil er diese Information wichtig fand.

„Toll, und wo waren Sie, als der Kerl

Jonah bedroht hat, Herr Doktor?“, blaffte ich den Mann an.

Dann erhob ich mich, holte aus dem Eisschrank den kleinen Beutel mit einem Rest Crushed-Ice, wickelte ihn in ein Handtuch und legte das kühlende Päckchen in Jonahs Nacken.

„Was war hier los?“, fragte Rasmus noch einmal, offenbar sauer darüber, dass ich das erste Mal seine Frage schlichtweg ignoriert hatte.

„Tom und seine Freunde waren wieder da und haben mich blöd angemacht. Jonah hat sich eingemischt und dafür hat ihm Tom eine reingehauen“, informierte ich meinen Chef im Telegrammstil.

Rasmus verdrehte genervt die Augen.

Zum ersten Mal nahm ich an einer seiner nonverbalen Äußerungen ganz bewusst so etwas wie „schwul“ wahr. Sonst fiel mir das gar nicht so sehr auf. Vielleicht, weil es für mich völlig normal war.

„Ach und ich hab denen Hausverbot erteilt“, schob ich hinterher. „Darf ich das überhaupt?“

„Ähm, klar darfst du das. Und erst recht, wenn die meinen kleinen Bruder zusammenschlagen.“

Diese Information traf mich wie ein Donnerschlag. Jonah war der kleine Bruder von Rasmus?

„Wie jetzt? Jonah ist … Jonah ist dein Bruder?“, fragte ich verwirrt und sah zu, wie Rasmus und der feige Herr Doktor

Jonah zu einem Stuhl bugsierten. Ich fragte mich im selben Moment, weshalb sie das zu zweit taten, denn Jonah war unverkennbar leicht wie eine Feder. Zumindest stellte ich mir vor, dass er es war.

Rasmus hockte sich vor Jonah und hielt ihm mit besorgtem Blick den Eisbeutel in den Nacken. Mit der anderen Hand versuchte er, dem Jungen das Blut aus dem blassen Gesicht zu wischen. Ich hockte mich neben die beiden, ließ meine Augen zwischen ihnen hin und her wandern und versuchte, Ähnlichkeiten zu erkennen.

Rasmus drehte seinen Kopf in meine Richtung und sah mich ärgerlich an.

„Ja, Jonah ist mein Bruder. Und nein, wir sehen uns nicht ähnlich, weil er mein Stiefbruder ist“, erklärte er. Ich zuckte zurück, weil er meine Gedanken erkannt hatte.

„Was schnauzt du mich eigentlich so an. Renn Tom hinterher und räche deinen Bruder“, meinte ich beleidigt.

„Aber du hast dem Kerl einen Grund gegeben, hier Zoff zu machen“, murmelte Rasmus.

Meine innere Prinzessin stampfe empört mit dem Fuß auf und ballte die Fäuste.

„Jetzt reicht es aber!“, rief ich aus. „Habe ich deinen kleinen Bruder gebeten, mich gegen einen Kerl zu verteidigen, der zwei Köpfe größer und

viel stärker ist als er selbst? Nein, hab ich nicht!“

Ich knallte die Servietten, mit denen wir den Blutfluss aus Jonahs Nase stoppen wollten und die ich noch immer in den Händen hielt, auf den Tresen. Dann stürzte ich in den kleinen Raum hinter dem Cafè, griff mir meine Tasche und stürmte wieder nach vorn.

„Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal!“, blaffte ich Rasmus an und schoss wie eine wildgewordene Katze zur Tür hinaus. Dort trat ich noch einmal kräftig gegen die kleine schwarze Tafel mit den rosaroten Empfehlungen des Tages, die daraufhin scheppernd gegen die Hausmauer knallte.

Dann ließ ich das Cafè hinter mir. Und mit dem Cafè auch diesen ganzen verdammten Tag.

Ich war so voller Wut, dass ich nicht einmal mehr hörte, wie Rasmus meinen Namen rief.

Kapitel 14

„Hey, antworte mir doch einmal.“

„Mila! Ich will mit dir reden!“

„Hallo!? Erde an Mila!“

Mein Handy piepte unaufhörlich und zeigte mir nun schon mindestens 10 Nachrichten von Rasmus an, die ich jedoch stur ignorierte. Gut, die ersten hatte ich noch gelesen, allerdings auch unbeantwortet gelassen. Aber langsam nervte es.

„Was ist?“, schrieb ich zurück und hoffte, dass er meine miese Laune hinter den Worten spüren konnte.

„Ich wollte nicht, dass du gehst. Sorry, tut mir leid, wenn ich dich blöd angemacht habe.“

„Und warum hast du es dann gemacht? Ich kann doch nichts dafür, dass Tom Bergmann ein Arschloch ist!“, schrieb ich mit festem Druck zurück. Ich befürchtete, dass ich das Display meines Smartphones zerdrücken würde, so viel Kraft wendete ich beim Tippen an.

„Ich war einfach besorgt um Jonah, weißt du?“

Ich sah Rasmus vor meinem inneren Auge wieder vor Jonah knien. Ich sah

seinen besorgten Blick. Und auf einmal wurde es mir in meiner Brust ziemlich eng. Ich wusste plötzlich, dass das, was ich am Nachmittag im Cafè beobachtet hatte, echte Geschwisterliebe war. Und dabei waren die beiden „nur“ Stiefgeschwister. Ich wusste zwar nicht, ob das etwas zu bedeuten hatte, doch ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, dass andere Menschen so etwas auch zwischen Pia und mir sehen könnten. Wir hassten uns nicht direkt. Aber wir liebten uns auch nicht abgöttisch. Wir waren eben Schwestern. Aber das, was ich da heute zwischen Rasmus und Jonah gesehen hatte, war etwas völlig anderes.

„Ich habe mir auch Sorgen gemacht. Wie

geht es ihm?“, schrieb ich zurück. Meine Finger waren sanfter geworden, die Wut hatte sie nicht mehr so fest sehr im Griff. Und ich meinte die Worte, die ich schrieb, tatsächlich ernst.

„Er schläft. Wir waren im Krankenhaus, weil der Herr Doktor (der aus dem Cafè) gemeint hat, die Nase könnte gebrochen sein. Aber alles okay. Keine gebrochene Nase.“

Plötzlich kam mir ein absurder Gedanke. Ich rutschte von meiner Matratze, ging zum Fenster und schob die Gardine ein Stück zur Seite.

„Bist du etwa bei Jonah?“, schrieb ich an Rasmus.

„Wo denn sonst?“

„Dann könntest du mich sehen.“

„Ich weiß.“

Und schon im nächsten Moment ging im Haus gegenüber ein Fenster auf und Rasmus winkte mir lachend zu.

„Darf ich wieder ins Cafè kommen?“, tippte ich schnell.

„Aber klar doch, meine liebe Mila. Du denkst doch nicht etwa, dass ich die ganze Arbeit allein machen will.“

Ich riss mein Fenster auf, winkte und warf Rasmus wilde Kusshändchen über die Straße zu. Wahrscheinlich dachten die Leute unten auf dem Gehweg jetzt, dass ich völlig übergeschnappt wäre, doch im Grunde genommen waren mir die Leute da unten auf dem Gehweg

scheißegal.

„Sag Jonah liebe Grüße von mir. Und danke!“,  schrieb ich noch schnell und schickte ein „Bis morgen Nachmittag“ hinterher.

Am nächsten Morgen wurde ich durch das Piepen meines Handys geweckt. Mit geschlossenen Augen und noch völlig verschlafen angelte ich auf dem Schränkchen neben meinem Bett danach und hielt mir das Gerät direkt vors Gesicht.

„Morgen. Schon wach?“

„Wer will das wissen?“, fragte ich, denn ich konnte nicht erkennen, wer mich da so früh am Morgen aus dem Schlaf

gerissen  hatte. Die Nummer, die das Display anzeigte, war mir völlig unbekannt.

„Jonah.“

Sofort war ich hellwach und fuhr hoch. Woher zum Geier hatte der meine Nummer?

„Woher hast du meine Nummer?“, schrieb ich mit zitternden Fingern.

„Rasmus hat sie mir gegeben.“

„Warum?“

„Weil ich ihn darum gebeten habe.“

„Macht Rasmus alles, worum du ihn bittest?“

„Nicht alles.“

Ich saß da, starrte auf mein Smartphone und überlegte, was ich nun tun sollte.

Zum einen war ich wütend auf Rasmus, dass er seinem Bruder meine Nummer gegeben hatte. Er hätte doch wenigstens fragen können, ob er das überhaupt darf. Zum anderen wusste ich wirklich nicht, was ich mit Jonah schreiben sollte. Und wollte ich das überhaupt? Okay, er war in meinem Kurs, er war der kleine Bruder meines Chefs, er hatte gestern versucht mich zu beschützen und das war der Grund, weshalb ich eigentlich nichts mit ihm zu tun haben wollte er stieg mir seit einigen Wochen hinterher. Zumindest empfand ich das so.

„Hallo, bist du wieder eingeschlafen?“, kam nach einigen Minuten eine neue Nachricht von Jonah.

„Nein“, antwortete ich kurz angebunden.

„Warum schreibst du dann nichts mehr?“

„Weil ich nicht weiß, worüber ich mit dir reden soll.“

Das war hart, aber ehrlich. Mir fiel wirklich nichts ein, worüber ich mich mit Jonah unterhalten sollte. Über seine Hobbys? Über die Schule?

„Zum Beispiel über gestern.“

Das war nicht sein Ernst! Er wollte wirklich über die Szene im Cafè reden?

„Okay, dann reden wir über gestern. Warum hast du dich mit Tom angelegt?“, schrieb ich trotzdem.

„Weil er ein Idiot ist“, lautete Jonahs prompte Antwort.

„Das ist mir völlig neu“, tippte ich und

setzte einen Zwinker-Smiley dahinter.

„Deshalb sage ich es dir ja.“ Grinse-Smiley.

Wir schrieben noch ein bisschen sinnlosen Kram hin und her.

„Ich muss jetzt aufstehen. Die Schule geht gleich los. Kommst du heute?“, schrieb ich nach einem erschrockenen Blick auf die Uhr. Es war schon kurz nach Sieben.

„Ja, ich will. Was soll ich denn zuhause?“

„Dich erholen? Immerhin hast du gestern eins auf die Nase bekommen.“

„Langweilig. Ich lag schon oft genug einfach nur herum.“

Ich schob mich aus dem Bett und

schnappte mir meine Klamotten. Ich hatte nicht mehr viel Zeit; ausgiebiges Make-Up und ein ausgewogenes Frühstück mussten leider ausfallen. Zum Glück waren meine Eltern nicht mehr da, Mama hätte wieder ihren ernsten Erziehungsblick aufgesetzt und mich darüber belehrt, wie wichtig ein gutes Frühstück für die Konzentration in der Schule ist.

Als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog, piepte mein Handy. Ich sah auf das Display. Jonah Nummer.

„Wollen wir zusammen gehen?“

„Wie bitte???“ Entsetzter Smiley.

