„Ließe, kommst du bitte mal!“ Das kennt man doch. Ein Name oder ein Laut ausgerufen von der Mutter. Es bedurfte in der Kindheit nur dieses Geräusches und sämtliche Nackenhaare würden niemals mehr Haargel benötigen. Dieser zervikale Irokese holte mich jedoch nicht aus einem Albtraum der vergessenen Kindheit ein, nein, ich befand mich an meiner Werkbank in der Realität und vernahm die Stimme meiner Chefin. „Ließe!“, ertönte nun etwas strenger der Ton und ich verwandelte mich spontan in
eine Schildkröte. Die Erinnerungen an meine Großmutter, welche mich einst so gerufen hatte, tauchten wieder auf, oder auch jene an die alte Frau Braun, die mich erwischte, wie Thomas und ich bis zum Hals in der Klärgrube steckten. Das hier ist bitte wörtlich zu nehmen. Seit dem Tod der beiden Frauen hörte ich diese Koseform eines Spitznamen nur noch, wenn Marianne in der Scheiße saß. Das hier ist wiederum nur als Phrase zu nehmen. Weil Thomas seine Mutter sehr gut kannte und zur selben Zeit betete, nicht
Tommy gerufen zu werden, klopfte mir dieser Verräter mitleidig auf die Schulter. Nach dem Motto: Ich war die Schildkröte mit dem dicken Panzer und er der Angsthase mit den schnellen Läufen. Vorsichtig spähte ich in den Verkaufsraum, denn das dritte liebliche „Ließe“ war derart süß gewesen, dass meine Ohren einen diabetischen Schock erlitten hatten und das wiederum versprach eine äußerst gereizte Marianne. Wenn meine Chefin unverdauliche Glukose war, so war ihr Gegenüber wahrscheinlich konzentriere
Ascorbinsäure. Der Herr hätte auch eine alte Zitrone darstellen können. Immerhin blickte er sehr sauer drein und wirkte so gar nicht wie die Personen, welche wir hier normalerweise als Kunden begrüßen konnten. Seine Stimme hingegen hatte etwas Animalisches. „Können Sie aus den Holzstücken noch was machen, oder nicht?“ „Ich kann es Ihnen nicht versprechen, vor allem nicht bei Ihren Preisvorstellungen“, die diabetische Salve nahm wieder mehr Säurungsmittel an und ich beschloss vorsichtshalber noch etwas hinter großen Vitrine
stehenzubleiben. „Sie haben das Gold und das Holz, also muss ich nur Ihre Arbeitszeit bezahlen.“ Ah, wir hatten es mit einem Kunden von der Sorte „Extrawunsch, aber bitte zum Discounterpreis“ zu tun. Eine Sorte Kunde, welche jeden Handwerker zur Weißglut treiben konnte. Im Hintergrund meldete sich wieder der Verräter aus Kindheitstagen und zeigte mir seine Reihen an blitzweißen Zähnen, welche ich in diesem Augenblick am liebsten nach innen gemeißelt hätte. Noch ehe ich an die Ladentheke treten konnte, schnaubte und grunzte der Kerl meine Chefin an, legte das Material auf den Tisch und stapfte geräuschvoll von
dannen. „War das ein Mensch oder eine Wildsau?“, flüsterte Thomas mir ins Ohr, doch ehe ich die Nummerierungen meiner Meißel durchgehen konnte, schlug Mariannes Stimme wie ein Faustschlag ein. Da halfen auch keine Hasenpfoten mehr. Ihr Sohn hatte ein echtes Problem. „Wahrscheinlich beides.“ Sie stemmte die Arme in die Hüften um nicht wild mit den Händen zu fuchteln. „Der Kerl ist nicht bei Sinnen. Ich soll aus diesen beiden Eheringe und den Holzresten Manschettenknöpfen für eine Jägertracht anfertigen.“ „Du machst doch gerne
Trachtenschmuck“, warf Thomas undiplomatischerweise ein. Mit rasiermesserscharfen Blicken zog Marianne ihrem vorwitzigem Sohn das Fell über die Ohren. Sie hatte also schon sehr lange mit dem Herren diskutiert, ehe die Verunstaltung meines Namens in die Werkstatt vorgedrungen war. „Er will nicht mehr als 200€ dafür ausgeben.“ Das war ein Schlag ins Gesicht für jeden Geschäftsmann und das verstand sogar Thomas. Während sich die beiden Selbständigen über diesen Handel aufregten, nahm ich mir das Werkmaterial vor. 585 Gold war nicht schlecht, ich
erkannte schnell die Arbeit meines alten verstorbenen Meisters Herrn Braun, Mariannes Bruder. Ein schönes Paar Goldringe mit hochwertigen Ziselierungen. Eine Arbeit aus einer Zeit, in der viel Geld vorhanden gewesen sein musste. Leider hatte man aus dem Ring der Ehefrau den Edelstein entfernen lassen. Früher eine beliebte Methode, um an etwas Geld zu kommen. Ich war mir dieses Schrittes der Umarbeitung sicher, weil das Entfernen des Steines eher stümperhaft gemacht worden war. Ich konnte auch ohne Lupe die Werkzugspuren erkennen. So hätte niemand aus der Familie Braun
gearbeitet. Das Holz, welches der Herr mitgebracht hatte, sah schon ziemlich vermodert aus. Es musste lange in der Erde gelegen haben, denn es roch noch nach frischem Erdboden und auf dem Taschentuch befanden sich Erdkrümel. „Was hat er gesagt soll das sein?“, fragte ich und unterbrach somit die Unterhaltung meiner Chefs. „Er hat mir eine herzzerreißende Geschichte aufs Ohr gedrückt.“ Ah, jetzt verstand ich wieso Marianne kurz vor dem Ausrasten war. Mit Mitleid den Preis drücken, war wirklich eine miese Masche und ich hätte sie niemals einem Mann zugetraut, der mit seinem
