13. Kapitel
Das neue Schuljahr begann ohne mich, genau wie die neue Saison der Footballmeisterschaften. Es ging mir mies und das Gefühl steigerte sich in obermies, wenn ich daran dachte, wie es Amelie in diesen Tagen wahrscheinlich ging. Ich fühlte mich machtlos und betrogen, hatte keine Perspektive und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, Kontakt zu Amelie aufzunehmen. Sie hatte auf meine Nachricht nicht reagiert und ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass sie den Brief womöglich nie erhalten hat. Josef hatte es tatsächlich geschafft, mich
einzuschüchtern. Mein Leben befand sich in einer Abwärtsspirale, aber noch mehr hatte ich Angst um den Menschen, den ich liebte. In diesen Tagen fiel mir keine Möglichkeit ein, sie zu treffen, ohne uns zu gefährden. Es war eingetreten, was ich nie für möglich hielt. Josef hatte uns zu Marionetten seines perversen Spiels gemacht, in die Knie gezwungen und damit unsere Zukunft in der Hand. Natürlich wäre es einfach gewesen, zur Polizei zu gehen, aber ich hatte immer noch Josefs Worte im Ohr, dass er am längeren Hebel sitzen würde und inzwischen aufgegeben, ihn und seinen Einfluss zu unterschätzen. Ich war verwirrt,
verunsichert und tot unglücklich, vermisste die Frau an meiner Seite und entbehrte eine ehrliche Perspektive. Das Glück hatte uns verlassen, ehe wir nur den Hauch davon spüren durften. Wo war mein Kampfgeist geblieben? Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich Angst und dieser Umstand machte mich fürchterlich wütend. Von Amelie sah und hörte ich nichts und ich wagte mich nicht in ihre Nähe. All diese Gefühle waren neu für mich, ich erkannte mich nicht wieder, war nicht mehr ich selbst und ich verfluchte Josef dafür, dass er auf diese Art und Weise mein Leben beeinflusste. Natürlich konnte ich nicht schlafen, wälzte mich
zwischen schrecklichen Alpträumen und Phasen, in denen ich immer noch von einer glücklichen Zukunft mit Amelie träumte, auf meinem Bett hin und her. Fand am Tag keine Ruhe und in der Nacht keine Erholung. Meine Wohnung befand sich in einem desolaten Zustand und ich selbst ließ mich gehen. Einige Male war ich versucht, meinen ganzen Kummer mit Alkohol herunterzuspülen und nur der Gedanke an meinen Erzfeind hielt mich davon ab. Nicht auszudenken, wenn Amelie doch plötzlich hier auftauchen würde und ich ihr im Vollrausch begegne. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ihr ging und kein Weg führte mich zu ihr. Es war ein
Teufelskreis und ich fand den Ausgang nicht.
Auf der Suche nach Irgendetwas ließ ich mich vom Tag treiben, war mit den Gedanken ständig bei der Frau, nach der ich mich sehnte und die ich ursprünglich beschützen wollte. Nun sah es wohl so aus, dass wir uns gegenseitig schützten, in dem wir uns aus dem Weg gingen. Manchmal nagte der kleine böse Gedanke in meinem Hinterkopf, dass Amelie vielleicht gar nicht mehr mit mir in Kontakt treten wollte. War ich unter Umständen nur eine kurze Ablenkung und Laune und sie würde so oder so bei ihrem Mann bleiben, egal, was sich in ihren vier Wänden abspielte? Der
Gedanke, so unvorstellbar er auch war, quälte mich immer häufiger, je mehr Zeit verging.
Was Josef für ein mieser, durchtriebener Kerl war, erfuhr ich an einem dieser planlosen, unglücklichen Tage.
Ich hatte den längst notwendigen Einkauf immer wieder vor mir hergeschoben, bis ich wirklich nichts mehr in meinem Kühlschrank fand. Hunger hatte ich nie, aber ich zwang mich, wenigstens einmal am Tag etwas zu essen. Nachdem absolut nichts mehr vorhanden war, machte ich mich lustlos auf den Weg zum Supermarkt. Natürlich wählte ich den, auf dessen Parkplatz ich vor Wochen Amelie traf. Auch wenn ich
wusste, dass sie mit Sicherheit dort nicht mehr einkaufte, brachte ich es nicht fertig, mein letztes Fünkchen Hoffnung aufzugeben. Es war eine Quälerei, dort einzukaufen, aber es war mir egal. Alles, was mit ihr zu tun hatte, schmerzte. Antriebslos schlich ich durch die Gänge und warf gedankenverloren einige Dinge in den Einkaufswagen, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich ein Junge blitzschnell umdrehte und hinter dem nächsten Regal verschwand, nachdem er mich gesehen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Curlys Bruder, Aaron Jones war, der sich da offensichtlich vor mir verstecken wollte. War das die
Gelegenheit, etwas herauszukriegen? Urplötzlich hellwach, lief ich ihm hinterher.
