Die Richteri
„Luisa, du Gute, was würde ich nur ohne dich machen!“
Der Ausruf reiner Erleichterung drang durch die Gegensprechanlage wie ein verkorkster Radetzky-Marsch. Ich hatte ganze viermal auf die Haustürklingel des Mehrfamilienhauses einprügeln müssen, bis der Rhythmus meiner Schläge eine menschliche Stimme hervorgebracht hatte.
„Hallo Anita, sei so gut und beeile dich. Mir fallen gleich die Arme ab.“
„Ach herrje. Natürlich.“
Anita war eine Bekannte meiner Mutter.
Sie hatten früher beruflich zu tun gehabt, allerdings war Anita seit einigen Jahren in Pension und lebte alleine in einer Maisonettewohnung nahe dem neuen Rathaus von Michelstadt. Auch ihr Mann war Goldschmied und Kunstschnitzer gewesen und so war es nicht weiter verwunderlich, dass ich mich in ihrer Nähe sehr wohl fühlte.
Heute allerdings war ich kurz davor aus dem Radetzky-Marsch der Türklinge Bachs Toccata und Fugo in Dminor zu machen, um meiner Glieder zu gedenken.
Bis ich mit den gesamten aufgetragenen Einkäufen von ihr im dritten Stock angekommen war, war ich dem Irrglauben erlegen, ich könne aus meinen
Armen Lassos formen, wobei ich beim Abstellen der Taschen auch vorstellen konnte wie Frankensteins Monster auseinander zu bröseln. Diese Veranschaulichung würde dann wieder mit dem klassischen Stück von Bach harmonieren, welches nicht selten Bestandteil von Gruselfilmen gewesen war.
Meine Synapsen mussten einen meteorologischen Schock erlitten haben. Was für einen Käse dachte ich da bitte?
Ich fror und schwitzte zugleich. Der erste Kälteeinbruch im Odenwald hatte jeden überrumpelt. Ich war im klassischen Zwiebellook gekleidet und die Nässe in meinem Gesicht waren mit
Sicherheit keine Tränen, weil eine Schneeflocke den Asphalt am Morgen berührt hatte, ohne dass der örtliche Wetterdienst, das THW und die Freiwillige Feuerwehr Michelstadt und Erbach gemeinsam den Notstand ausgerufen hatten.
„Werden in den nächsten Tagen die Ressourcen aufgrund von terroristischen Odenwälder Wildschweinen knapp, wolltest du den Brüdern Aldi zu noch mehr Reichtum verhelfen oder wieso dieser gigantische Einkauf?“, hakte ich nach, nachdem ich auf ihrem edel Flokati zusammengebrochen war.
Ein metallisches Klopfen drang an meine Ohren und ich richtete meinen
Blick auf eine dynamische Schiene am Knie meiner Bekannten.
„Das tut ja schon beim Hingucken weh. Wie hast du das geschafft?“
„Ich habe mich mit einem Bernhardiner angelegt. Na ja, zumindest glaubte der Zwergpudel, dass er einer wäre“, brachte Anita so trocken hervor, dass sie damit einen Stausee verdampfen lassen konnte.
Deswegen konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Könnest du das nächste Mal damit warten bis die Familie Braun aus dem Urlaub zurück ist? Die haben Autos und können Hamstereinkäufe besser bewältigen als ich zu
Fuß.“
Anita lächelte mich liebevoll und auch etwas schuldbewusst an. Dabei verrutschte, ganz typisch für sie, ihre Brille. Sie konnte ohne diese keinen Meter weit sehen, deswegen fand ich den Vergleich zwischen Bernhardiner und Zweckpudel nicht ganz so verkehrt.
„Spare dir bitte jeden weiteren Kommentar. Meine Tochter hat mich auch schon belehrt, ich solle mir eine neue Brille zulegen.“
Ich lehnte die gereichte Hand ab, damit Anita sich an mir und meinen Tonnen an Klamotten nicht auch noch einen Bruch hob. Sie schüttelte den Kopf und humpelte mit den Unterarmgehstützen in
Richtung ihrer Küche.
Aus Sicherheitsgründen für mein Rückgrat nahm ich nur zwei von vier Einkaufstaschen mit. Den Rucksack mit den 1,5 Litern Wasserflaschen hatte ich erst gar nicht abgelegt. Stattdessen detonierte der null kalorische Sixpack auf Anitas Anrichte. Die seismischen Erschütterungen ließen ein Blech mit Kuchen davonsausen wie der Zechpreller vor dem Wirt.
„Du hast ihn noch nicht probiert, also musst du den armen Kuchen wegschmeißen.“
Wenn Melanie eine begnadete Köchin des Exotischen war, dann war Anita die Hüterin der Odenwälder Kuchen und
Backstuben. Mit weniger als zwei verputzen Kuchenstücken ließ sie einen nicht gehen und als ehemalige Richterin wusste sie auch, wie man eine Befragung ausweiten konnte.
