Das hier ist nur eine Art Test, auch um mal zu sehen, was ihr von meiner neuen Idee haltet. Es werden noch weitere Kapitel hinzukommen, je nachdem, wie ich Lust und Laune habe.
Es ist auch mein erster Versuch an einem Hörbuch, zumindest bezüglich mystories.de. Vertont habe ich bisher nur das erste Kapitel. Entschuldigt bitte die leichten Patzer und das Rauschen. Ich hoffe, es gefällt trotzdem.
In diesem Sinne wünsche ich gute (26-minütige oder längere) Unterhaltung.
Ich weiß noch, wie es damals begonnen hat, vor etwa einem Jahr. Ich bin auf dem Weg zur Schule gewesen, es war ein Montag, ich war müde und die Luft war klirrend kalt gewesen, weil die Nacht sternenklar war und die Sonne noch keine Zeit gehabt hatte, die Luft zu erwärmen, sie war frisch gewesen und hatte nach Nacht geduftet, so wie jeden Morgen, ein Duft, der sich einfach nicht beschreiben lässt. Es war schon hell gewesen, die Sonne war aufgegangen und hatte ihren Lauf genommen. Doch dann, plötzlich, hatte ich einen Schatten auf dem Boden
gesehen und es war schlagartig noch kälter geworden, vielleicht, weil ich gespürt hatte, dass etwas Böses über mir lauerte. Als ich den Blick gen Himmel hob, spürte ich auch dieses dumpfe Brummen, der ganze Boden schien zu vibrieren, wie die Luft um mich herum auch. Ich hörte entsetzte Aufschreie von den Menschen um mich herum und als ich sah, was uns da plötzlich von oben herab beobachtete, blieb mir selbst der Schrei, den ich gerne ausgestoßen hätte, in der Kehle stecken. Und der Himmel färbte sich schwarz vor dunklen Schwingen, gelb leuchtende Augen starrten uns aus der Finsternis
blutlüstern an, und obwohl es plötzlich so laut war um mich herum, geradezu ohrenbetäubend, schien die Zeit stillzustehen. Das Entsetzen hatte mich gelähmt. Ich kam erst wieder zu mir, als plötzlich ein Hagel aus schwarzen Körpern auf uns niederging, wie Raubvögel schossen sie zu uns hinunter, still wie der Tod selbst, nur das Rauschen ihrer Schwingen war zu hören, das Schmatzen ihrer Fänge, die sich in Fleisch bohrten, und es war reines Glück, dass ich nicht eines ihrer Opfer wurde, so wie einer meiner Freunde, die sich mit mir auf dem Weg zur Schule befunden hatten. Ja, ich glaube sogar, allein sein
schmerzerfüllter Aufschrei, sein Todeskampf, den er bald darauf ausfocht, war es, der mich von meiner Schreckensstarre befreite. Ich floh mit einigen anderen Menschen in die Schule, die wir beinahe erreicht hatten, wir verbarrikadierten uns dort und verstanden die Welt nicht mehr. Ja, das ist alles, was ich von diesem Tag noch weiß. Heute bin ich siebzehn Jahre alt, mein Name ist Louis Maison. Ich lebe in Frankreich, in einer Großstadt mit ehemals mehr als zwei Millionen Einwohnern, genau genommen in der Hauptstadt Frankreichs, Paris. Ursprünglich stamme ich allerdings aus
einem kleineren Ort, doch mit dem Auftauchen der Monster wurden wir in die Städte zurückgedrängt, denn die sind einfacher zu verteidigen und bieten mehr Raum auf kleinerer Fläche. Nun ist es Februar und es ist beinahe genauso kalt wie damals. Der vergangene Sommer war nicht wirklich warm. Es ist, als seien wir in eine eisige Hölle hinabgestoßen worden. Das Weltklima ist im letzten Jahr beträchtlich gesunken und wir wissen nicht einmal, warum. Jetzt, in diesem Augenblick, schätze ich die Temperatur auf etwa minus zehn Grad Celsius. Das ist nicht sonderlich beeindruckend, aber trotzdem kalt.
Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich arbeite dort, so wie alle hier, die sich nicht zur Verteidigung haben einteilen lassen. Das bedeutet, die meisten aller Frauen, die etwas älteren Kinder sowie sämtliche Angsthasen und Weicheier, so wie ich. Der Weg ist nicht weit, er führt von dem Häuserblock, den ich mit meinem Vater, meinem älteren Bruder und meinem Kumpel bewohne, über eine Straße und dann in eine U-Bahnstation. Unterirdische Wege sind die sichersten. Die Monster halten sich zumeist in der Luft auf. Die Luft hier unten schmeckt abgestanden und noch frostiger, klamm
und fremd, auch irgendwie feucht. Es riecht nach Beton und Staub. Ich ziehe mir die Kapuze meines Anoraks über den Kopf, verberge die Nase in meinem Schal. Ich hasse dunkle Gänge und hier funktioniert das Licht schon seit Monaten nicht mehr. Wir sind nicht abgeschnitten von der Welt. Es gibt vereinzelt noch Strom und Wasser, so wie in meiner Wohnung, manche haben sogar noch Internet und Telefon. Aber das ist beinahe noch deprimierender, als gar keine Verbindung mehr zur Außenwelt zu haben. Denn was könnte niederschmetternder sein, als eine Verbindung, an deren Ende keine Hilfe
wartet? Niemand kann uns helfen, weil alle die gleichen Probleme haben. Die Monster haben uns umzingelt. Ja, die Monster. Wer sind sie eigentlich, diese Monster, von denen ich spreche? Mittlerweile haben sie viele Namen. Manche nennen sie aufgrund ihrer rabenschwarzen gefiederten Schwingen Dämonen oder auch gefallene Engel, andere bezeichnen sie wegen ihrer Angewohnheit, Blut zu trinken, als Vampire, manche vergleichen sie aufgrund ihrer Vogelklauen und der Flügel, die zugleich ihre Hände sind, mit den Harpyien aus der griechischen Mythologie und für wieder andere,
solche Leute wie mich, sind sie einfach nur Monster, Bestien in grotesker Menschengestalt, und keiner besonderen Bezeichnung würdig. Die Gläubigen unserer Gesellschaft sagen, sie wären die Strafe des Himmels, weil die Menschheit so viele Dinge getan hat, die Gott ihnen verboten hat. Ich könnte es ihm nicht einmal verübeln, wenn er sich entschieden hätte, uns von seiner Erde zu tilgen, immerhin haben wir auch seine Schöpfung zerstört, den Regenwald abgeholzt zum Beispiel und ganze Tierarten ausgerottet, anstatt sie, wie es in der Bibel steht, zu beschützen. Na ja, ich könnte es nachvollziehen.
Wenn ich an ihn glauben würde. Ich war nie gläubig. Nicht gläubiger als die meisten anderen Jugendlichen in meinem Alter. Wir lebten immerhin in einer aufgeklärten Welt und auch in einer Welt, in der Monarchien als Regierungsform nahezu abgeschafft worden waren. Es gab nichts mehr, das wir als gottgegeben betrachten mussten. Wir waren selbstständig. Und dennoch. Die Kirche predigt, wir müssten für unsere Sünden büßen, so wie sie es schon seit mehr als tausend Jahren tagein, tagaus tut. Und diese Buße soll uns auch nicht hier, in unserem jetzigen Leben, vor den Bestien retten, sondern
nur unsere Seelen, damit wir zumindest nach dem Tod ein schönes Leben haben, wenn dieses hier doch schon so beschissen ist. Ich für meinen Teil bete nicht, ich packe lieber an, wenn auch nicht besonders kräftig, zumindest nicht so kräftig wie ich gern würde. Aber ich bin eben eher unscheinbar. Und in diesem Augenblick steige ich in die U-Bahn, die einzige, die in meiner Wohngegend noch fährt und sie fährt nur zweimal am Tag. Einmal morgens und einmal abends, damit alle Helfer zum Krankenhaus kommen und wieder zurück. Manchmal, wenn ich meine Gedanken