„Zur Schule, meine ich.“ Tränenlach-Smiley.

Ich atmete auf. Ach so!

„Wann?“, tippte ich schnell.

„Jetzt.“

Ich zögerte, bevor ich „Okay“ tippte. Dann sprang ich die Treppe hinunter.

Jonah wartete schon vor der Haustür auf mich.

„Hallo“, sagte ich und war bereits losgelaufen, als ich bemerkte, dass er mir ein kleines Päckchen entgegenhielt. Ich sah ihn fragend an, während ich danach griff.

„Frühstück“, erklärte er mit seinem unverkennbaren Grinsen im Gesicht. „Ich dachte, dass du bestimmt keine Zeit mehr dafür hattest.“

Wie machte er das?

„Danke, das stimmt“, erwiderte ich völlig perplex und sah auf die kleine Tüte, in der ich ein Nutellabrötchen erkannte. Hoffentlich packte er nicht gleich auch ein Make-Up-Täschchen aus, weil er sich denken konnte, dass ich auch keine Zeit mehr hatte, um mich ordentlich zu schminken.

„Du kannst es ruhig essen, nicht nur ansehen“, bemerkte Jonah und lächelte mich mit seinem zarten Jungengesicht an.

Während wir gingen, packte ich das Brötchen aus. Einen kurzen Moment zögerte ich noch. Woher wusste er, dass ich morgens immer ein Nutellabrötchen frühstückte? Beunruhigt sah ich in von

der Seite an. „Du kannst nicht etwa rein zufällig auch direkt in unsere Küche gucken von deinem Fenster aus, oder?“, fragte ich.

Jonah lachte kurz auf. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das kann ich nicht“, meinte er grinsend. Er lachte noch einmal verhalten auf, als er sah, wie ich erleichtert ausatmete.

„Aber von unserem Küchenfenster“, schob er gelassen hinterher.

Augenblicklich verschluckte ich mich an dem Brötchenstück, an dem ich gerade genüsslich kaute.

„Alles gut, du kannst dich entspannen. Aber du hast wohl irgendwann Rasmus gegenüber erwähnt, dass du am Morgen

immer, aber wirklich ausnahmslos, ein Nutellabrötchen isst. Ich hab ihn vorhin einfach gefragt“, erklärte Jonah. Das Grinsen verschwand keine Sekunde aus seinem Gesicht.

„Er ist bei dir?“, fragte ich.

Jonah nickte. „Er hat heute Nacht bei mir geschlafen. Hat sich Sorgen gemacht. Unsere Eltern sind gerade für ein paar Tage zu unserer Schwester gefahren, weil sie ein Kind bekommen hat. Hat Rasmus dir das nicht erzählt?“

„Bis gestern Nachmittag wusste ich noch nicht mal, dass mein Chef einen Bruder hat, der  im Haus gegenüber wohnt und mit mir in den selben Kurs geht“, brummte ich vorwurfsvoll.

Komischerweise schwieg Jonah plötzlich. Verdutzt sah ich ihn an.

„Was ist?“, fragte ich.

„Naja, wie soll ich es sagen, ohne dass du gleich in die Luft gehst“, meinte er und wackelte ein bisschen mit seinem Kopf hin und her. „Du hast dich ja auch nie sonderlich für mich interessiert.“

Jetzt schwieg ich, denn er hatte Recht.

Auf einmal verspürte ich in mir dasselbe Gefühl wie an dem Tag, an dem ich Jonah auf dem Schulhof weggeschickt hatte und er mit hängenden Schultern davon gegangen war.

Ohne es bewusst selbst zu wollen, ertappte ich mich in diesem Augenblick dabei, etwas Liebevolles, Akzeptables,

Bewundernswertes an Jonah zu finden. Ich zwang mich unbewusst dazu, etwas zu entdecken, dass es mir möglich machte, diesen blassen, schmächtigen Jungen gern zu haben. Und in diesem Moment, den wir hier miteinander verbrachten, glaubte ich, es gefunden zu haben. Mich faszinierten seine offenen blauen Augen, die zu jedem Zeitpunkt zu strahlen schienen. Mich begeisterte sein Lachen, das immer ehrlich zu sein schien. Mir gefiel der Klang seiner weichen dunklen Stimme. Ich bewunderte ihn für seine Klugheit, für seinen unwiderstehlichen Charme, der ihm aus allen Poren seines  zerbrechlich erscheinenden Körpers sprießte. In

diesem Augenblick genoss ich es in vollen Zügen, in seiner Nähe zu sein, ihn reden und lachen zu hören.

Etwas in mir verband sich mit allem in ihm.

Das einzige Problem war mein Gehirn, das noch nicht so recht wollte, dass ich Jonah mochte.  

Kapitel 15

Emma sah mich völlig entgeistert an. Ich hatte ihr gerade von Jonah und mir erzählt; davon, was im Cafè passiert war und dass wir am Morgen gemeinsam zur Schule gegangen waren.

„Und wo ist jetzt dein Problem?“, fragte sie und warf mir ein paar vorwurfsvolle Blicke zu.

Ich zögerte. Konnte ich Emma die Wahrheit sagen, ohne dass sie gleich ausrastete?

„Naja, ich weiß nicht so recht … was die anderen dazu sagen, wenn wir jetzt … hin und wieder zusammen … abhängen würden“, druckste ich herum.

Emma blieb mitten auf der Straße stehen. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, schloss ihn wieder. Doch dann redete sie schonungslos auf mich ein.

„Du machst dir also Gedanken darum, was die anderen sagen, wenn du mit Jonah abhängst? Mila, bitte. Wer bist du denn, dass dich die Meinung der anderen juckt? Lass sie doch reden. Jonah ist ein

Mensch wie jeder andere. Nein, halt. Nicht wie jeder andere. Jonah ist ein ganz besonderer Mensch. Er ist nicht so oberflächlich wie die meisten Leute und da zähle ich uns jetzt mal mit dazu. Er ist einfach nett eigentlich zu gut für diese Welt. Wenn ich mal ganz ehrlich bin, dann habe ich mich schon öfter gefragt, weshalb wir nicht mehr mit ihm abhängen als mit den anderen aus unserer Clique. Für die ist man doch nur interessant, wenn man den neuesten Kram hat, die beste Musik mag und immer was zu saufen mitbringt. Und du hast selbst erlebt, wie oberflächlich so eine Freundschaft sein kann.“

Ich warf Emma einen wütenden Blick zu,

weil sie mich gerade wieder an die Nacht erinnerte, die ich eigentlich mit Erfolg aus meinem Kopf verdrängt hatte. Doch dann entspannte ich meine Gesichtszüge wieder.

„Ja, ich mache mir Gedanken darum. Aber andererseits möchte ich auch mit Jonah befreundet sein. Das sagt mir mein Herz, aber mein verdammter Kopf denkt anders darüber“, entgegnete ich.

„Dann hör auf dein Herz“, murmelte Emma, während sie weiterging.

Wir wollten ins „Enjoy“.

Eigentlich hatte ich mich mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend auf den Weg dorthin gemacht. Was würde passieren, wenn Tom und seine Kumpels

heute trotz des Verbotes wiederkommen würden? Wie sollte ich in diesem Fall reagieren? Wie würde Rasmus reagieren?

Zögernd öffnete ich die Tür und trat ein. Es war noch nicht so viel los. An ein paar Tischen saßen ältere Touristen, schlürften ihren Kaffee und stocherten mit kleinen Gabeln im Blechkuchen herum, während sie sich leise unterhielten.

Rasmus stand hinterm Tresen und grinste mir glücklich entgegen, als er mich erblickte.

„Mila, meine Sonne, gut dass du kommst. Ich dachte schon, dass du es dir doch anders überlegt hast“, empfing er mich und er meinte das ernst, das spürte

ich.

Ich ging zu ihm hinter den Tresen, umarmte ihn kurz und sagte: „No way ich brauch die Kohle und die Ablenkung.“

Während ich mir meine dunkelrote Kellnerschürze um die Hüften band, suchte ich Emma. Ich entdeckte sie in einer Ecke des Cafès am Tisch eines Jungen mit gelber Häkelmütze. Rasmus hatte mir schon ein Tablett zurecht gestellt. „Tisch 4“, sagte er.

„Einen Augenblick, ich muss erst jemanden begrüßen“, entschuldigte ich mich und lief schnell zu Emma und Jonah.

„Hi, Jonah, lange nicht gesehen.“

Ich merkte, wie mein Kopf sich geschlagen gab, beugte mich zu Jonah hinunter und umarmte ihn kurz, aber fest.

Emma nickte mir anerkennend zu; Jonah allerdings war für einen kurzen Augenblick tatsächlich sprachlos.

„Mila, was war das jetzt?“, flüsterte er heiser und sah mich entgeistert an, als ich ihn wieder losgelassen hatte.

„Ich nenne es freundschaftliche Umarmung. Ich weiß nicht, wie du dazu sagst“, erwiderte ich grinsend. Dann plapperte ich völlig adrenalingeladen weiter: „Okay, was kann ich euch bringen? Sekt? Wollen wir auf unsere Freundschaft anstoßen?“,

Ich hörte es hinter mir klappern und in der nächsten Sekunde stellte Rasmus ein Tablett mit 4 Gläsern auf den Tisch. „Darf ich mitmachen?“, fragte er gut gelaunt und füllte die Gläser.

„Wann kommt unsere Bestellung“, rief der Mann von Tisch 4. Rasmus drehte sich um, winkte ab und antwortete höflich: „Sofort. Aber erst müssen wir eine Freundschaft besiegeln.“

Emma und Jonah saßen den ganzen Nachmittag über den Mathematikaufgaben, ich hockte mich hin und wieder zu ihnen, wenn gerade nichts zu tun war. Jonah erklärte uns geduldig wie ein Engel, was es mit diesen verfluchten Vektoren auf sich

hatte und zum ersten Mal begriff ich überhaupt ein Wort davon.

Mein Herz hatte sich durchgesetzt. Mir war seit diesem Tag wirklich völlig egal, was die anderen dachten. Doch komischerweise dachten sie gar nichts darüber. Ich hatte damit gerechnet, dass sie Emma und mich blöd anmachen würden, wenn sie sahen, dass wir viel Zeit mit Jonah verbrachten. Aber nichts dergleichen geschah. Es war, als würde es für sie selbstverständlich sein, dass er von diesem Tag an mit uns gemeinsam zum See kam.

Nur Tom ließ an einem gemütlichen Sommerabend einen blöden Spruch los.

„Sieht fast so aus, als hättest du bei dem Spasti mehr Erfolg?“, stänkerte er und sah sich nach Beifall heischend zu seinen Kumpels um. „Naja, der wäre ja auch schön blöd, wenn er dich nicht nehmen würde. Was Besseres als dich kriegt der nämlich nicht.“

Ich zuckte zusammen. Wie konnte jemand, der so hübsch war, so hässlich sein?

Doch ich konnte und wollte es nicht zulassen, dass Tom die Oberhand über meine Gefühle behielt.