Sie war Witwe und ihre Tochter hatte beruflich sehr viel zu tun. Ich hatte sie seit wirklich vielen Jahren nicht mehr gesehen.
„Wenn Melanie kommen muss, um mich abzuholen, bekomme ich wirklich Ärger“, lachte ich und fing an, die Lebensmittel auszupacken und Anita anzureichen.
„Meinst du das vollbusige Wunder oder die Mutter-Theresa-Amazone?“
Für einen Moment hielt ich erstarrt inne.
Dass Anita einen wandelnder, verbaler Hammer war und sie maßgeblich mit daran Schuld hatte, dass meine Wortreichtümer mit der Größe des Nibelungen Schatzes konkurrieren konnte, war mir vollkommen bewusst. Die Bezeichnung meines Muttertieres Melanie jedoch, war wirklich krass.
„Wow, ihr beide könnt euch wirklich nicht leiden“, erwiderte ich etwas zögernd, doch von Reue keine Spur bei der Richterin.
Seelenruhig verstaute sie Reis, Linsen und Nudeln in einen der oberen Schränke.
„Luisa, ich bin dieser Frau sehr dankbar, dass sie dich nach dem Verlust aller
Finanzen und deiner Familie aufgenommen hat. Jedoch bist du kein kleines Kind, das man herum duddeln muss. Du hättest auch bei mir einziehen können. Meine Wohnung ist nun wirklich groß genug für zwei.“
Ich reichte ihr Konserven an, allerdings schwieg ich, denn zu dem Zeitpunkt, an dem ich alles verloren hatte, war meine Wahl auf Melanies großzügiges Angebot gefallen, selbst wenn ich mein geliebtes Muttertier damals erst einige Wochen kannte.
Anita, eine Richterin mit hervorragendem Ruf und einer soliden Karriere, sollte nicht mit jemanden wie mir konfrontiert werden. Ich hatte die
menschliche Hölle gesehen. Macht, Geld und Egoismus ohne Rücksicht auf Freunde, Verwandte und Geliebte. Letztere war ich gewesen, jedenfalls hatte ich das jahrelang geglaubt. Von dem Mann, dem ich bedingungslos vertraut hatte, ausgenutzt und betrogen zu werden, so dass nicht nur ich sondern auch mein Großvater Hab und Gut verloren hatte. Ich kam aus dieser Hölle und hatte nur noch den Gedanken wahrgenommen, Gerechtigkeit einzufordern und diese schloss Justiziar aus und Luzifer mit ein.
Mohrrüben, Lauch und der allseits verhasster Rosenkohl landeten unsanft im Gemüsefach. Jogurt und Käse folgten
zwei Fächer weiter oben.
„Ich finde sie übertreibt maßlos mit ihrer Einschätzung, dass deine Rachegedanken dich in ernsthafte Konflikte mit der Justiz bringen könnten.“
Die Stimme von Anita war kühl und ausgesprochen gelassen. Es war wahrscheinlich diese Tonlage, mit der sie mehr als dreißig Jahre lang Urteile ausgesprochen hatte. Die Worte klangen derart endgültig, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Trotz dieser als Manifest gesprochenen Worte packte mich ein innerer Zorn und ich stellte mich, zumindest verbal, gegen meine langjährige Bekannte.
„Mein einziger Gedanke war gewesen, dass dieser Mensch sterben und bezahlen sollte, für das, was er all den Menschen angetan hat, die er jahrelang aus reinem Nazismus betrogen und ausgebeutet hat. Ich habe mehr als hundert Methoden entwickelt, ihn kaltzustellen und von der Hälfte dieser Methoden gehe ich davon aus, dass selbst dir ein Urteilsspruch nicht möglich gewesen wäre.“
Von meiner Aussage blieb sie vollkommen unberührt. Ihr Blick hinter der viel zu großen Neunzigerjahre-Brille war kühl und abwartend. Und genau dieser Ausdruck steigerte meine Rage
nur noch mehr.
„Anita, ich wollte diesen Menschen umbringen. Ich wollte Selbstjustiz üben, weil der Staat es nicht gekonnt hätte. Es fehlte an Beweisen. 'Ich sei selbst schuld an meiner Gutgläubigkeit. Im Liebeskummer sähe alles viel schlimmer aus.' Gott wie ich diese Worte aus dem Mund der Beamten und Anwälte gehasst habe.“
Langsam, sehr vorsichtig sogar, wandte sich Anita um. Als hätte sie Sorge, ich könne in einer Einkaufstasche einen geladenen Revolver versteckt haben. Sie griff an die Seite, stellte ihren Kaffeevollautomaten ein, holte zwei Kaffeegedecke hervor und rettete
nochmals das Kuchenblech vor mir.