nicht zügeln kann, schweifen sie in eine unbestimmte Zukunft, in der die Bahn, weil ihr der Saft ausgegangen ist, einfach stehenbleibt und wir im Waggon eingesperrt sind, zumindest bis einer auf die Idee kommt, die Fenster einzuschlagen. Und dann werden wir uns zu Fuß durch den U-Bahntunnel quetschen, bis wir irgendwann Licht sehen und wieder an der frischen Luft sind. Das klingt nicht wirklich schlimm, oder? Nein … das ist nicht schlimm. Schlimm ist, dass eine stehenbleibende U-Bahn doch in gewisser Weise ein weiterer Schritt Richtung Ende ist, denn dann wissen wir, dass irgendwo auf der
Welt eine weitere unserer Stromversorgungen eingeknickt ist und dass wir nie wieder zurückkönnen. Es geht immer nur bergab. Wir ziehen zwar die Bremse an, aber zurück können wir nicht mehr. Darum wiegt jeder Schritt wie Blei. Jeder einzelne Schritt abwärts macht uns Angst. Es ist eng in der U-Bahn. Sie zieht nur einen einzigen Wagen und wir passen ja auch alle irgendwie rein. Und außerdem gibt es uns ein Gefühl von Zusammenhalt. Ja … Zusammenhalt. Wie viele Romane, Filme und Videospiele hat es über das mögliche
Ende der Welt gegeben? Es sind hunderte. Zombies, Naturkatastrophen, Aliens. Fiktion, die wir entweder als überzogen oder als denkbar betrachten, und dennoch war sie immer ganz weit weg von uns. Und jetzt stecken wir plötzlich mittendrin. Ja … es ist das Ende. Ich mache mir da nichts vor. Es geht immer nur bergab. Aber der springende Punkt ist doch die Frage danach, wie die Menschheit auf ihr Ende reagieren würde. Was passiert, wenn wir merken, dass wir uns in einer Geisterbahn Richtung Hölle befinden und dem nicht mehr entkommen
können? Ich persönlich konnte mich da nie entscheiden. Ich war ein großer Fan von Actionfilmen mit Tiefgang, cool und berührend zugleich. Und ich hielt es für vorstellbar, dass die Menschen in einer solchen Extremsituation in Panik ausbrechen und alles hinschmeißen würden, dass sie sich zerstreuen würden, bis es nur noch einzelne Gruppen gibt, bis jeder nur noch auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Dass die meisten Menschen egoistisch sind, ist nicht abzustreiten. Doch die Realität hat gezeigt – wir haben begriffen. Merkwürdigerweise hatten wir uns alle
zusammengerafft, die Regierung hatte vernünftig reagiert, den Notstand ausgerufen und die kleinen Dörfer evakuieren lassen. Oh ja, ich werde wohl niemals vergessen, welche ohnmächtige Erleichterung mich packte, als bewaffnete Menschen in unsere Schule stürmten und uns mittels ihrer Gewehre beschützten, während sie uns zu den Bussen brachten, mit denen sie gekommen waren. Wir waren in die nächstgelegene Stadt gebracht worden, in meinem Fall Paris, und dort wurden wir in Wohnblocks untergebracht. Das Essen war streng rationiert worden. Ich war verwirrt gewesen, wie betäubt,
das alles war mir vorgekommen wie ein Albtraum, ein Film, in dem ich eine kleine Nebenrolle spielte, denn ich war ja nur ein Junge von sechszehn Jahren gewesen, den keiner fragte. Aber ich war so froh gewesen, meinen Vater, meinen Bruder und meinen besten Freund in meine Arme schließen zu können. Die Bahn hält an, ich steige aus, zusammen mit all den anderen. Geschlossen gehen wir die Treppen hinauf, wir bleiben eng beieinander, jeder sieht so aus wie ich, in olivbraunem Kittel, mit Kapuze, die Hände in den Taschen vergraben, den Blick gesenkt. Beieinander zu bleiben ist
die beste Taktik, um unversehrt zu bleiben, für den Fall eines Angriffs. Ohne den Kopf zu heben, linse ich nach oben, kaum dass die kalte Winterluft wieder meine Wangen streift. Der trockene Wind lässt meine Lippen spröde werden. Ich kann sie sehen. Vor uns ragt das Krankenhaus auf, ein weißes Gebäude, erhaben zwischen all den anderen Häusern, die teilweise von längst vergangenen Zeiten zeugen. Ich kann sie sehen. Ihre schwarze Erscheinung, ihre gefiederten Schwingen, ich kann sehen, wie sie sich mit ihren Krallen am Dachvorsprung der Gebäude