Meine innere Prinzessin richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nenn ihn nicht so. Er heißt Jonah, falls

du dir das merken kannst, du Hirni. Und außerdem, er schnarcht wenigstens nicht und stinkt auch nicht nach abgestandenem Alkohol aus dem Mund. Und er ist ein Mensch, der es verdient, so genannt zu werden. Im Gegensatz zu dir behandelt er die Leute um sich herum mit Respekt “, zischte ich und wendete meinen entschlossenen Blick nicht eine Sekunde von Tom.

„Uh, Tom. Da redet aber jemand Klartext. Stimmt das? Du schnarchst und müffelst?“, feixte Fynn. Tom brachte ihn mit einem Ellenbogenstoß in die Rippen zum Schweigen. Fynn krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Ach, du verprügelst also auch deine

Freunde, wenn dir nicht passt, was sie sagen?“, bemerkte ich trocken und betonte dabei das Wort „Freunde“ ganz besonders.

„Hin und wieder“, murmelte Fynn, der noch immer nach Luft schnappte und bekam für diese Bemerkung gleich noch einen Rippenstoß. „Halts Maul!“, blaffte Tom ihn an.

„Weißt du was, Tom Großmaul Bergmann, verpiss dich einfach und lass und in Ruhe“, mischte sich Emma ein, die sich, flankiert von Felix und Andy, neben mich stellte. „Wir wollen hier einfach nur sitzen und zusammen sein, ein bisschen quatschen und was trinken. Auf deine Stänkereien hat hier keiner

Bock.“

Toms Gesicht, das sowieso schon gerötet war, wurde noch ein bisschen dunkler. Es sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann winkte er ab.

„Hab sowieso keinen Bock mehr, mit euch Losern abzuhängen. Voll langweilig“, knurrte Tom, drehte sich um und sah seine Kumpels auffordernd an. „Los, Jungs, wir gehen.“

Alle, außer Fynn, setzten sich in Bewegung.

„Was ist, Lehmann, auf gehts. Du willst doch nicht etwa hier bei denen bleiben?“, fragte Tom und wies mit dem Kopf in unsere Richtung.

Doch Fynn blieb stehen. „Weißt du Tom,

auch wenn dir das jetzt nicht passen wird, aber sie hat Recht. Ich lass mich nicht mehr länger von dir herum kommandieren. Du bist der Kapitän auf dem Spielfeld, aber hier hast du mir nichts zu sagen“, sagte er mit ruhiger Stimme.

Ich bewunderte ihn für diesen Mut, sich hier vor allen gegen Tom zu stellen und nickte ihm anerkennend zu. Schließlich blieben von Toms Freunden außer Fynn auch noch Leon und Manuel bei uns „Losern“ am See.

„Jetzt sind wir quitt“, meinte Jonah. Ich sah ihn fragend an.

„Naja“, erklärte er schließlich. „Ich hab dich vor ein paar Tagen im Cafè

verteidigt und du mich jetzt hier am See.“ Er ließ sich nach hinten ins Gras fallen, schloss die Augen und murmelte: „Wenn du willst, kannst du mich jetzt wieder dissen.“

„Idiot“, entgegnete ich und ließ mich neben ihn fallen. „Und wer soll mir dann Mathe erklären?“

Ich hörte, wie Jonah leise in sich hinein lachte. Und wie schon so oft in den vergangenen Tagen war ich froh, dass mein Herz den Kampf gegen meinen Kopf gewonnen hatte.

Kapitel 16

Endlich waren die letzten Gäste gegangen. Die drei Damen hatten heute

wohl irgendetwas zu feiern und sich ausgerechnet das „Enjoy“ dazu ausgesucht, um eine Flasche Prosecco nach der anderen zu bestellen. Das war an und für sich nichts schlimmes, doch gerade heute hatte ich es etwas eilig. Und deshalb atmete ich erleichtert auf, als ich hinter den drei albern kichernden Mittvierzigern die Tür abschließen konnte. Ich rief mir schnell noch ins Gedächtnis, was nun noch alles zu tun sei. Ich wollte auf gar keinen Fall irgendetwas vergessen.

Die Vorräte an Kaffee, Milch, Wasser und Saft hatte ich bereits aufgefüllt, als die drei sich noch prustend und gackernd Storys aus ihrer Schulzeit erzählten. Nun

musste ich nur noch die Tageseinnahmen zählen und in die kleine Ledertasche packen, die ich dann in den Tresor im hinteren Raum einschließen sollte. Die Tische mussten abgewischt und die Stühle hochgestellt werden. Den Fußboden musste ich fegen und schließlich alle Stecker aus den Dosen ziehen und das Licht löschen.

Als mein Blick die große alte Uhr streifte, die über dem Tresen hing, bekam ich einen kleinen Schreck. Ich hatte meinen Eltern fest versprochen heute nicht später als 22 Uhr nach Hause zu kommen, da wir am nächsten Morgen ziemlich früh in den Urlaub fahren wollten. Papa hatte sich in den Kopf

gesetzt, spätestens um 3 Uhr morgens zu starten, damit wir bereits gegen Mittag in unserem kleinen dänischen Ferienhaus ankommen würden.

Es hatte mir nichts ausgemacht, als Rasmus fragte, ob ich an diesem Abend das Cafè alleine schmeißen könnte, weil Sascha und er eine Einladung zur Verlobung von zwei Freunden hatten. Im Gegenteil, irgendwie freute es mich, dass er so viel Vertrauen in mich setzte.

Aber jetzt musste ich mich beeilen, um rechtzeitig zuhause zu sein.

Ich holte den Besen aus der Putzkammer, die sich neben den Toiletten befand, stellte ihn am Tresen ab und begann, die Stühle hochzustellen.

Irgendwie freute ich mich darauf, endlich in den Urlaub zu fahren. Ich freute mich auf den Strand, das unendliche Meer, die Sonne und darauf, dass ich in diesem Jahr ein Zimmer für mich allein hatte und nicht mehr mit Pia, dieser Nervensäge, in einem Raum schlafen musste. Ich freute mich auf Ausschlafen und Nichtstun. Und auf endlose Strandspaziergänge mit mir allein.

In den ersten drei Wochen der Sommerferien war ich fast ausschließlich im „Enjoy“ gewesen. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Emma war gleich am letzten Schultag mit ihren Eltern zu Verwandten in die USA geflogen und

würde erst kurz vor Schuljahresbeginn zurückkommen. Jonah war ebenfalls in der ersten Woche mit seinen Eltern nach Spanien geflogen. Soweit ich wusste, würden sie irgendwann in der kommenden Nacht zurückfliegen.

Als ich nun daran dachte, seufzte ich leise. Ich würde ihn erst in der letzten Ferienwoche treffen können. Irgendwie war es komisch, dass die beiden gerade nicht hier waren. Ich vermisste sie. Emma sowieso. An Jonahs Gegenwart hatte ich mich in den vergangenen Wochen sosehr gewöhnt, dass ich ihn am liebsten jede Minute meines Lebens um mich gehabt hätte. Ich schmunzelte still in mich hinein. Jonah wer hätte das

gedacht.

Plötzlich, gerade als ich zum nächsten Tisch ging und nach einem der Stühle griff, nahm ich aus den Augenwinkeln in der hinteren Ecke des Gastraumes eine Bewegung wahr. Ich erstarrte und spürte, wie sich meine Hände fester um den Stuhl schlossen. War ich nicht alleine hier? Hatte ich einen Gast übersehen? Oder noch schlimmer wusste jemand, dass ich heute Abend alleine im Cafè war und wollte mich jetzt ausrauben? Wann war derjenige herein gekommen? Als ich im Vorratskeller war?

Panik ergriff mich. Meine Blicke wanderten zur Tür. Mist, ich hatte den Schlüssel aus irgendeinem mir gerade

nicht ersichtlichen Grund abgezogen und auf den Tresen gelegt, bevor ich den Besen aus der Kammer geholt hatte. Bis zum Tresen waren es etwa vier Meter, zu weit, wenn es bei einer eventuellen Flucht darauf ankommen würde. Mein nächster Gedanke galt allerdings den Tageseinnahmen in der Kasse. Ich Trottel! Warum hatte ich das Geld nicht ganz zuerst in den Tresor gebracht. Sicher hatte es der Eindringling darauf abgesehen. Oder vielleicht auch nicht? War ich das eigentliche Opfer?

„Mila, ganz ruhig“, sagte ich mir in Gedanken und atmete kaum hörbar ein und aus, um nicht im nächsten Moment zu hyperventilieren. Dann ließ ich den

Stuhl los, schlich mich auf Zehenspitzen zum Tresen und griff langsam nach dem Besen. Besser als gar keine Waffe, dachte ich dabei. Ich nahm den Besen fest in beide Hände und setzte einen vor den anderen Fuß. Mein Blick fiel auf den Schlüssel, der neben der Kasse lag. Doch ich entschied mich, zu kämpfen. Ich konnte die gesamten Tageseinnahmen doch nicht einfach diesem Kerl überlassen. Rasmus würde toben. Das Feriengeschäft lief hervorragend.

Ich hielt den Besen wie einen Speer vor meinem Körper und ging weiter langsam in die Richtung, in der ich den Einbrecher vermutete.

Ein Räuspern kam aus dieser Ecke und

ich erstarrte. Keine Einbildung es war tatsächlich keine Einbildung. Über meinen Rücken kroch unsagbar schnell eine eiskalte Gänsehaut. Ich begann am ganzen Körper zu zittern.

Das war einer der Albträume meines Lebens. Nun war er Realität geworden.

Am Ende des Tresens erblickte ich im Vorbeigehen das spitze Messer, das ich zum Schneiden des Obstes für die Cocktails benutzte. Schnell griff ich danach. Im Notfall würde ich es sicher benutzen.

In dem Moment, als ich auf Zehenspitzen schleichend, den Besen in der linken und das Messer in der rechen Hand haltend um die Ecke schlich, trat der Einbrecher

ebenfalls um die Ecke.

Ein leiser erstickter Schrei entfuhr meiner Kehle und ich ließ vor Schreck Besen und Messer fallen. Schnell bückte ich mich, griff nach dem Messer und richtete mich wieder auf, bereit meinem Widersacher das spitze Küchenutensil zwischen die Rippen zu stoßen. Im Falle einer Gerichtsverhandlung würde ich auf Notwehr plädieren.

„Mila“, schoss es mir entgegen. „Was hast du damit vor?“

Ich riss die Augen auf.

Vor mir stand Jonah und blickte entgeistert auf das Messer in meiner Hand, das sich nun dicht vor seinem Brustkorb befand.

„Jonah?“ Ich sah ihn entgeistert an. „Jonah“, sagte ich etwas ruhiger und sichtlich erleichtert, dass er es war. Nur, um im nächsten Moment mit einem lauteren „JONAH!“ meinem Ärger Ausdruck zu verleihen, dass er mich derart erschreckt hatte.

Ich ließ das Messer fallen. Es blieb mit der Spitze in einer der Holzdielen stecken, knapp neben Jonahs grünen Converse, in dem sein linker Fuß steckte.