„Aaron, hey bleib doch mal stehen. Du hast mich doch gesehen, sag wenigstens Hallo zu mir!“, sprach ich ihn an, als er hinter der nächsten Ecke verschwinden wollte. Er schaute kurz zu mir, drehte sich tatsächlich erneut um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Er lief vor mir weg, soviel verstand ich und mein Instinkt war geweckt.
„Hey, bleib doch mal stehen und rede mit mir. Ich tu dir ja nichts.“ Ich hatte mich ihm in den Weg gestellt und mit gesenktem Kopf blieb er nun endlich stehen.
„Was ist los, Aaron? Warum haust du ab, wenn du mich siehst?“
Es fiel ihm sichtlich schwer, mich anzuschauen und als er es tat, sah ich, wie hin- und hergerissen er war.
„Jim, es ist blöd, aber ich darf nicht mit dir reden“, stammelte er sichtlich nervös. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen und es tat mir augenblicklich leid, dass ich den Jungen in Schwierigkeiten brachte. Aber es war eine Chance für mich und ich wollte sie einfach nicht ungenutzt lassen.
„Das tut mir leid, aber kannst du mir nicht ganz kurz sagen, was bei euch los ist? Wie geht es Curly und was ist passiert? Aaron, es ist wichtig für mich“,
versuchte ich, ihn zum Reden zu überzeugen.
„Ich darf wirklich nix sagen, sorry Jim.“ Er stotterte, war sichtlich unruhig und wich meinem Blick immer wieder aus.
„Sagt wer? Aaron, bitte rede mit mir!“ Ich war dicht an ihn herangetreten und hatte mit dem Zeigfinger sein Kinn so weit angehoben, dass er mir in die Augen schauen musste. Die Unentschlossenheit darin, ließ mich fast aufgeben, als er leise murmelte. „Verdammt, ich kriege bestimmt riesigen Ärger, wenn das rauskommt. Die haben mir wirklich verboten, mit dir zu reden.“
Inzwischen war ich viel zu neugierig, um
noch aufgeben zu können. Curlys Bruder wurde gezwungen, etwas zu verschweigen und ich spürte, dass er kurz davor war, einzuknicken. Ich musste es einfach wissen.
„Bist du allein hier?“, fragte ich und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass er nickte.
„Pass auf, ich verspreche dir, dass ich mit niemanden über dich reden werde. Wir haben uns hier nie getroffen und haben schon gar nicht miteinander gesprochen. Aber bitte sag mir, was mit Curly los ist und warum du nicht mit mir reden darfst.“
Endlich hatte ich ihn erreicht. Aaron war immer ein ehrlicher und
zuverlässiger Spieler gewesen und ein Vorbild für viele andere. Offensichtlich hatte sein Gewissen gesiegt, denn er zog mich ein Stück hinter sich her, bis wir fast unsichtbar für andere, zwischen Gartengeräten stehen blieben.
„Hoffentlich versaue ich es jetzt nicht. Du darfst wirklich keinem was sagen, versprichst du das, Jim?“
Ich hielt ihm meine Hand hin und diesmal nickte ich. Es fiel mir wirklich schwer, den kleinen Kerl so in Bedrängnis zu bringen, aber inzwischen war es zu spät, wieder zu gehen.
„Du weißt doch, dass mein Dad keinen Job hat, seit er krank ist. Und du weißt auch, dass wir einfach keine Kohle
haben. Es ist ein ewiger Scheiß, das Geld vom Amt reicht nie, Mom kriegt nicht viel und von Grandma bekommen wir auch nix mehr. Und dann kam dieser Mann und hat ganz lange mit Mom und Dad gequatscht.“ Aaron atmet schnell, es ist ihm sichtlich unangenehm und im Grunde braucht er fast nicht weiterzureden. Ich ahne bereits, was als Nächstes kommt und ich behalte recht.
„Ich weiß auch nicht warum, Jim. Aber wir haben richtig viel Kohle bekommen. Dad hat ein neues Auto und wir haben neue Spielerklamotten und mein kleiner Bruder ein neues Fahrrad. Verstehst du? Das reicht jetzt ne Weile und alles nur, weil Curly eine kleine Geschichte erzählt
hat. Kannst du das nicht verstehen? Jim?“ Längst hatte ich an ihm vorbei in die Weite gestarrt und die Fäuste in den Hosentaschen geballt. Auch wenn ich es im Grunde vermutet hatte, war es noch mal etwas anderes, es aus dem Mund des Jungen zu hören. Es tat mir leid, dass er nun durch mich Probleme mit seinem Gewissen bekam. Kurz strich ich mit der Hand über seinen Kopf. „Natürlich kann ich das. Sorry, dass ich das so sagen muss, aber ihr Zwei seid noch zu jung, um zu verstehen, was da passiert ist. Mit Euch und mit mir. Aus Eurer Sicht, habt Ihr vielleicht nichts falsch gemacht, Curly nicht und du auch nicht. Aber trotzdem war es nicht richtig, das werdet
Ihr später verstehen.“ Schon wieder hatte ich keine Wahl. Ich konnte doch Aaron das Leben nicht schwer machen. Irgendwann wird er vielleicht dahinter kommen, was da in seiner Familie geschehen ist und eventuell wird er es dann bedauern. Seine Familie hat durch die Lüge ein kurzes Glück auf meine Kosten gehabt. Der Geldsegen hält nicht lange an, mit der Lüge jedoch werden sie ihr ganzes Leben zurechtkommen müssen.