festklammern, wie sie ihre Köpfe in einem unnatürlichen Winkel verdrehen, um uns in Augenschein nehmen zu können. Ich kann sie hören. Ihr Keckern, ihr Kichern, dieses schaurige Geräusch, wenn sie den Speichel, der ihnen vor lauter freudiger Erwartung von ihren spitzen Eckzähnen rinnt, wieder zurück in ihre Mundhöhle ziehen, dieses Schlürfen, dieses Schmatzen. Wir erreichen das Krankenhaus, treten ein, ohne angegriffen zu werden. Niemand weiß, nach welchem Muster sie sich ihre Opfer aussuchen, unter welchen Umständen sie angreifen, doch
sie scheinen Menschenmassen zu meiden. Aber sie beobachten uns immerzu. Sie sind überall. Wo früher fette Tauben auf dem Bürgersteig umherwackelten, sind nun sie auf den Dächern und sie lassen uns für keine Sekunde aus den dämonisch glühenden Augen. Drinnen angekommen zerstreuen wir uns, manche gehen wie ich die Treppe hinauf, andere bleiben unten. Jeder weiß, wo er gebraucht wird. Es gibt verschiedene Abteilungen. Ich glaube, ich habe direkt nach dem Todestrakt den schlimmsten Job von allen. Den, für den die meisten Leute gebraucht werden. Ich helfe in der
Abteilung für die Opfer der Angriffe aus. Ein stets deprimierender Job. Ich gehe zwei Gänge entlang und betrete schließlich ein weißes Krankenzimmer, in dem Menschen in sterilen Betten liegen und zugleich auch andere behandelt werden. Wobei … viel Behandlung brauchen die meisten eigentlich nicht mehr. Ich ziehe meinen Mantel aus, dann begrüße ich den hier stationierten Arzt, ein Mann Mitte dreißig, immer mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Ich mag ihn. „Louis, gut, dass du da bist“, sagte der Doktor und hält einen Beutel mit Spenderblut in die Höhe. „Könntest du
wohl eine Transfusion für den Patienten mit der Nummer 224 durchführen? Ich habe hier noch einige Wunden zu nähen.“ Ich nehme ihm den Beutel ab. „Klar, kein Ding“, sage ich und betrachte kurz das tiefe, wabernde Rot, dann besinne ich mich darauf, dass es mit Sicherheit eilt und suche besagtes Krankenbett auf, das Bett eines Mädchens, das nur vierzehn Jahre alt ist, wie ich feststelle. Ich beeile mich damit, die Transfusion zu legen. Es gehört zum Alltag. Damals, vor weniger als einem Jahr, habe ich einen Crashkurs für solche Sachen erhalten, seitdem darf ich im Prinzip alles machen, wenn ich es nur für
richtig halte. Echte, geschulte Ärzte sind rar, aufgrund ihrer Anatomiekenntnisse müssen die meisten von ihnen in der Chirurgie helfen, denn Chirurgen gibt es noch viel weniger. Und für die einfachen Sachen, wie eine Transfusion, Spritzen und Untersuchungen bleiben nur noch wir Laien übrig. Dr. Martin, mein Vorgesetzter, war ursprünglich Tierarzt, doch im Grunde ist das ja vollkommen egal, auch wir Menschen sind letzten Endes nichts weiter als Tiere. Ich will mich gerade abwenden, als ich bemerke, wie das Mädchen sich rührt. Ich drehe mich wieder zu ihr um und
mustere ihr bleiches Gesicht, die dunklen Ringe unter ihren Augen, die blau angelaufenen Lippen. Ein typisches Krankheitsbild. „Hey“, sage ich leise und trete wieder neben ihr Bett. „Kannst du schon wieder sprechen?“ „Ja“, bringt sie schwach wispernd hervor, sie kann kaum die Augen offenhalten. „Wie geht es dir?“, frage ich sie weiter. „Es tut weh“, klagt sie und Tränen rollen aus ihren Augenwinkeln. Ich nicke beinahe gedankenverloren. „Ich weiß. Warte kurz“, sage ich und hole einen weiteren Infusionsbeutel heran, dieses Mal ist er mit einer
leichten Dosierung von Schmerzmitteln gefüllt. Wir müssen sparsam damit umgehen, allerdings soll keiner mehr leiden als unbedingt nötig. Die psychischen Belastungen sind schon schlimm genug. „Das könnte jetzt kurz wehtun“, warne ich das Mädchen leise und im nächsten Moment führe ich eine Nadel in ihre Blutbahnen ein, drehe langsam die Infusion auf. „Danke“, sagt sie leise und zieht die Nase hoch. „Versuch zu schlafen“, sage ich. „Dann wird sich dein Körper schnell wieder erholen.“ „Ja“, nickt das Mädchen brav und schließt die Augen.