„Das nenn ich mal ne Begrüßung nach drei Wochen“, meinte Jonah, bückte sich und zog das Messer aus dem Fußboden. Er hielt es mir entgegen. „Knapp daneben. Willst du es nicht nochmal

versuchen?“

Sein freches Grinsen brachte mich auf Hochtouren.

„Sag mal, spinnst du? Du kannst doch nicht einfach so hier herein spazieren, dich in deine Ecke verdrücken und nicht Bescheid sagen, dass du gekommen bist!“ Ich funkelte Jonah böse an, während ich ihm das Messer abnahm. „Und überhaupt wann bist du eigentlich gekommen?!“

Jonah hob abwehrend die Hände. „Sorry, Mila, es sollte eine Überraschung sein. Wenn ich geahnt hätte, dass du mich umbringen willst anstatt dich zu freuen, hätte ich vorher angerufen“, erklärte er, immer noch frech grinsend. „Ich bin gekommen, als die drei lustigen Damen

noch fröhlich ihren Prosecco geschlürft haben und du im Vorratsraum warst.“

So langsam aber sicher beruhigten sich mein wild klopfendes Herz und mein Atem wieder und pegelten sich schließlich auf Normalniveau ein.

„Ich wollte dich nicht umbringen, sondern den Einbrecher, der es auf die Tageseinnahmen abgesehen hat“, meinte ich und legte das Messer zurück auf den Tresen.

Dabei bemerkte ich, wie Jonah sich gespielt ängstlich umsah. „Einbrecher? Wo ist hier ein Einbrecher?“

„Du Idiot“, schnaufte ich ihm entgegen.

Zur Strafe für den Überfall musste er mir jetzt helfen, damit ich alles, was

noch zu tun war, in kurzer Zeit erledigen konnte.

Er stellte die Stühle hoch und ich begann, den Boden zu fegen. Als Jonah fertig war, zählte er schnell die Einnahmen und verstaute sie sicher im Safe. Dann schnappte er sich den zweiten Besen und fing in einer anderen Ecke mit dem Fegen an.

„Wieso bist du jetzt schon zurück?“, wollte ich wissen. „Ich dachte, ihr kommt erst morgen.“

„Ich habe meinen Eltern drei Wochen lang in den Ohren gelegen, schon einen Tag früher nach Hause zu fliegen“, erklärte Jonah. Ich hörte kurz mit dem Fegen auf. „Weshalb? War es so schrecklich?“

Auch Jonah blieb stehen und stützte sich auf dem Besen ab. Er sah mich schweigend an.

„Was?“, wollte ich wissen. Es schien fast so, als müsste Jonah nach einer Antwort suchen. Oder als wäre er verlegen, denn seine Wangen bekamen einen leichten rötlichen Schein.

„Naja … also … wie soll ich es sagen“, begann er schließlich. „Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor du mit deinen Eltern in den Urlaub fährst.“ Er atmete hörbar aus, fast als wäre er erleichtert, das gesagt zu haben. „Das ist der Grund“, schob er hinterher.

Ich war baff. Und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich wusste nur

eins: Jonah hatte mir gerade gesagt, dass er mich noch einmal sehen wollte. Was hatte das zu bedeuten?

Fürs erste fegte ich weiter und auch Jonah begann wieder damit. Wir redeten ein paar Minuten kaum noch. Jeder von uns schien seinen Gedanken nachzuhängen.

Doch plötzlich spürte ich, wie er mir den Besen aus der Hand nahm. Er wollte ihn, ohne hinzusehen, an einen der Tische lehnen. Ein leises Scheppern sagte uns, dass es ihm nicht gelungen war. Als Jonah versuchte, den Besen im Fall aufzuhalten, riss er mit seinem Arm zwei der Stühle vom Tisch, die laut krachend ebenfalls auf den Holzdielen landeten.

Doch wir kümmerten uns nicht darum.

In diesem Moment gab es nur uns beide.

Kapitel 17

Jonah fasste mich bei den Händen und sah mich lange an. Und auch ich hob meinen Kopf, um ihm in die blauen Augen zu blicken, die mir gerade jetzt in diesem Augenblick so sagenhaft wie das Meer an einem wolkenlosen Sonnentag vorkamen.

Jonah ließ meine Hände los und umfasste mein Gesicht. Mein Herz begann wieder, wie wild zu schlagen, aber dieses Mal nicht aus Angst. Es war eine Mischung aus Überraschung, Erwartung, Freude … alles, was man sich in so einem besonderen Augenblick nur vorstellen

konnte und wollte.

Jonahs Gesicht kam meinem immer näher, so nah, dass ich seinen warmen Atem spüren konnte und vielleicht sogar noch ein bisschen die Hitze der spanischen Sonne, die seiner Haut ein wenig Farbe gegeben hatte.

Kurz vor meinen Lippen stoppte er für einen Augenblick und sah mir tief in die Augen, fast so, als wollte er mich stumm fragen, ob es mir recht wäre. Ich nickte kaum merkbar.

In dem Moment, als sich unsere Lippen trafen, durchspülte mich ein angenehmer warmer Strom, der meine Haut zum Kribbeln brachte.

Ich legte meine Arme um Jonah Hals und

zog ihn noch ein Stück näher an mich heran, wenn das überhaupt möglich war.

Während wir uns küssten beinahe ohne Luft zu holen schob er mich Stück für Stück rückwärts, bis der Tresen unseren Weg stoppte. Nach einigen Augenblicken fand ich es allerdings ziemlich unbequem, mit dem Rücken an der Kante des Tresens zu lehnen.

„Ist unbequem“, quetschte ich zwischen unseren Lippen hervor.

Jonah löste seine Lippen von meinen und sah sich um. Dann zog er mich in den Bereich des Cafès, in dem das schöne alte weiche Sofa stand. Er ließ sich darauf nieder und zog mich auf seinen Schoß.

„Bin ich dir nicht zu schwer?“, fragte ich kichernd.

„Ach Quatsch“, murmelte Jonah.

Seine Hände wanderten über meinen Rücken und hinterließen an jeder Stelle, die sie berührten, eine wohlige Gänsehaut. Ich befreite seinen Kopf von der grauen Mütze, die er

- natürlich trug, vergrub meine Hände in seinen Haaren und zerwuschelte sie, während wir uns wieder küssten. Ein kleiner angenehmer Blitz traf mich, als seine Zunge begann, in meinem Mund nach meiner zu suchen. Ich hätte nie gedacht, dass Jonah so etwas konnte.

Wir küssten uns wort- und nahezu pausenlos. Nur ab und zu lösten sich

unsere Lippen voneinander, nur um kurz Luft zu schnappen. Dann wurden sie von einer unsichtbaren Kraft wieder zueinander gezogen wie zwei gegenpolige Magneten.

Als Jonahs Fingerspitzen unter mein Shirt wanderten und schließlich ganz sacht, fast kaum spürbar, meine Brüste streiften, zuckte ich kurz zusammen.

„Soll ich nicht?“, flüsterte er.

„Ist schon okay“, murmelte ich heiser.  

Irgendwie schien in diesem Augenblick mein Gehirn auszusetzen.

Unsere Zungen spielten miteinander, Jonahs Hände streichelten zärtlich meine Brüste und ich ließ meine Hände abwärts über seinen Rücken wandern, bis sie an

seinem Hintern angekommen waren. Aus irgendeinem Grund tastete ich nach vorne zum Reißverschluss seiner Hose und öffnete ihn. Kaum einen Augenblick darauf streifte Jonah mir mein Shirt über den Kopf und befreite meine Brüste aus dem roten Spitzenstoff, den ich darunter trug.

Woher in aller Welt wusste er, wie das ging? Hatte der schlaue Jonah etwa ein Buch darüber gelesen? Oder war es wirklich ein Instinkt, der sich immer dann einschaltete, wenn man ihn am nötigsten hatte?

Meinen Körper durchzog ein angenehmes Kribbeln, das sich seinen Weg von meinen Brüsten bis zu den Füßen und in

mein Gehirn bahnte.

Nur eine Sekunde später fanden wir uns auf dem harten Holzfußboden wieder. Ich lag auf Jonah und drückte mich fest an ihn. Als ich seine Erregung an meinem Körper spürte, schaltete sich für einen Moment mein Verstand wieder ein. Hatte er ein Kondom dabei? Ich jedenfalls nicht, denn ich konnte ja nicht ahnen, dass ich gerade heute eines brauchen könnte. Doch schon im nächsten Augenblick war mir das schon nicht mehr wichtig.

Wir vergasen Zeit und Raum.

Wir vergasen, wo wir uns befanden.

Wir vergasen, dass wir eigentlich nur Freunde waren.

Wir vergasen alles um uns herum.

All das war uns in diesem Moment nicht wichtig. Nur wir waren uns wichtig.

Nur wir Jonah und ich.

Mittlerweile hatte ich ihn ebenfalls um sein Shirt erleichtert und mit einem leisen erstaunten Pfiff seinen muskulösen Oberkörper registriert, den ich so nicht erwartet hatte. Jonah grinste mich frech an. „Hast du nicht gedacht, oder, dass der Hänfling sportlich ist?“

Die Antwort darauf gaben ihm meine Lippen, die zärtlich und fordernd zugleich seinen Mund verschlossen.

Ein Klopfen an der Tür ließ uns blitzartig auseinanderfahren. Wir sahen uns verdattert an und erst beim nächsten

Klopfen, das von einem aufgebrachten „MILA!“ untermalt wurde, kamen wir endlich in Bewegung.

„Rasmus!“, informierte mich Jonah erschrocken über eine Tatsache, die ich längst wusste, während er sein Shirt vom Fußboden aufhob und es sich hektisch über den Kopf zog. „Was macht der denn hier?“

„Was weiß ich denn? Vielleicht war die Party Scheiße“, antwortete ich ihm ebenso schockiert.

Ich stopfte meine Brüste dahin zurück, wo sie hingehörten, schnappte mir mein Shirt und knöpfte meine Hose wieder zu. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare, um wenigstens so zu tun, als

ob ich meine Frisur in Ordnung bringen wollte.

Jonah schnappte sich seine Mütze vom Sofa und stülpte sie über die zerwühlte Haarpracht.

Unterdessen klopfte Rasmus weiter an die Tür und rief, mittlerweile schon ziemlich sauer, meinen Namen.

„Mila, verdammt noch mal, mach die Tür auf!“

Ich sah Jonah an und als er nickte, ging ich in Richtung Tür, schnappte mir im Vorbeigehen den Schlüssel vom Tresen und ließ meinen Chef in sein eigenes Reich.

„Sag mal, was machst du denn noch hier? Du wolltest doch …“, überflutete

mich Rasmus` ärgerlicher Redeschwall. Er stoppte mitten im Satz, als er Jonah erblickte. „Und was machst du eigentlich hier?“, fragte er verwundert.

Ich bemerkte Rasmus` irritierte Blicke, mit denen er erst Jonah von oben nach unten musterte, und die auf ihrer Wanderung durch den Raum auf den Stühlen und dem Besen am Boden hängen blieben.