„Bist du nicht sauer?“
„Nein Aaron, ich bin nicht sauer. Wie ausgemacht - wir haben uns hier nicht getroffen, okay?“
Verschwörerisch boxten wir unsere
Handknöchel aneinander und schon war er erleichtert hinter dem nächsten Regal verschwunden.
Da war sie also, die Wahrheit um Curlys Geschichte. So einfach war das. Geld regiert die Welt und diese Familie hatte zugegriffen. Wer kann es ihnen verübeln? Es geschah auf meine Kosten, aber mir war klar, dass mein Wort nicht zählen würde. Amelies Mann war ein durchtriebener Mistkerl, aber er war nicht dumm. Warum also das gekaufte Glück der Familie zerstören? Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Möglichkeiten und wie von mir gefordert, würde ich die Füße still halten und hoffen, dass meine Chance kommen würde.
Ziel- und planlos lief ich durch die Gänge, füllte meinen Einkaufswagen wahllos mit irgendwelchen Lebensmitteln und stand bald darauf an der Kasse. Noch nie war mir mein Einkauf so egal, wie an diesem Tag, es hatte ja sowieso alles seinen Sinn verloren. Wie gern hätte ich mich um eine kleine Familie gekümmert … Den Gedanken bekämpfte ich mit aller Macht, war er doch in weite Ferne gerückt.
In meiner Wohnung angekommen, ließ ich die Tüten achtlos auf den Küchenschrank fallen und gab mich sofort meinem Müßiggang hin. Nichts hatte mehr eine Bedeutung in meinem
Leben und ich besaß einfach nicht die Kraft, gegen Windmühlen zu kämpfen.
Als es an der Wohnungstür klingelte wagte ich es nicht, diese zu öffnen, die Angst saß mir im Nacken, dass draußen die nächste Katastrophe lauerte. Niemand hatte mir in letzter Zeit erfreuliche Nachrichten gebracht, warum sollte es dieses Mal anders sein? Beharrliches Klopfen und Läuten ließ mich nach einiger Zeit dennoch zur Tür schlurfen und durch den keinen Spion schauen. Ich wollte den Störenfried so schnell wie möglich loswerden und war auf alles gefasst, nur nicht auf das, was ich sah. Amelie? Stand dort tatsächlich Amelie? Ich riss die Tür auf und alles
was ich wahrnahm, war die Frau meiner Träume, umgeben von mehreren Taschen und Koffern. Ihr Blick war unsicher und entschlossen zugleich und erzeugte auf meiner Haut Hitze und Kälte in einem. Sie war wirklich zu mir gekommen und offensichtlich wollte sie bleiben? War sie endlich geflohen? Zu mir? Hatte sie endlich begriffen, dass sie nicht länger bei diesem Mann bleiben konnte? Regungslos stand sie immer noch vor der Tür, sah so aus, als ob sie sich das Ganze doch noch einmal überlegen wollte. Dann, ganz langsam zogen sich ihre Mundwinkel nach oben und wortlos kam sie einen Schritt auf mich zu. Ebenso wortlos öffnete ich meine Arme.
Sehnsucht und Freude drückte mir die Luft aus der Lunge und mein Herz zusammen. Alles, was ich wollte, stand nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt vor mir und ich ging den letzten Schritt auf sie zu. Wollte sie endlich in meine Arme schließen, sie spüren und ihren Duft einatmen. „Amelie!“, war alles, was ich heiser zu sagen schaffte, dann schloss ich die Arme und - griff ins Leere - durch Amelie hindurch. Sie war einfach nicht fühlbar, so sehr ich auch nach ihr tastete. Sie war eine Vision und mit meinem wachsenden Entsetzen löste sie sich in Luft auf.
Sie war nicht da, stand nicht vor meiner Tür und hatte auch nicht geklopft. Heftig
atmend und schweißgebadet erwachte ich auf meinem Sofa. Ich lag zwischen schmutzigen Kleidungsstücken, Essensresten und alten Zeitungen, wie ein Penner und hatte nur einen schrecklich realen Traum geträumt. Einen Traum, der sich so richtig und so gut angefühlt hatte. Aber es war nicht mehr, als eine Illusion. Würde ich jemals wieder ein normales Leben führen können?
©Memory