Ich trete zurück, beobachte das fremde Blut, das in ihren Körper sickert. Blutspenden sind wertvoll. Auch ich gebe so oft wie möglich ab, was andere brauchen. Jeder tut das, denn jeder weiß, dass er eines Tages darauf angewiesen sein könnte. Leider ist nicht immer jede Blutgruppe verfügbar. Und außerdem ist die Blutgewinnung ein sehr schleichender Prozess. Wir brauchen mehr Blut, als gespendet werden kann. Unsere Körper sind alle mangelernährt, trotz der Vitamin-und Eisenpräparate, aber es ist auch der Stress, der uns zu schaffen macht, unsere Körper kommen bei den Belastungen unseres nahezu
apokalyptischen neuen Lebens nicht hinterher. Wir sind im Grunde nicht für dieses Leben geschaffen und trotzdem tun wir für die Gesellschaft unser Möglichstes. Es ist kalt im Krankenhaus. Es kann nur begrenzt geheizt werden. Öl gibt es fast gar nicht mehr, die Lieferungen sind schon vor Monaten immer weniger geworden. Nur Strom haben wir hier noch und wer weiß, wie lange es dauert, bis irgendwo eine der Bestien die Stromversorgung umreißt. Unsere Leben stehen immerzu auf Messers Schneide. Aber es gibt immer nur ein vorwärts für uns. Auch wenn vorwärts gleichzeitig auch bergab bedeutet. Aber
stehenbleiben ist undenkbar, zumindest für mich und alle anderen, die noch am Leben sind. Wir haben unsere Leben nicht einfach weggeworfen. Vor meinem inneren Auge blitzt für eine Sekunde ein Gesicht auf, ein freundliches, liebes Gesicht mit Sommersprossen, umrahmt von sanft gewellten, blonden Haaren. Leane, ein Mädchen aus meiner Klassenstufe, nur fünfzehn Jahre alt. Wir hatten gemeinsam für zwei Stunden in unserer Schule festgesessen und waren auch gemeinsam nach Paris gebracht worden, wir waren sogar dem selben Wohnblock zugeteilt worden. Sie hatte ihre Eltern verloren und hatte
mit einem fremden Ehepaar in einer Wohnung leben müssen, sie war mit der neuen Situation und mit der Trauer nicht zurechtgekommen und ich hatte nicht einmal davon gewusst. Ich hatte nur immer ihren teilnahmslosen, leeren Blick gesehen und sie niemals angesprochen, weil ich gedacht hatte, sie wolle allein sein. Wirklich begriffen hatte ich ihren inneren Kampf und ihre Verzweiflung erst, als ich ihre Leiche vor unserer Haustür fand, zerschmettert durch den Aufprall auf dem Bürgersteig. Aber da war es schon zu spät gewesen. Die Bestien hatten sich wie Geier an ihr bedient, sodass sie gar nicht mehr
wiederzuerkennen gewesen war. Ich hatte es auch mehr gespürt als es zu begreifen … … ich hatte begriffen, dass Leane ihr Leben hatte beenden wollen. Die Menschen streben danach, zu leben, wie sie es wollen. Und manche können sich nicht an neue Umstände anpassen und entscheiden sich dafür, immerhin zu sterben, wie sie es wollen. Ich starre aus dem Fenster. Eine seltsame Ruhe beherrscht mich seit jenem Tag. Ich war nie wirklich ein aufgeweckter Junge, aber ich war lebendig und ausgelassen. Jetzt ist es, als trüge ich eine Bleikugel mit mir herum. Sie reißt mich nicht mit in den
Abgrund, weil es Menschen gibt, die sie mit mir zusammen tragen, doch sie verlangsamt mich und mein Denken. Der Tag zieht an mir vorbei. Nichts hat wirklich Bedeutung. Ich kümmere mich um die Leute, aber … sie bedeuten mir nichts. Ich lasse das nicht an mich heran und wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich noch hier bin. Warum ich morgens immer noch aufstehe und hierherkomme, ohne in Depressionen zu versinken. Es ist ein Pflichtbewusstsein, das tief in mir verwurzelt ist. Mit freiem Willen hat das eigentlich nichts mehr zu tun. Ich mache einfach, ich lebe einfach, Tag für Tag für Tag.