Als ich seinen Blicken folgte, musste ich schmunzeln. Jonahs Shirt war auf links gedreht und der Reißverschluss seiner Hose stand offen. Ich wies ihn mit einem Kopfnicken auf seinen Kleidungsstil hin, worauf er mit hochrotem Kopf erst den Reißverschluss schloss und dann sein

Shirt richtig herum anzog.

„Könnt ihr mir bitte verraten, was hier los war?“, wollte Rasmus wissen. Es klang nicht böse, eher verwundert. Doch ich vermutete, dass er es sich schon längst denken konnte. Er war ja nicht blöd und konnte eins und eins zusammen zählen. Er winkte ab und murmelte: „Vielleicht will ich das auch gar nicht wissen.“

„Ich … ich habe Mila nur beim … beim Aufräumen geholfen“, erklärte Jonah verlegen stotternd, während er die Stühle auf den Tisch stellte und den Besen vom Boden aufhob und dabei vermied, seinen Bruder anzusehen.

„Soso, beim Aufräumen also“,

wiederholte Rasmus und ich konnte ein freches Grinsen in seinem Gesicht erkennen.

In diesem Augenblick sah ich auf die Uhr über dem Tresen. Es war bereits nach Mitternacht. Verflixt! Wie lange hatten wir eigentlich rumgeknutscht?

Rasmus` Augen folgten meinen Blicken. Er legte Jonah und mir jeweils eine Hand auf die Schulter, schob uns in Richtung Tür. „Du bringst Mila jetzt nach Hause, sonst bringt mich Milas Vater um.  Ich kann davon ausgehen, dass jeder von euch in seinem eigenen Bett schläft, oder?“ Mit diesen Worten drängte er uns sanft aus dem Cafè.

Während wir noch verdattert und

verlegen grinsend auf dem Fußweg standen, löschte er das Licht und schloss das „Enjoy“ ab. Auf dem Weg zu seinem Wagen rief er uns über die Schulter zu: „Jetzt ab nach Hause!“ dann stieg er ein und rauschte in die Nacht davon.

Jonah griff nach meiner Hand und zog mich mit sich.

„Na, dann werde ich dich mal nach Hause bringen“, murmelte er.

Wir liefen schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, durch die dunklen und nahezu stillen Straßen unserer Stadt.

Erst vor meinem Haus blieben wir stehen.

„Und jetzt?“, fragte ich. Wir standen uns

gegenüber uns sahen uns an. Die matte Straßenlaterne tauchte alles um uns herum in ein geheimnisvolles Licht.

„Was jetzt? Ich bringe dich noch zur Tür, gebe dir einen Abschiedskuss und dann werde ich in mein Bett gehen, so wie Rasmus das gesagt hat“, erklärte Jonah.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Das meine  ich nicht. Das weißt du ganz genau“, flüsterte ich.

„Ich versteh nicht ganz, was du meinst, Mila. Was genau willst du von mir wissen?“ Jonah begann mein Haar zu streicheln. Er fasste nach einer Strähne und wickelte sie um seinen Zeigefinger.

„Wie es jetzt mit uns weitergeht?“,

erklärte ich leise.

Ich hörte Jonah feixen. „So, wie es vor ungefähr 2 Stunden begonnen hat. Das wäre schön.“

„Hm, das wäre schön“, murmelte ich.

Und das meinte ich genauso, wie ich es gesagt hatte. Seit Jonah mich im „Enjoy“ geküsst hatte, kribbelte mein ganzer Körper und ich wünschte mir, dass es nie wieder aufhören würde. Ich wünschte mir, dass wir uns nie wieder trennen würden. Ich wünschte mir, ihn an meiner Seite zu haben, bis in alle Ewigkeit.

„Wie soll ich es jetzt nur 2 Wochen ohne dich aushalten“, seufzte ich, legte meine Arme um Jonahs Hals und schmiegte mich fest an ihn. Ich konnte und wollte

mir einfach nicht vorstellen müssen, nun so lange Zeit ohne ihn sein zu müssen.

„Keine Ahnung. Mir geht es ähnlich. Ich musste in Spanien ständig an dich denken“, sagte Jonah.

„Echt?“ Ich konnte das gar nicht glauben.

„Ja, stell dir vor. Mir sind jeden Tag tausende von knackigen, braungebrannten Mädchen mit süßen Gesichtern mit ihren superknappen Bikinis über den Weg gelaufen, aber ich hab immer nur an dich gedacht.“

Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob ich der blanke Widerspruch zu den knackigen Mädels am spanischen Strand war, doch

ich verkniff mir diese bissige Bemerkung. Ich wertete seine Worte einfach als Kompliment an mich.

„Ich könnte meine Eltern fragen, ob du mit uns mitkommen kannst. Ich hab ein Zimmer für mich“, überlegte ich.

„Deine Eltern wären sicher ziemlich begeistert, wenn ich morgen früh mit gepackter Tasche an eurer Tür klingeln und sagen würde, dass es nun losgehen könnte“, meinte Jonah.

Ich zerrte mein Handy aus der Tasche. „Hm, in genau 2 Stunden müsstest du fertig sein“, witzelte ich.

Jonah beugte sich zu mir herunter und küsste mich. „Nein, ich glaube, das wäre keine gute Idee. Die zwei Wochen

kriegen wir auch noch rum. Und danach haben wir alle Zeit der Welt“, flüsterte er.

„Ich liebe dich, Jonah“, murmelte ich und legte meinen Kopf auf seinen Brustkorb.

Ich spürte seine Lippen auf meinen Haaren. „Ich liebe dich auch, Mila“, nuschelte er.

Bunte Wege

Voll von Blättern

Deren Leben nun hier auf dem Boden

Schön und traurig zugleich

Dem Ende zugeht

Zeit

Angefüllt mit Leben und Lachen

Deren große Stunden

Schön und traurig zugleich

Dem Ende entgegen ticken

Liebe

Gefüllt mit Zärtlichkeit und Küssen

Deren leise Momente

Heimlich und geheimnisvoll

Die Welt beleben.

Kapitel 18

Als ich am Nachmittag das „Enjoy“ betrat, ging mein erster Blick nach hinten zu dem Tisch, an dem normalerweise immer Jonah saß.

Jonah war heute nach dem Unterricht gleich verschwunden. Er hatte nicht, wie sonst immer in den vergangenen Monaten, auf mich gewartet, sondern war mit schnellen Schritten davon gegangen. Ich hatte noch nach ihm gerufen, doch anscheinend konnte er mich nicht mehr hören, als er inmitten der anderen Schüler durch das große eiserne Tor vom bunt beblätterten

Schulhof verschwand.

Enttäuscht musste ich nun feststellen, dass dort an Jonahs Tisch statt eines Jungen mit bunter Häkelmütze zwei ältere Frauen bei Kaffee und Kuchen saßen.

Rasmus folgte stumm meinen Blicken und winkte mich dann sofort hinter den Tresen, an dem er stand und einen Eisbecher kreierte.

„Jonah kommt heute nicht“, flüsterte er mir zu, nachdem ich ihn wie immer mit einer Umarmung begrüßt hatte.

Rasmus war nicht nur mein Chef, er war in den letzten Monaten zu einem echten Freund geworden. Einer, mit dem ich über fast alles reden konnte. Sogar über

meine Periode. Wenn ich mal wieder hormonbedingt ein bisschen übel drauf war, fragte er mit einen freundlichen Grinsen: „Deine Tage?“ und behandelte mich dann den Rest des Nachmittags meist wie ein rohes Ei.

Meine Eltern waren am Anfang erst ziemlich skeptisch - immerhin unterhielt ich eine Freundschaft mit einem 25-jährigen. Doch mittlerweile hatten sie begriffen, dass keine Gefahr bestand, da Rasmus schwul war. Ob das in ihren Augen besser war, wusste ich nicht, sie akzeptierten es jedenfalls.

„Warum kommt er nicht? Keine Lust?“, fragte ich, als ich meine Tasche in das kleine Hinterzimmer brachte.

„Ihm ging es heute nach der Schule nicht so gut. Er liegt zuhause im Bett“, antwortete Rasmus und ich bekam das Gefühl, dass er mir eigentlich noch irgendetwas sagen wollte, es aber aus irgendeinem Grund nicht tat.

„Meinst du, ich kann ihn dann anrufen?“, wollte ich wissen, während ich mir das Tablett mit den mittlerweile fertigen Eiskreationen schnappte.

„Tisch 3“, meinte Rasmus. „Nein, lass ihn heute lieber in Ruhe. Ich glaube, dass er nicht mit dir reden will.“

Ich war schon auf dem Weg zu Tisch 3, blieb stehen und ging noch einmal zu Rasmus an den Tresen. „Was hast du gesagt? Warum denkst du, dass er nicht

mit mir reden will?“ Ich stellte das Tablett noch einmal ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jonah nicht mit mir reden wollte. Ich war seine Freundin. Wir verbrachten seit dem Sommer jede freie Minute miteinander.

„Mila, bitte bring das Tablett an den Tisch. Die Leute warten schon eine Weile“, meinte Rasmus schon leicht genervt und mir fiel erst jetzt auf, dass er irgendwie nicht gut drauf zu sein schien.

„Was ist los? Hab ich was falsch gemacht?“, fragte ich.

Rasmus rollte mit den Augen. „Mila, die Leute an Tisch 3 haben keine Milchshakes bestellt. Das Eis zerläuft!“

Ich schnappte mir das Tablett und knallte die Eisbecher lieblos auf Tisch 3.

„Mila!“ Rasmus kam hinter dem Tresen hervor und entschuldigte sich bei unseren Gästen für mein unprofessionelles Verhalten. Dann packte er mich am Arm und zerrte mich ziemlich unsanft in den kleinen Raum hinten dem Tresen.

„Spinnst du!? Wenn du schon wieder deine Tage hast, dann lass es gefälligst nicht an den Gästen aus“, blaffte er mich an. Den Blick, den er mir dabei zuwarf, hatte ich an ihm noch nie gesehen. Aber dieser Blick machte mich absolut wütend.

„Hast du vielleicht deine Tage, Rasmus?

Du erzählst mir, dass Jonah mich nicht sprechen will. Aber erklären willst du es mir nicht. Was ist los mit ihm?“, motzte ich ihn an.

Rasmus sah mich einen langen Augenblick mit aufeinander gepressten Lippen an. Dann schüttelte er fast unmerklich seinen Kopf.

„Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst. Komm wieder, wenn du bessere Laune  hast“, meinte er leise. Er griff nach meiner Tasche, die auf einem Stuhl lag und drückte sie mir in die Hand.

„Hier! Und jetzt geh!“, flüsterte er und schob mich aus dem Raum.

