die tabaksdose
Ich habe sie soeben aus der Vitrine genommen. Sie hat die Zeit überdauert. Die Zeit von meiner Kindheit bis heute. Sie gehörte meinem Großvater. Und jetzt liegt sie mir in der Hand, rund, glatt, silbern glänzend. Sie ist flach, schmiegt sich ohne Hindernis in eine Männerhand, ist aber etwas zu groß für eine Frauenhand. Dennoch strahlen meine Augen, wenn ich sie betrachte. In der Mitte als Deckel ein Bild. Kupferfarben, dunkel geworden durch das Alter. Auf dem Ast eines Baumes ein Auerhahn mit ausgebreiteten Flügeln und aufgefächertem Schwanz, den Kopf weit nach oben gereckt und den
Schnabel zum Schrei geöffnet. Ganz winzig im Hintergrund die Silhouette der bayerischen Berge. Vielleicht ein liebevoll ausgewähltes Geschenk. Darüber hat Großvater nie gesprochen.
Dann sehe ich ihn vor mir. Das Foto verblichen. Er sitzt auf einer Bank, hinter ihm die Berge. In der Hand eine lange Pfeife. Neben ihm eine junge Frau. Sie war nicht meine Großmutter, wie ich später erfuhr. Sie war die große Liebe seines Lebens, im Alter seine zweite Frau. Eine Liebe, die viele Jahrzehnte überdauerte. Ebenso wie diese Tabaksdose, die ich hier in der Hand halte. Sie ist mir geblieben, als mein Großvater wegzog um wieder zu heiraten
Noch heute ist sie ein Bindeglied zwischen mir und ihm, meiner ersten großen Liebe. Hält meine Erinnerung an ihn wach. Als ich noch Kind war, haben wir sie oft gemeinsam geöffnet. Ein kleines Stück von einem Weichselast lag darin. Sein unnachahmlicher Duft betörte meine Kindernase, weckte Erinnerungen an die Besuche der Kirschgärten. Meine Bitte, aus seinem Leben zu erzählen, blieb bei Großvater nicht ungehört. Immer wieder schlugen mich seine Geschichten in ihren Bann. Die Geschichten aus seiner Kindheit am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
Vorsichtig drücke ich die Dose seitlich
zusammen, bis der Deckel mit dem Kupferbild beinahe geräuschlos aufspringt. Das kleine Stückchen Weichselholz mit seinem Duft ist längst Vergangenheit. Aber Bilder meiner Kindheit mit dem Großvater steigen lebendiger auf als sonst: die Spaziergänge durch den Wald, die Vogel- und Baumnamen, die Schlittenfahrten, die selbst gebastelten Wasserrädchen am Bach, die Kastanienketten und Eichelfigürchen, der Duft der Sonntagszigarre und noch viel mehr. Heute ist es besonders die Erinnerung an ein Weidenpfeifchen und einen geschnitzten Wanderstecken.
Oberhalb der Landstraße zieht sich am Hang ein schöner Fußweg durch den lichten
Buchenwald. Es ist Frühsommer und die Buchenblätter leuchten hellgrün. Die Haselbüsche bersten fast von dem starken Saftfluss unter der Rinde. Opa und ich, noch nicht sechs Jahre alt, haben auf einer Bank am Wegrand Platz genommen. Die Vögel zwitschern und tirilieren aus voller Kehle. Eine Weile lauschen wir. Dann holt Großvater sein altes Taschenmesser aus der Hosentasche, klappt es umständlich auf und schneidet einen mehr als einen Daumen dicken Haselzweig. Ich bin neugierig geworden. Doch Opa schweigt schmunzelnd auf meine Fragen. Mit geschickten Fingern schneidet er in die Rinde, klopft sie dann leicht, kürzt den Stecken und drückt mir nach kurzer Zeit ein Pfeifchen in die Hand. Und …
oh Wunder … es tönt wie ein Vogelstimmchen. Doch nicht genug. Noch ein beherzter Schnitt. Spiralig windet er sich durch die Rinde entlang des Steckens. Wieder zartes Klopfen. Leicht lässt sich die Rinde vom Holz abziehen. Geschickt schiebt Opa den Anfang der Spirale über das Ende des Pfeifchens, verbindet das untere, lose Ende der Rinde in einem großen Bogen mit dem Rest. Jetzt sieht alles wie ein großer Trichter aus. Und es klingt herrlich, wenn ich dem Pfeifchen vorsichtig Töne entlocke. „Das ist eine Schalmei“, erklärt mir Großvater lächelnd. Während ich mit dem Instrument beschäftigt bin, zaubert er mit seinem Messer in einen weiteren Haselstecken wunderbare Rindenschnitzereien. „Das wird
ein Wanderstecken für dich, mein Schatz“, meint Opa. Ich kann meine bewundernden Blicke nicht von seinen geschickten Händen lösen. Endlich drückt er mir das fertige Werk in die kleine Hand. Wir sitzen noch ein Weilchen auf der Bank und ziehen dann Hand in Hand glücklich heimwärts.
Diese und die anderen Geschichten sind auf immer in Opas Tabaksdose eingeschlossen. Und kein Fotoalbum der Welt kann sie so lebendig erhalten, diese Bilder und meine innige Beziehung und Liebe zum Großvater. Die Erinnerungen an die glücklichste Zeit meines Lebens.
Dazu ruht ein Beutelchen mit Weihrauchharz
in der Dose. Auch sein Duft ist betörend. Und wenn die Wehmut über eine vergangene Kindheit und den Verlust des geliebten Großvaters zu groß werden, entzünde ich ein paar Körnchen Weihrauch und träume mich zurück in jene heile Zeit. In Gedanken sage ich „Danke, lieber Großvater.“
Vorsichtig schließe ich den Deckel der Tabaksdose wieder und stelle sie in den Schrank zurück.
©HeiO 20-01-2016