Gegen Mittag ein penetrantes Piepen. Ein Mann mittleren Alters ist tot. Die Transfusion hat ihn nicht gerettet. Ein heftiger Schlag für uns. Das Blut, das wir ihm zugeführt haben, ist wertvoll und hätte noch andere Leben retten können. Ein toter Patient ist immer ein Schlag ins Gesicht, mit dem Knie voraus. Aber es ist auch Alltag. Dr. Martin ordnet an, dass ich dem Toten so viel Blut abnehmen soll wie nur möglich. Es ist wichtig. Wir brauchen jeden Tropfen. Ich schaffe das Blut ins Labor, wo es auf seine Verwendbarkeit geprüft wird. Die Blutgruppe kennen wir ja schon.
Schließlich hole ich aus dem Todestrakt jemanden, der mit mir die Leiche eben dorthin verlegt, wir sprechen nicht viel, tragen nur den Toten in ein anderes Zimmer. Der Todestrakt. Ich weiß, dass das eigentlich die Bezeichnung für den Teil eines Gefängnisses ist, in dem zum Tode verurteilte Verbrecher inhaftiert sind, doch ich halte diese Bezeichnung für durchaus sinnvoll. Es ist ein Trakt des Krankenhauses, der vom Tod überschattet ist. Welcher Name hätte wohl passender sein können? In besagtem Todestrakt unseres imposanten Krankenhauses landen nur
Verstorbene und Leute, die wir mit Sicherheit nicht mehr retten können. Sie einfach so auszusortieren, mag herzlos klingen, aber so ist es nun mal. Und es gibt Leute, die gar nicht gerettet werden wollen. Manche tragen eine Art Ausweis bei sich, auf dem sie verzeichnet haben, dass sie, sollte es schlecht um sie stehen, einfach nur in Ruhe sterben wollen. In Ruhe. Das ist ein Privileg. Die ganzen anderen Toten, die schon kalte Leichen sind, bevor sie hierherkommen, sind meist unter grausamen Qualen gestorben, während eine Bestie ihnen den Hals aufgerissen,
sie ausgesaugt und anschließend vielleicht auch ein wenig angeknabbert hat. Ich will mir das nicht vorstellen. Einen solchen Angriff. Auch nicht, dass es mir eines Tages ebenso ergehen könnte. Dass mich eines dieser Monster anfallen könnte … Das ist der einzige Gedanke, der in mir noch echtes Unbehagen auslöst. Ich trage keines von diesen eben genannten Dokumenten bei mir, weil ich doch überhaupt nicht weiß, was es bedeutet, zu sterben. Ich habe doch keine Vorstellung davon. Ich denke, wenn es so weit ist, wird die Natur schon
den richtigen Weg einschlagen, auch wenn es mit Leid verbunden ist. Aber so erscheint es mir irgendwie am richtigsten. Ein Uhr. Ich höre draußen die Kirchturmuhr schlagen. Draußen vor dem Fenster wehen einige zarte Schneeflocken vorbei. Eisblumen kriechen am Glas hinauf, fast als strecke der Winter seine frostige Hand nach den Verletzten und Sterbenden aus. Eigentlich eine sehr friedliche Vorstellung. Das weiße Krankenzimmer wirkt auf eine abstrakte Weise wie aus der Zeit genommen.