Mein Magen krampfte sich zusammen. Rasmus schickte mich weg. Für mich

fühlte das sich beinahe so an, als würde er mich feuern. Und nicht nur das. Es fühlte sich so an, als würde er mir die Freundschaft, die uns verband, aufkündigen. Doch das Schlimmste an dieser Tatsache war, dass ich keine Ahnung hatte, warum er das tat. Hatte ich was falsch gemacht? Und wenn ja, was? Ich stand da, mit meiner Tasche in der Hand und Tränen in den Augen. „Rasmus“, flüsterte ich. „Es tut mir leid.“

Rasmus schob mich vor den Tresen. „Geh jetzt.“

„Rasmus, bitte. Schick mich nicht weg“, versuchte ich es noch einmal. Doch Rasmus schüttelte den Kopf.

Ich wusste nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Die Gedanken fuhren Achterbahn in meinem Kopf. Was war los? Hatte ich Jonah heute Morgen in der Schule irgendwie schlecht behandelt oder verletzt? War er deshalb nicht ins Cafè gekommen? Ich grübelte mir mein Gehirn heiß. Gut, ich hatte ihn nach Mathe ein wenig angeblafft, weil er mal wieder so getan hatte, als wäre ich ein totaler Gleichungsidiot. Ich hasste es, wenn er das tat. Aber er wusste auch, dass ich das nicht so meinte.

Aber wieso hatte Rasmus dann gesagt, Jonah würde sich nicht wohlfühlen? War er denn nun krank oder nur sauer auf mich?

Noch auf dem Weg nach Hause schrieb ich eine Nachricht nach der anderen an Jonah, doch ich bekam keine Antwort. Nicht einmal die blauen „Gelesen Häkchen“ standen da.

Ich rief auf dem Festnetz an, doch es nahm niemand ab.

In der Wohnung gegenüber war alles dunkel keiner zu Hause.

Mit dicken rotgeweinten Augen kroch ich am frühen Abend schließlich unter meine Decke, rollte mich wie eine kleine Katze zusammen und versuchte, zu schlafen. Doch die Achterbahn war noch immer in Betrieb. Sie fuhr Runde um Runde in meinem Kopf. Ohne Pause.

Ich hatte an diesem Tag zwei Freunde

verloren. Wahrscheinlich für immer. Das tat mehr weh als alles andere, das ich bisher an Schmerzen gespürt hatte.

In dieser Nacht ahnte ich noch nicht, dass es noch viel schlimmer kommen könnte.

Kapitel 19

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich beinahe so, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Dabei musste ich mich, nachdem ich noch ein paar Mal vergeblich versucht hatte, Jonah zu erreichen, wohl in den Schlaf geweint haben. In einen Schlaf, der angefüllt war mit einem Mix aus deprimierenden Phantasien und schmerzender Angst der Verlassenheit.

Dieser Traum muss mir so real vorgekommen sein, dass ich wohl sogar noch während des Schlafes Tränen vergossen hatte mein Kopfkissen war klatschnass.

Und auch, als mich der Weckton meines Handys von dieser Qual befreite, zog sich beim ersten Gedanken an Jonah alles in mir schmerzhaft zusammen, ganz besonders mein verletztes Herz.

Meine innere Prinzessin hatte sich wieder in die hinterste Ecke meiner Seele zurückgezogen und trauerte, leise weinend, still vor sich hin.

Ich wusste nicht, weshalb Jonah nicht mit mir sprechen und noch nicht einmal meine Nachrichten lesen wollte.

Seitdem wir zusammen waren, hatte es schon so manchen Tag gegeben, an dem wir im Streit auseinander gegangen waren. Meist ging das von mir aus. Jonah hatte, soweit ich das beurteilen konnte, eigentlich nie das Verlangen, sich mit mir zu streiten. Ich wollte mich im Prinzip auch nicht mit ihm streiten. Aber manchmal brachten mich seine Ruhe und Gelassenheit, mit denen er durch unsere kleine Welt ging, nahezu zum Verzweifeln. Ich machte aus allem lieber ein Problem, statt mich damit abzufinden, dass man manche Dinge eben nicht ändern kann. Mit einer Engelsgeduld hörte Jonah sich dann meine Vorwürfe und kleinen Sticheleien

an, ließ mich allein, um nach einer Weile wieder zu mir zu kommen, mich in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Alles wieder okay, meine kleine Zicke?“

Ich liebte ihn wirklich und jetzt, da ich nicht wusste, was mit ihm los war und warum er schwieg, wurde mir das umso schmerzlicher bewusst. Ich merkte, dass ich ohne ihn nicht leben konnte und es auch nicht wollte. Hätte mir vor einem halben Jahr jemand gesagt, dass ich mich nach diesem schüchternen und für andere eher unscheinbaren Jungen so sehr sehnen würde, dass es mir fast das Herz vor Sehnsucht zerschmetterte, ich hätte laut losgelacht und denjenigen für verrückt erklärt.

Aber nun war es so. Er fehlte mir, dabei war unsere letzte gemeinsame Zeit noch keine 24 Stunden her. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte ich Jonah schon seit einer Woche nicht mehr in meiner Nähe gehabt.

Ich angelte nach meinem Handy und schaute mit meinen dicken verheulten Augen auf das Display. Jede Menge Nachrichten, aber nicht eine einzige von Jonah. Ich sah in unseren Chat. Nicht hinter einer der Nachrichten, die ich an ihn geschickt hatte, sah ich die zwei kleinen blauen Häkchen, die mir sagten, dass er sie wenigstens gelesen hatte.

Es klopfte an meiner Tür.

„Mila, hast du verschlafen?“.

Scheiße! Meine Mutter war noch da. Offensichtlich hatte sie Spätdienst und ging heute erst gegen Mittag in die Klinik, in der sie arbeitete. Wie sollte ich ihr nur meine verquollenen Augen erklären?

„Nein, ich steh gleich auf“, rief ich und versuchte, normal zu klingen. Doch das war nicht so einfach, denn in meinem Hals steckte seit dem vergangenen Nachmittag ein dicker Kloß, der mir die Stimme nahm.

Ich wartete noch einen Augenblick, damit ich sicher sein konnte, dass Mama nicht mehr vor meiner Tür stand, wenn ich ins Bad ging. Dann griff ich in den Kleiderschrank, zog wahllos ein paar

Sachen heraus und verließ mein Zimmer.

„Hast du in deinen Sachen von gestern geschlafen?“

Ich fuhr erschrocken herum. Mama stand hinter mir und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nei … nein“, stotterte ich. „Ich … ich hab mich nur noch mal  für … etwas anderes entschieden.“

Mamas Blick wechselte von einer zur nächsten Sekunde von „verwirrt“ in „besorgt“. „Wie siehst du denn aus?“ Sie legte mir die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber?“

Ich zog meinen Kopf aus ihrer Reichweite und schlüpfte durch die Tür ins Bad.

Noch bevor Mama hinterher kommen konnte, drehte ich den Schlüssel im Schloss herum.

„Nein, Mama, alles in Ordnung. Vielleicht bekomme ich eine Allergie“, rief ich durch die geschlossene Tür nach draußen in den Flur, wo ich meine Mutter noch immer vermutete.

So falsch war meine Annahme gar nicht. „Allergie?“ Mama musste mit dem Kopf beinahe direkt an der Tür kleben. „Du warst noch nie allergisch! Und es ist Herbst!“, stellte sie fachmännisch fest.

Ich sparte mir jede weitere Antwort und drehte den Wasserhahn auf.

Dann stand ich reglos unter der Dusche und  ließ mir das heiße Wasser

minutenlang über meinen Körper rauschen. Ich hoffte, damit den ganzen verdammten gestrigen Tag gleich mit abzuwaschen. Meine salzigen Tränen vermischten sich mit den Wassertropfen.

Erst das laute Klopfen an der Tür ließ mich aus dem tranceähnlichen Zustand aufschrecken.

Ich drehte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Während ich mich abtrocknete, ordnete ich meine Gedanken.

Mein Spiegelbild sah mich vorwurfsvoll mit unseren braunen Augen aus dem Heißwassernebel an.

Okay, Jonah ging es gestern nicht gut. Er wollte mich weder sprechen noch

sehen. Aber hieß das gleichzeitig auch, dass ich ihn verloren hatte?

Bildete ich mir das alles nicht ein?

Ich machte mal wieder einen Elefanten aus einer kleinen Mücke. Viel Lärm um nichts. Sicher würde sich heute in der Schule alles aufklären. Wahrscheinlich war er gestern nur früh schlafen gegangen, damit es ihm heute wieder besser ging. Logisch, dass er da die Nachrichten nicht lesen konnte.

„Mila! Los jetzt! Es ist schon spät“, hörte ich meine Mutter ärgerlich draußen vor der Tür.

Ich wischte mit der Hand über den Spiegel und sah mir ein letztes Mal ins Gesicht. Dann verließ ich das Bad und

startete in den neuen Tag.

Kapitel 20

Jonah kam nicht zum Unterricht.

Keiner wusste, was mit ihm war.

So langsam aber sicher machte ich mir Sorgen.

In jeder Pause versuchte ich vergeblich, ihn oder Rasmus zu erreichen.

Mir kam es fast so vor, als ob die beiden irgendwo in den dunklen Wald, wo es keinen Handyempfang gab oder in eine andere Galaxie ausgewandert waren.

Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, schwänzte ich die letzte Stunde und lief zum „Enjoy“. Mir fiel sofort auf, dass die kleine schwarze Tafel nicht auf dem Gehweg stand.

Gut, vielleicht hatte Rasmus sie schlichtweg vergessen, doch als ich die Tür wie gewohnt aufdrücken wollte, merkte ich, dass sie verschlossen war.

Irritiert sah ich auf die Uhr. Eigentlich sollte das „Enjoy“ bereits seit 3 Stunden geöffnet sein.

Ich trat einen Schritt zurück und starrte auf die gläserne Eingangstür als hoffte ich, dass sie sich durch meinen magischen Blick öffnen würde. Erst da entdeckte ich den kleinen Zettel, der an die Scheibe geklebt war: „Sorry, wir haben heute geschlossen.“ Nichts weiter.

Ich zerrte mein Handy aus der Hosentasche und wählte Saschas Nummer.

„Hallo, hier ist Sascha also nicht persönlich. Sprecht nach dem Piep!“

Ich knallte meinen Zeigefinger auf das Display. „Verdammt!“, rief ich aus und kümmerte mich nicht um die entsetzten Gesichter der beiden alten Damen, die gerade im Begriff waren, ins „Enjoy“ zu gehen. „Ist geschlossen. Steht doch da!“, murrte ich sie an und ging.

Klar, die beiden alten Damen waren nicht schuld an meiner schlechten Laune. Sie konnten nichts dafür, dass ich weder Jonah, noch Rasmus oder Sascha erreichte. Sie konnten auch nichts dafür, dass sich in meinem Kopf schon wieder ein Drama abspielte. Doch mir war im Moment im Grunde genommen so

ziemlich egal, wem ich meine schlechte Laune entgegen schleuderte. Die beiden waren wohl einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Wie ferngesteuert und ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, lief ich zum Bahnhof und kaufte mir eine Fahrkarte. Ich stieg wie in Trance in den Zug und eine Stunde später wieder aus.