„Aber du hast ihn nicht getötet.“
Der Satz schlug bei mir wie ein Fausthieb ein. Nicht in die Magengrube, sondern mit voller Wucht auf mein Herz.
„Die Justiz übt nur, oder besser, noch Gerechtigkeit. Gesetze werden von Menschen gemacht und uns Richtern sind, Gott sei Dank, im Strafvollzug Grenzen gesetzt. Denn um ganz ehrlich zu sein, wie soll man bitte den wirklichen Schaden strafen, den ein Mord, eine Vergewaltigung oder Misshandlung verursacht?“
Während die Kaffeemaschine dröhnte und Anita den Streuselkuchen aufschnitt, blickte ich stumm zu
Boden.
„Ich kann es mir nur leisten, diese Worte zu sagen, da ich mich im Ruhestand befinde.“
Weiterhin konnte ich nicht in ihre Augen sehen. Ich schämte mich: für meine Gedanken und auch für meine Gefühle. Der menschliche Abgrund war mir so unglaublich nahe.
„Es ist jetzt fast ein Jahr her, dass der Typ hopps gegangen ist. Während ich seine Todesanzeige betrachtete hatte, war mir zum ersten Mal in meinem Leben der Gedanke gekommen: Wenn es wirklich so etwas wie einen Herrgott gibt, dann hat er einen Sinn für schwarzen Humor.“ Hin und wieder war
ich erstaunt, wie viele Menschen meiner Umgebung meinen Ex tot sahen, aber dies von Anita zu hören hatte ein wesentlich höheres Gewicht, als ich es mir ertäumt hätte. In der Tat war der Unfalltod meines Ex etwas, das schon an höhere Macht glauben lassen konnte. Der Sturz von einer Balustrade in ein Exponat, welches ihn durchbohrte und langsam verbluten ließ. Scherzhafterweise hatte es sich um einen Mamutstoßzahn gehandelt, ein Stück aus der Werkstatt meiner Familie und aus einer Kunstsammlung von einer Person, die auch ihm zum Opfer gefallen war.
„Luisa, dir ist nicht mehr zu helfen.
Nach allem, was passiert ist, hast du Mitleid für den Tod dieses Schweins. Von mir aus hätte der Zahn ihm in der Leistengegend aufspießen sollen.“
Oh mein Gott, dieses Bild musste ich erst mal loswerden. Augenblicklich sprang ich aus der Küche, um die letzten Einkäufe zu holen. Es schüttelte mich am gesamten Körper, bei der Vermischung von Kopfkino und körperlichen Einzelheiten aus der Vergangenheit.
Nachdem ich den Blick von Anita aufgefangen hatte, bemerkte ich, dass der letzte Satz eher als Schocktherapie gedacht gewesen war, damit ich wieder eine normale menschliche Regung zeigte.
Therapie geglückt.
Brrrr, mich schüttelte es noch einmal.
„Diese Melanie übertreibt mit ihrer Sorge um dich. Du bist wesentlich stärker als du dir selber zutraust. Deine Art mit dem Liebeskummer und deinen Verlusten umzugehen, ist vielleicht moralisch fragwürdig...“
Ich musste etwas grinsen, selbst wenn dieses Lächeln vor Zynismus überquoll.
„Aber“, führte die alte Richterin fort, „du hast einen Weg gefunden, mit der Situation umzugehen und sie zu bewältigen, ohne eine Waffe in die Hand zu nehmen.“
Sie humpelte auf mich zu und strich mir, als Andenken an meine Großmutter, über
die Wange und den Nasenrücken.
„Du hast die Chance dein Leben weiter zu planen. Du hast so viel Talent und ein so großes Herz. Sogar für ein Schwein wie deinen Ex.“
Sie nahm mich in den Arm. Ich war kurz davor zu heulen. Doch auch für diese Gefühlsregung kannte die Richterin ein bewehrtes Hausmittel.
„So, meine Liebe, mein Rezept gegen schlechte Laune, Frust und Liebeskummer, Patentrezept gegen Krach mit dem Göttergatten: Streuselkuchen mit Schlagsahne und ein großer Pott Kaffee.“
„Mach daraus Curry Bombay mit Mango-Creme als Nachtisch und du bist
Melanie ähnlicher als dir lieb ist“, konnte ich mir als Seitenhieb nicht verkneifen und bekam den bitter bösesten Blick aller Zeiten von Anita zurückgeworfen, den sie mir als Mutter und Freundin zuwerfen konnte.
Wie schon einmal erwähnt unter zwei Stück Kuchen kam nicht aus ihren
Fängen.