„Ein neuer Fall, Louis“, sagt Dr. Martin da und zieht sich neue Handschuhe an. Ich hebe den Blick, sehe ihn an, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ein neuer Patient, schwer verwundet, starker Blutverlust, vermutlich bewusstlos oder sogar schon tot. Ich höre das jeden Tag und ich glaube, ich begreife gar nicht wirklich, dass es um Menschenleben geht. Es ist, als wäre das alles weit, weit weg. Doch im nächsten Augenblick begreife ich, dass meine vogelähnliche Perspektive auf die Geschehnisse um mich herum nur von begrenzter Dauer sein sollte und dass der Boden immer
näher kam. Denn als ich nun den neuen Patienten sehe, ist es, als schlüge ich hart auf der Erde auf. Mit einem Mal bin ich wieder hellwach, als hätte ich die ganze Zeit vor mich hingedöst. „Léo!“, rufe ich entsetzt aus und eile an das Bett, das gerade von zwei Helferinnen in den Raum geschoben wird. Ich habe ihn sofort erkannt, an seinem hellen Haarschopf, allein das hat genügt, um meinen zwei Jahre älteren Bruder zu erkennen. „Oh Scheiße“, gibt Léo leise von sich. „Sorry, Louis … ich habe nicht gewollt, dass du mich so siehst.“ Er legt eine Hand auf seinen Hals, der notdürftig mit einem Verband bedeckt worden war.
„Aber … ich habe ja Glück gehabt.“ „Was ist passiert?“, will ich hastig wissen. Léo stöhnt leise. Es schmerzt, ihn so zu sehen. Mein Herz hämmert heftig gegen meinen Brustkorb. „Ich war auf Patrouille für die Schule“, sagt Léo nun. „Ich habe es nicht kommen sehen. Das Vieh hat mich aus dem Schatten attackiert, ich habe in dem Gerangel mein Gewehr verloren und konnte mich nicht wehren. Und zack … ehe ich mich versah, hatte ich seine Fangzähne in meinem Hals. Es hatte nicht lange Zeit, das Mistvieh, ein Kollege kam zufällig vorbei und hat es erschossen. Aber … Louis, mein ganzer
Körper fühlt sich taub an.“ „Das ist das Gift“, sage ich leise und greife nach Léos Hand. Sie fühlt sich kalt an und ich sehe unter seinen Nägeln das blau verfärbte Fleisch. Ein typisches Krankheitsbild … „Louis, entschuldige, aber dein Bruder muss jetzt schnell behandelt werden“, sagt der Doktor da und schiebt mich entschlossen zur Seite, beginnt, den Verband abzunehmen. Ich protestiere nicht, natürlich nicht, ich weiß, dass der Doktor Léo helfen kann. Als er die Wunde freilegt, kann ich sehen, dass die Verletzung wirklich ungewöhnlich harmlos ist. Aber dennoch ist es ein Schock gewesen, den eigenen
Bruder hier als Opfer anzutreffen. Ich sehe glänzendes Blut aus der Wunde sickern, es sind zwei kleine Löcher. Die Bestie hat offenbar wirklich nicht viel Zeit gehabt. Aber dennoch handelt es sich um eine Verletzung der Halsschlagader, die schnell behandelt werden muss. Glücklicherweise hemmt der Speichel der Bestien die Blutung, doch zugleich ist er auch giftig, je mehr ihre Opfer diesem Gift ausgesetzt sind, desto gefährlicher wird es. Es fängt bei Taubheitsgefühlen an, vor allem Lippen, Zehen und Fingerspitzen sind betroffen und färben sich blau, als ob sich die Betroffenen verkühlt hätten, eigentlich
eine harmlose Sache, jedoch kann das Gift auch Lähmungen hervorrufen und im schlimmsten Fall tödlich wirken. Manche Lähmungserscheinungen verschwinden nie wieder. Allein der Gedanke daran verursacht mir Übelkeit. Und plötzlich kann ich es mir vorstellen, ich kann es mir ausmalen. Diese spitzen Vampirzähne an meinem Hals, ein nach Leichen stinkender, kalter Atem in meinem Nacken, Klauen, die sich um meine Brust schließen und sich darin versenken, gefolgt von den beiden dolchartigen Zähnen, das Gift, das in die Wunde sickert, das Blut, das meinen Körper verlässt … eine lähmende