Ich schaute mich um und irgendwie wunderte ich mich ein wenig darüber, wieso ich gerade hier gelandet war. Doch dann setzte ich mich langsam in Bewegung und lief die Straße hinunter bis zu dem kleinen Häuschen, das mir seit Jahren so sehr vertraut war.

Tante Annie war zu Hause. Ich atmete

erleichtert aus, als, kurz nachdem ich geklingelt hatte, ihre Schritte im Flur zu hören waren.

„Mila! Schatz!“ Annie sah mich überrascht, aber freudig an. „Was machst du denn hier? Warum hast du nicht angerufen? Jetzt hab ich gar keine Waffeln gemacht!“ Annies Redeschwall überspülte mich wohltuend. Und ohne ein Wort zu erwidern oder eine ihrer Frage zu beantworten, schmiss ich mich in Annies Arme und heulte in das dichte schwarze Wuschelhaar.

Später hockte ich auf ihrem klobigen Küchentisch und sah Annie beim Waffelbacken zu.

Neben mir stand griffbereit ihre

blümchenbedruckte Schachtel, aus der ich Taschentuch um Taschentuch zog.

„Also, jetzt sind die Waffeln gleich fertig. Bring schon mal die Tassen nach draußen in den Garten! Ich komme gleich nach“, ordnete Annie an und ich schob mich vom Tisch.

Als sie nach draußen kam, in den Händen den Teller mit einem Stapel Waffeln, saß ich da, hatte meine geröteten Augen geschlossen und hielt mein Gesicht in die Herbstsonne. Um mich herum klimperten Annies selbstgebastelte Windspiele.

„So, Mila. Und jetzt erzähl mal. Was ist los?“, forderte mich Annie auf, als sie mir gegenüber saß.

„Jonah ist los“, antwortete ich. „Seit gestern Nachmittag kann ich ihn  nicht erreichen. Rasmus meinte, er fühlte sich nicht so gut. Aber Jonah hat meine Nachrichten nicht einmal gelesen. Und in der Schule war er heute auch nicht. Und das ´Enjoy´ ist auch zu. Und bei Sascha geht auch nur die Mailbox ran“, sprudelte es aus mir heraus. Erst als mir Annies fragende Blicke auffielen, stoppte ich meinen aufgeregten Redefluss.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte Annie. Ich schüttelte den Kopf, doch als mir die kleine Auseinandersetzung nach der Mathestunde wieder einfiel, nickte ich zaghaft. „Aber nicht schlimmer als

sonst“, schob ich hinterher.

Annie dachte nach. Ich wartete geduldig ab. Ich konnte mir sicher sein, dass sie nicht mit voreilig gesagten erwachsen-typischen Ratschlägen kam. Sie winkte auch nicht ab und meinte: „Ach, alles halb so schlimm. Morgen ist wieder alles gut.“ Nein, Annie war anders als Mama. Sie konnte sich in mich hineinversetzen, fast so, als wäre sie selbst gerade erst 17.

„Hm, vielleicht ist er ja wirklich krank. Eine eurer kleinen Auseinandersetzungen würde deinen Jonah doch nicht umhauen. Denke ich jedenfalls. Aber ich versteh, dass du wissen willst, was mit ihm los ist.“

„Und wenn mein Rumgezicke ihm jetzt doch auf den Geist ging? Was, wenn er mich nicht mehr will? Was, wenn er sich eine andere gesucht hat?“ Ich spürte, wie schon wieder Tränen in mir aufstiegen und wunderte mich zugleich, dass ich überhaupt noch welche hatte.

„Mila, ich kenne deinen Jonah nicht so gut wie du. Aber so, wie ich ihn erlebt habe, kann ich, glaube ich, mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er nicht zu denen gehört, die beim kleinsten Wind den Hafen wechseln. Warte ab, irgendwann wird er kommen und es dir erklären.“

Ich schwieg. Diesmal hatte ich das Gefühl, dass mich Annies Worte nicht im

Geringsten beruhigten. Ich war noch immer so aufgewühlt, wie vorher.

Doch ich spürte, dass Annie meine Ängste ernst nahm. Sie tat sie nicht als kleines Teenagerproblemchen ab.

„Kann ich bei dir bleiben? Bis morgen vielleicht?“, fragte ich. Annie nickte wenn auch etwas zögerlich.

„Wissen deine Eltern eigentlich, dass du hier bist?“, fragte sie.

Verdammt! Nein! Die dachten ja, dass ich ordnungsgemäß in der Schule war und dann ins „Enjoy“ gehen würde. Ich sah auf die Uhr meines Handys. In etwa zwei Stunden würden sie mich zurück erwarten.

„Nein, ich bin … einfach zu dir …

gefahren“, gab ich zu. Als ich Annies vorwurfsvollen Blick bemerkte, meinte ich: „Als das Cafè geschlossen war und ich auch Sascha nicht erreichen konnte, da hab ich gar nicht nachgedacht. Mir war klar, dass nur noch du mir helfen kannst. Ich bin wie ferngesteuert zum Bahnhof gelaufen und hab mich in den Zug zu dir gesetzt.“

Annie nickte verstehend. Dann nahm sie meine Hände in ihre. „Es ist wirklich schlimm für dich“, diagnostizierte sie. „Pass auf, ich räum die Küche schnell auf, erledige noch ein paar Telefonate mit Patienten. Und du versuchst einfach noch mal, Jonah, Rasmus oder Sascha zu erreichen. Und heute Abend rufen wir

deine Eltern an“, schlug Annie vor und erhob sich.

Kapitel 21

Ich ließ das Telefon eine gefühlte Ewigkeit klingeln. Doch Jonah nahm nicht ab.

„Melde dich bei mir, Jonah! Wo bist du? Was ist los mit dir?“, schrieb ich. Doch auch wie bei den vorhergehenden Nachrichten tauchten keine blauen „Gelesen-Häkchen“ hinter meinen getippten Worten auf.

Bei Rasmus´ Nummer sprang gleich die Mailbox an und er erklärte, dass er leider gerade nicht zu erreichen war und man es einfach später nochmal versuchen sollte.

Sascha nahm endlich ab.

„Sascha?!“, schrie ich ihn beinahe an. „Wo ist Rasmus? Und wo, zum Geier, ist Jonah?“

„Mila.“ Sascha klang überrascht.

„Wo sind die beiden?“, fragte ich noch einmal.

Sascha antwortete nicht sofort. Es kam mir so vor, als müsste er sich erst eine Antwort auf meine einfache Frage zurecht legen.

„Sascha?“ Mein Tonfall klang bittend und drängend zugleich.

„Mila, ich kann dir das jetzt nicht am Telefon erklären. Tut mir leid“, sagte Sascha schließlich.

„Wieso?“ Ich klang in meinen eigenen

Ohren ziemlich hysterisch.

„Weil ich nicht derjenige bin, der es dir erklären sollte“, antwortete Sascha mit seiner wunderbaren weichen Stimme.

„Was kannst du mir nicht erklären?“

„Mila, versuche bitte, Rasmus zu erreichen“, schlug Sascha vor.

„Was, glaubst du, mache ich schon seit gestern? Aber die beiden sind wie vom Erdboden verschwunden“ schnarrte ich ihn an.

Ich hörte Sascha am anderen Ende tief ein- und ausatmen.

„Mila, ich sage Rasmus, dass er sich bei dir melden soll“, sagte er schließlich.

„Du weißt, wo er ist?“, fragte ich verwirrt.

„Ja, klar. Wir wohnen zusammen“, antwortete er, als wäre ich bescheuert. „Ich sag es ihm, wenn er heute Abend nach Hause kommt. Versprochen.“

Ich legte auf und dachte „So ein Arschloch.“ Aber ich meinte es nicht wirklich so.

Sascha war mein Freund. Er gehörte zu Rasmus, so wie ich zu Emma und Jonah gehörte. Ihn hatte ich zu Beginn meiner Freundschaft mit Rasmus einfach so dazu bekommen. Sozusagen als Gratis Geschenk. Aber keines von der Sorte, die man dankend annimmt und dann sofort weglegt. Er war eines der Geschenke, die man immer wieder gern zur Hand nimmt und froh darüber war,

dass man es bekommen hatte. Sascha war, wie Rasmus, charmant, klug, liebevoll, witzig. Ich mochte ihn von Anfang an. Und auch bei ihm bestätigte sich, was ich immer behauptete: „Die schönsten Männer sind schwul. Ein Verlust für die Frauen.“

Gut, jetzt hatte ich wenigstens Sascha erreicht. Nun wurde es Zeit, zuhause anzurufen.

Gerade als ich unsere Nummer wählen wollte, klingelte mein Handy. Mit einem Blick auf das Display erkannte ich, dass es Papa war. Ich atmete noch einmal kurz durch, dann drückte ich auf den grünen Telefonhörer.

„Ja?“, fragte ich scheinheilig.

„Mila?! Wo bist du, verflixt noch mal?!“

„Oh, Papa.“ Ich versuchte, überrascht zu klingen.

„Mila, wo bist du?“, fragte er noch einmal. Er klang nicht wirklich wütend; eher besorgt.

„Bei Tante Annie“, antwortete ich, als sei das ganz selbstverständlich.

Ich hörte Papa schnaufen.

„Du willst mir also sagen, dass du, noch bevor der eigentliche Unterricht zu Ende war, in den Zug gestiegen und zu Annie gefahren bist? Hast du sie nicht mehr alle?“

Oh, Papa schien doch wütend zu sein, korrigierte ich mich in Gedanken. Aber woher wusste er, dass ich die letzte

Stunde geschwänzt hatte?

„Ja, Papa, also … wie soll ich es sagen … mir geht es gerade nicht so gut und da wollte ich mal  mit Annie reden“, versuchte ich zu erklären und dabei so schuldbewusst wie nur möglich zu klingen.

„Und da kannst du nicht erst mit uns reden? Da musst du den Unterricht schwänzen und zu Annie fahren?“ Papa klang noch immer nicht so, als hätten ihn meine Worte versöhnt.

„Papa, ihr wisst, dass das was ganz anderes ist. Bitte, seid nicht böse“, bat ich.

Papa räusperte sich. Dann hörte ich, wie er mit jemandem im Hintergrund

flüsterte, wahrscheinlich war das Mama. „Gut, ich hole dich ab“, sagte er schließlich und legte ohne ein weiteres Wort auf.

„Und? Hast du jemanden erreicht?“, fragte Annie, als sie mit zwei Gläsern zurück auf die Terasse kam.

„Ja, Sascha. Er sagt Rasmus Bescheid, dass er sich bei mir melden soll. Annie, irgendwas ist mit Jonah. Vielleicht hatte er einen Unfall. Sascha wollte es mir am Telefon nicht erklären“, erzählte ich beunruhigt. „Und Papa hat mich angerufen. Er ist stinksauer“, schob ich hinterher.

Annie warf mir einen wissenden Blick zu. Meine Eltern waren selten sauer,

aber wenn, dann richtig. „Keine Angst, ich bin ja auch noch da. Er wird dich schon nicht fressen“, meinte sie und zwinkerte mir zu. Ich war mir das nicht ganz so sicher.