schütteren, grauem Haar und dem Bart wirklich etwas wie eine Odenwälder Wildsau aussah. Dieser Mann hatte in jungen Jahren zugepackt und schwer für das, was er erreicht hatte, gearbeitet. Viel sagen ließ sich dieser Mann wahrscheinlich nicht. „Er habe das Holz vor dem Gärtner gerettet, den er eingestellt hat, weil ihm der Garten buchstäblich über den Kopf gewachsen ist. Angeblich hat der Gärtner die Rhododendronbüsche standhaft zurück gestutzt und teilweise entwurzelt. Der Garten sei der Stolz seiner verstorbenen Frau und seiner Schwester gewesen. Diese seien aber vor Jahren von einer Urlaubsreise nicht mehr
zurückgekehrt und seitdem würde er auf Haus und geliebten Garten achten, bis die beiden eines Tages wieder auftauchen würden.“ „Toll, da hat einer zu viel Rosamunde Pilcher gelesen“, brummte Thomas und Marianne schnaubte verächtlich. In Anbetracht der familiären Todesfälle in der Familie Braun enthielt ich mich jeglicher Zustimmung. An dem Wahrheitsgehalt dieser Story zweifelte von uns niemand. Nach einem sentimentalen Hausherren und Gatten hatte der Kunde nun wirklich nicht ausgesehen. Selbst wenn er sauber und akkurat gekleidet gewirkt hatte. Vorsichtig wandte ich die Stücke Holz in
meinen Fingern herum. Die Beschaffenheit des Materials ließ mich stutzen. „Wie lange kannst du den Herren hinhalten?“ „Ließe, bitte jetzt sag mir nicht, dass du in diesen Holzschnitzeln die Zähne seiner Oma vermutest.“ Meine Chefin spielte damit auf Granteln an, dabei handelte es sich um den Eckzahn aus dem Oberkiefer des Rothirschen. Diese Zähne, besonders die kleineren, waren in erster Linie für den Damenschmuck wie Colliers, Ohrschmuck, Ringe und zarte Armbänder geeignet. Die größeren Grandeln dagegen verwendete man zur Anfertigung reinen Herrenschmucks wie
zum Beispiel für Manschettenknöpfe und Anstecknadeln. Die Zeit, als die Damen widerwillig die Grandeln zum Jagdkostüm getragen haben, hielten sie diese doch für ausgefallene Zähne eines Urgroßvaters, sind Gott sei Dank vorbei. Heute trugt man den edlen Grandelschmuck in Gold oder Silber verarbeitet zum Dirndl und zur alpenländischen Tracht wo er auch gar nicht mehr wegzudenken war. Grandeln wurden bei uns in der Regel nur in 835er Silber in Collier, Ohrschmuck, Broschen, Anhängern, Nadeln und Ringen verarbeitet. Und genau dieses Handwerk war ein Steckenpferd meiner
Chefin. „Marianne, ich bin Elfenbeinschnitzerin, das ist kein Holz, das sind Knochen.“ „Menschlich?“, wollte Thomas wissen sofort, denn Marianne änderte ihre Gesichtsfarbe von wutrot in leichenblass. „Kann ich dir nicht sagen. Das menschliche Skelett besteht aus 208 bis 212 Knochen, die von wenigen Millimetern bis hin zu einem halben Meter groß werden können und alle eine spezifische Funktion in der menschlichen Bewegungsmechanik haben. Ich habe mich leider mehr mit dem 'Um die Ecke bringen' als mit der anatomischen Physiologie des humanitären Bewegungsapparates
beschäftigt.“ „Ließe!“ Und da war er wieder, der zervikale Irokese in meinem Nacken. Beschwichtigend riss ich meine Hände nach oben und polterte los: „Ich weiß, wen ich fragen kann.“ Binnen 48 Stunden wurde der alte Grantler zu Hause in seinem Graten von zwei Beamten besucht. Er ließ sich ohne jede Gegenwehr abführen. Auch gestand er den ersten Mord an seiner Frau vor kapp 15 Jahren und den Mord vor zwei Jahren an seiner Schwester, als diese unter dem Beet am Apfelbaum die Überreste ihrer Schwägerin fand. Das
Tatmotiv war relativ einfach. Im Streit, wegen der Verschwendungssucht seiner Frau, hatte er sie im Zorn mit einem Holzscheit erschlagen. Die DNA-Analyse hatte ergeben, dass er uns zwei Fußwurzelknochen, die Os cuboideum, seiner Frau und Schwägerin gebracht hatte. Ich denke bis heute nicht, dass er ein dummer Mann, welcher zwei Frauen eiskalt ermordete und sich Jahre später, nach dem der Apfelbaum abgestorben war, Trophäen anfertigen lassen wollte, war. Zwar tendieren einige Mörder dazu, etwas von ihren Opfern zu behalten, um selbst nach ihrem Tod noch Macht über sie zu haben, aber dafür war der Auftritt
des Alten viel zu ungewöhnlichen gewesen. Die Augen des Mannes hatten etwas anderes gesagt. Vielleicht hatte er das Absterben des Baumes, als ein Zeichen gesehen und wollte seinem Gewissen Erleichterung erschaffen. Wahrscheinlich hatte er nur deswegen in der Schmiede so einen Aufstand verursacht, weil er von der Last auf seiner Seele befreit werden wollte. Trotz später Sühne aber bleib er nur eines - ein Mörder.