Taubheit, die es einem unmöglich macht, sich zu wehren. Was muss es für ein Gefühl sein, seinen Tod mitzuerleben, ohne sich wehren zu können? „Louis, ich brauche dich hier.“ Dr. Martins Stimme holt mich überraschend effektiv aus meinen plötzlich erschreckend realistischen Tagträumen und eilig trete ich zu Léo, helfe dem Doktor dabei, die nun gereinigte Wunde erneut abzudecken. Schließlich können wir Léos Bett zu den anderen schieben. „Komm mal mit mir, Junge“, sagt der Doktor da und ich sehe überrascht auf, noch ehe ich reagieren kann, legt er
seinen Arm um meine Schulter und zieht mich mit sich. Im Nebenraum angekommen nimmt er die Thermoskanne, die auf dem Tisch steht, und füllt zwei weiße Tassen mit Kaffee. Eine Tasse davon drückt er mir in die Hand. „Du wirkst müde“, sagt der Doktor erklärend. „So ein Kaffee kann Wunder wirken.“ Ich sage nichts. Ich nippe nur an dem Getränk. Es ist bitter, so bitter, dass sich alles in meinem Mund zusammenzieht, aber ich sage nichts. „Das mit Léo scheint dich geschockt zu haben“, spricht der Doktor einfach weiter. „Das ist verständlich. Ich mache dir keine Vorwürfe, aber ich sorge mich
um dich.“ „Danke“, sage ich einfach nur, starre weiter ins Nichts. Dann sehe ich jedoch auf. „Glauben sie, dass er wieder auf die Beine kommt?“, will ich wissen. „Gewiss“, erwidert der Doktor. „Was ist mit dem Gift?“, frage ich. Dr. Martin zuckt mit den Schultern und sieht mich bedauernd an. „Wir können nur hoffen, dass sein Körper stark genug ist, um damit selbst fertigzuwerden.“ Er lächelt mir aufmunternd zu. „Gib ihm einfach ein paar Tage Zeit, Louis.“ „Okay.“ Ich trinke den Kaffee aus. Ich fühle mich seltsam leer. „Du bist ein starker Junge, weißt du“, sagt der Doktor da und steht auf. „Was
glaubst du, wie viele vor dir hier waren? Die wenigsten halten länger als zwei Monate durch. Das hier … ist sehr viel niederschmetternder als gewöhnliche Krankenhäuser früher.“
Ja, denke ich. Ich lasse nichts an mich heran. Aber stark … stark bin ich nicht. Ich stelle die Kaffeetasse weg, sehe für einige Augenblicke auf den Boden. „Danke“, sage ich dann einfach nur. „Aber das ist eben mein Job. Jeder tut, was er kann.“
Ryvais Ooh ja bitte schreib das weiter!!! Ahem. Doch, die Geschichte gefällt mir sehr gut. Ich hab zwar schon so einiges an Dystopien gelesen, aber bisher ist mir irgendwie keine untergekommen, deren Idee dem ähnlich war. Das einzige, was ich etwas störend fand, waren ein paar stilistische Sachen, weil du einige Male in einen Ton fällst, der eher in einen Sachtext passen würde. Ist aber auch nicht dramatisch. Das Hörbuch hab ich mir jetzt nicht angehört, deswegen kann ich dazu auch nichts sagen. Aaber ich wollte mich noch für deinen Kommentar und die Coins bedanken. Eigentlich wollte ich schon längst antworten, aber ich fang grad an zu studieren und irgendwie nimmt mich das doch mehr als gedacht in Anspruch. Wie gesagt, ich hoffe, du setzt das hier fort :) Lg, Ryvais |
Selina2000 Oh, wow ;) Freut mich, dass es dir gefällt :D Schön, dich wiederzusehen ;D Und ja - wirklich, es ist was Neues? ich bin überrascht xD Danke jedenfalls. Und das mit dem Sachtext-ähnlichen könnte unter Umständen dem Charakter des Protagonisten geschuldet sein, er verfällt gerne Mal in rationale Gedankengänge, wenn er sich von der Realität zu distanzieren versucht. Na ja, falls das irgendwie eine Erklärung ist xD Danke jedenfalls für deinen Kommentar :) Hat mich sehr gefreut ^.^ |
Selina2000 Ja, ich weiß, was du meinst ^^ Gut, dass so eine "Flasche" - die sich eigentlich nur benimmt wie jeder normale Mensch in einer ihn überfordernden Situation - nicht nervig wirkt :) (Also ... hoffe ich xD) |
Selina2000 Vielen Dank, das macht mich sehr glücklich ^.^ LG Sel |