Wir schwiegen uns eine Weile an. Annie hatte sich Orangensaft eingegossen und drehte nun nachdenklich ihr Glas in den Händen. Ich kaute nachdenklich an meiner Unterlippe, eine meiner unschönen Angewohnheiten.

„Du liebst ihn sehr, oder? Meine kleine Mila ist verliebt, wer hätte das gedacht?“, sagte Annie plötzlich in die angenehme Stille hinein.

„Ja, ich liebe ihn“, meinte ich. „Weißt du, am Anfang hab ich ihn gar nicht

wahrgenommen. Er war da, aber ich habe mich nicht für ihn interessiert. Ich fand ihn schrecklich langweilig. Immer saß er nur hinter seinen Büchern. Irgendwann hat er angefangen, mich anzuquatschen. Da hab ich ihn abblitzen lassen. Aber dann … dann war plötzlich alles ganz anders. Ich weiß selbst nicht warum, aber auf einmal war er drin in meinem Herzen. Mein Kopf hat sich noch immer gewehrt, ihn gern zu haben. Aber das Herz, Tante Annie, mein Herz hat gewonnen.“

Annie lächelte mich an und nickte fast unmerklich mit dem Kopf.

„Ja, das Herz“, murmelte sie. Ihre Augen und vielleicht sogar ihre Gedanken

waren auf einmal ganz weit weg. Ich glaubte, dass Annie zwar noch hier mit mir in ihrem urgemütlichen Garten saß, doch ihre Seele war inzwischen irgendwohin anders gewandert. An irgendeinen Ort, den ich nicht kannte. An einen Ort, an dem sie mich nicht dabei haben wollte. Ihre Augen blickten in die Ferne, so als würde da hinter mir ein Film ablaufen, den nur sie allein sehen konnte. Und den nur sie allein verstand.

Dann, nach ein paar Minuten, ging ein kaum wahrzunehmender Ruck durch ihren Körper und sie war wieder hier bei mir im Garten.

„Weißt du, meine kleine Mila, wenn man

einen Menschen liebt, wenn man ihn so richtig liebt mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, und ihn verliert, dann wird man keinen mehr so lieben, wie diesen einen. Wenn er geht, dann nimmt er dein Herz mit. Aber dein Jonah, der wird nicht gehen. Ich spüre, dass er dich sehr liebt. Er wird bei dir bleiben und mit ihm bleibt dein Herz.“

Ich wusste nicht, woher sie das so genau wissen konnte. Sie hatte Jonah nur ein paar Mal erlebt. Viel zu wenig Zeit, um jemanden so richtig kennen zu lernen. Aber ich glaubte Annie trotzdem. Auch wenn ich mich in diesem Moment fragte, woher gerade sie ihr ganzes Wissen über die Liebe hernahm. Solang ich denken

konnte, hatte ich meine Patentante noch nie mit einem Mann gesehen. Was also machte sie zur Expertin für so ein schweres Thema wie die Liebe?

Kapitel 22

Papa sagte kein Wort. Er sah stur geradeaus auf die Straße.

Auch bei Annie hatte er nicht viele Worte gemacht, das angebotene Abendbrot abgelehnt und mich dann wortlos zum Auto geschoben. Ich hasste es, wenn er so drauf war. Ich meine, er hätte ja wenigstens ein bisschen meckern können oder mir eine runterhauen. Da hätte ich wenigstens gewusst, woran ich war.

Aber sein eisiges Schweigen machte

mich verrückt.

Immer wieder sah ich auf das Display meines Smartphones, um ja nicht zu verpassen, wenn Jonah - oder wenigstens Rasmus - sich meldete. Aber ich hatte nur wahnsinnig viele Nachrichten von Emma.

„Wo bist du? Warum warst du nicht in Englisch?“

„Mila, wo bist du?“

„Mila rede mit mir! Verdammt noch mal!!!“

„Was soll das? Warum antwortest du mir nicht?!!!“

Ich seufzte leise, dann schrieb ich ihr zurück: „Sorry, hab deine Nachrichten erst jetzt gelesen. Ich bin zu Tante Annie

gefahren. Musste mal dringend mit ihr reden.“

Keine Sekunde später kam Emmas Antwort: „Ach und mit mir kannst du wohl nicht reden? Was ist heute los mit dir? Und wo, zum Geier, ist Jonah?“

Da wüsste ich selbst gerne, dachte ich.

„Mir geht es gerade nicht so gut. Und ich weiß nicht, wo Jonah ist. Das ist es ja eben!“

„Wieso weißt du nicht, wo Jonah ist? Habt ihr Probleme?“

„Nein, wir haben keine Probleme. Vielleicht ist er krank, ich weiß es nicht!!!“

„Musst mich nicht gleich anschreien!“

„Tut mir leid, Emma. Ich erkläre es dir

morgen in der Schule.“

Ich legte das Handy weg und sah meinen Vater von der Seite an.

„Warum sagst du nichts, Papa?“, fragte ich. „Schrei mich doch wenigstens an, dann weiß ich, dass du sauer bist.“

„Das weißt du auch so“, murmelte er.

„Hör mal, es tut mir leid. Aber irgendwas ist mit Jonah. Ich weiß nicht, wo er ist. Er redet nicht mit mir, er antwortet nicht auf meine Nachrichten. Dabei haben wir uns noch nicht einmal gestritten. Deswegen bin ich ziemlich fertig. Und deshalb bin ich einfach so zu Annie gefahren. Weil ich nicht weiter wusste“, sprudelte es plötzlich aus mir heraus und mit den Worten kamen die

Tränen. Sie liefen wie ein Sturzbach aus meinen Augen über das ganze Gesicht und tropften schließlich auf meine Hose.

Plötzlich stoppte das Auto. Papa schnallte sich ab, beugte sich zu mir herüber und nahm mich ganz fest in den Arm. „Meine arme, kleine Mila, ich habe mich immer davor gefürchtet, dabei zu sein, wenn du den ersten Liebeskummer hast. Und jetzt sitzt du hier in meinem Auto und tropfst mir die Polster nass“, sagte er, während ich ihm sein Hemd vollheulte.  

„Tut mir leid, Papa. Aber ich hab mir das auch nicht ausgesucht“, schniefte ich und musste schon wieder ein bisschen lächeln. Papas Humor tat gut.

Mama erwartete uns schon ungeduldig. Noch ehe Papa den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, wurde von innen die Tür aufgerissen. Mama schoss in den Hausflur und zog mich in ihre Arme.

„Mila, was machst du denn für Sachen?“, fragte sie trotz der ganzen Liebe, mit der sie mich an sich drückte, vorwurfsvoll. Mir war das ganze ziemlich peinlich. Ich fühlte mich in diesem Augenblick wie ein unmündiges Kleinkind, das verbotenerweise mit dem Roller eine Ecke zu viel um den Block gefahren ist und seinen Eltern einen Riesenschreck eingejagt hat. Ich wand mich aus Mamas Umarmung und schob mich in die Wohnung, wo Pia schon bereitstand.

„Wetten, dass du bestimmt Hausarrest kriegst?“, quasselte sie die ganze herzergreifende Stimmung kaputt. Ich streckte ihr die Zunge raus und warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Pia, jetzt lass Mila mal in Ruhe“, wies Mama sie zurecht.

„Ach übrigens, dein schwuler Freund hat vorhin angerufen“, eröffnete Pia mir noch trotzig, bevor sie beleidigt in ihr Zimmer verschwand.

Ich zerrte mein Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich Rasmus hatte mindestens 8 Mal versucht mich anzurufen. Und als er mich nicht erreicht hatte, musste er es auf dem Festnetzt versucht haben. Ich drückte auf

die Rückruftaste, während ich in meinem Zimmer verschwand.

„Rasmus“, rief ich, als er abnahm. „Was ist mit Jonah los? Wo ist er? Warum redet er nicht mit mir?“

„Mila, ich kann dir das nicht am Telefon erklären. Kannst du zu uns kommen?“, sagte Rasmus. Sein Ton klang matt, irgendwie müde oder traurig oder beides.

„Was ist passiert?“, fragte ich mit einem leichten Anfall von Hysterie in der Stimme.

„Komm bitte her. Dann erzähle ich es dir“, meinte er  nur.

Mein Kopf startete den Schleudergang. Hatte Jonah eine andere? Und jetzt war

er zu feige um es mir selbst zu sagen? Hatte er Rasmus beauftragt mir die ganze Sache schonend beizubringen? Oder Jonah hatte doch einen Unfall gehabt und lag halbtot im Krankenhaus?

Oder vielleicht bereits im Leichenschauhaus?

Ohne Bescheid zu sagen, stürzte ich aus der Wohnung, zerrte das Fahrrad aus dem Keller und raste zum alten Fabrikgelände, wo Rasmus und Sascha sich in einer alten Werkstatt  eine Loftwohnung eingerichtet hatten. Mir war völlig egal, was meine Eltern davon halten würden. Selbst wenn ich Hausarrest bis zum Renteneintritt bekam ich wollte endlich wissen, was mit Jonah

los war.

Kapitel 23

„Ich lass euch dann mal allein“, meinte Sascha, nahm seine Jacke vom Haken und zog hinter sich die Tür zu.

Rasmus und ich standen uns im Flur gegenüber, hörten auf Saschas hallende Schritte im Treppenhaus und schwiegen. Erst als es draußen still geworden war, trat Rasmus auf mich zu, zog mich in seine starken Arme und drückte mich an sich. Ich erwiderte seine Umarmung, obwohl ich ziemlich verwirrt war.

„Komm, wir setzen uns. Willst du was trinken?“, fragte Rasmus und schob mich sanft zu der gemütlichen Eckcouch im Wohnbereich.

„Nein, ich will eine Antwort. Was. Ist. Mit. Jonah?“ Ich sah meinen schwulen Freund herausfordernd an. „Hat er eine andere? Willst du mir das sagen?“

Rasmus schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht“, flüsterte er.

„Was dann? Hatte er einen Unfall?“, bohrte ich weiter auf der Suche nach einer Antwort.

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Über den Autor

TaraMerveille
Es ist gar nicht so einfach, Worte zu finden, mit denen ich mich beschreiben könnte.
Also mache ich es ganz kurz: Ich habe die 43 überschritten, bin aber in meinem Herzen noch viel jünger (bilde ich mir wenigstens ein). Mein Geld verdiene ich als Erzieherin in einem evangelischen Kindergarten - jeden Tag eine Menge Storys. Ansonsten bin ich verheiratet, habe 3 Kinder und neben dem Schreiben noch andere Hobbys - fotografieren, lesen, reiten, Musik machen ...
Meist schreibe ich an längeren Projekten für die Zielgruppe "Teenager", oft auch an verschiedenen gleichzeitig. Hin und wieder versuche ich mich auch an einer Kurzgeschichte. Seht selbst ...
Ich schreibe schon seit einigen Jahren und meine elektronische Schublade füllt sich so nach und nach. Meine Kinder und nur ganz wenige Freundinnen haben schon drin gelesen - nun bin ich gespannt, was andere dazu sagen.

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