Romane & Erzählungen
Mein Lieblingsort

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"Autorenchallenge 12"
Veröffentlicht am 27. September 2016, 14 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
© Umschlag Bildmaterial: Roland Pöllnitz
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Über den Autor:

Die Ahnung, das Gefühl, der Reiz eines Augenblicks sickert in mein Herz und bildet aus tränenreichen Worten einen See, der, wenn er überläuft, in Kaskaden, Verse schmiedet, die zum Verstand fließen wie ein weiser Strom und sich ins Meer ergießen. Die Hand ist sein Delta, Schreibt auf, was der Fluss von seiner Reise erzählt. (Roland Pöllnitz)
Autorenchallenge 12

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Mein Herz pochte so aufgeregt wie vor meinem ersten Rendezvous. Auf einer Serpentine schindete sich der Wagen auf etwa 1700 Meter hinauf. Immer höher ging es, immer näher kam er der Siedlung Balykschy. Dann endlich sah ich ein erstes bläuliches Schimmern in der Mittagssonne. Am Ende des Passes erstrahlte der Issyk-Kul, der »warme See«, in einem unbeschreiblichen Türkis, umrahmt von schneebedeckten Bergen, und die Wolken lagen auf den Gipfeln wie Haufen von Schlagsahne, eine blaue Perle, eingefasst von Diamanten, ein unvergesslicher Anblick. Ungeduldig sprang ich aus dem Wagen. Das alles überstrahlende Blau des Sees leuchtete ihm entgegen. Am Ende des Horizonts verschmolz der leuchtend blaue Himmel mit dem Königsblau des Sees. Näher am Ufer wurde der See heller, und dicht vor ihm

glasklar. Sogar vom Ufer aus erkannte ich jedes Steinchen, sah jede Bewegung der Schwimmer im kristallinen Wasser. Inzwischen war es früher Abend. Der heiß ersehnte See lag flach wie ein Brett vor seinem Besucher. Ich erlebte in einer ungeahnten Intensität meine Liebe zu diesem Fleckchen Erde. Leise plätscherten die Miniwellen an das Ufer, gleichmäßig, Sekunde für Sekunde, und es war mir, als flüsterten sie mir zu: »Lange habe ich auf dich gewartet. Endlich bist du da. Komm doch her, mein Freund, lass dich umarmen!« Doch bevor ich das heilige Wasser berührte, sprach ich ein fünffaches »Om mani padme hum«. Warm und weich schmiegte sich das Wasser um meine Hände. Freundlich lud der Issyk-Kul zum Bade ein. Schon hatte ich mein Herz verloren an diese Venus, die mich in ihren milden Schoß aufnahm. Wunderliche Wolkengestalten umrahmten unser Liebesspiel; wütende, anthrazitfarbene Dämonen

schleuderten Blitze im entfernten Balykschy. Über dem nahen, unbekannten Pyramidenberg türmte sich aschgrau eine riesige Pilzwolke auf, nach Osten hin tummelte sich eine Herde Wolkenschafe und ganz fern am anderen Ufer des Sees küssten sich ein paar weiße Engel über den Spitzen der schneebedeckten Gipfel. Gulnara sang das alte Lied der Berge mit ihrer klaren und hellen Stimme, so dass es weit über die Uferwiesen des Issyk-Kul hallte. Und ich fühlte mich inmitten der schönsten Liebesgeschichte der Welt versetzt. Ich spürte die Liebe dieser Menschen, ihre tiefe, unbeschreibliche Liebe zum Leben, zu den mannigfaltigen Geschöpfen unter der Sonne und zu dieser einzigartigen Landschaft, dieser Symbiose von blauem Wasser, grünen Tälern und bunten Bergen. Ich mochte dieses Mädchen mit ihrem kastanienbraunen Haar, ihren schwarzbraunen Augen, ihrem umwerfenden Lächeln, das die

goldenen Zähne aufblitzen ließ, ihre temperamentvollen Heiterkeitsausbrüche und dem unwiderstehlichen Schmollmund, der, verbunden mit niedergeschlagenen und traurig bettelnden Augen, das Verweigern eines Wunsches unmöglich machte. Eine geschwisterliche Zuneigung entwickelte sich zwischen uns beiden, denn wir wussten, Gulnara liebt nur ihren Talant. Also beschloss ich, Gulnara als kleine Schwester zu adoptieren. Es machte mich stolz. Es bereitete mir Freude, mit ihr zu lachen, wenn sie lachte, mit ihr zu singen, wenn sie sang und mit ihr zu weinen, wenn sie weinte. Ich übernahm die Verantwortung des großen Bruders, die ich schon immer haben wollte. Ich genoss die vertrauensvollen Gespräche, die wir beide, nur unter Mithilfe des Wörterbuches, führten. »Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragte ich meine neue, kleine Schwester am Strand, während Talant in der Mittagssonne

briet. »Es war Talants Mutter, die uns bekannt machte. Sie arbeitet mit mir zusammen, und Talant ist beim gleichen Radiosender wie wir beschäftigt, nur in einer anderen Abteilung. Ich habe mich sofort in seine schwarzen Locken verliebt. Wir hatten zwar schon zusammen an einer Universität studiert, er Germanistik und ich Philosophie. Doch sind wir uns damals noch nicht begegnet«, antwortete Gulnara und ihr liebevoller Blick streichelte den Schlafenden. »Du liebst ihn sehr?« »Oh ja, ich liebe ihn über alles. Ich möchte Talant so gern heiraten und ein Baby von ihm haben.« Ich lauschte aufmerksam und schaute auf mein kleines Schwesterlein und glaubte einen Augenblick lang, dass sie Talants Kind schon unter dem Herzen trüge. In Gedanken gedachte auch ich meiner ersten großen Liebe. Ja, ich

kannte dieses großartige Gefühl. Ich konnte es mit ihr teilen. »Weißt du, was für mich besonders wichtig ist?«, ergänzte das verliebte Mädchen mit glühenden Augen. »Unsere Beziehung wird von unseren Eltern nicht nur akzeptiert, sondern eher gefördert. Es ist ein fabelhaftes Ereignis, wenn zwei Familien zusammenwachsen zu einer großen Sippe. Es ist wie im Märchen; der Prinz heiratet die Prinzessin, und die Völker beider verschmelzen zur friedlichen Volksgemeinschaft eines neuen Königreiches. Ist das nicht wunderbar?« Nachdenklich schaute der große Bruder auf das Meer und dachte: »Und was passiert, wenn die Könige nicht einverstanden sind mit der Verbindung? Gibt es dann Krieg zwischen den Völkern? Schade, dass es nicht immer so wie in diesem guten Märchen abläuft.« Die Mittagssonne brannte gnadenlos heiß wie ein Laser auf der Haut. Fast unbemerkt ließ der

leichte Windhauch die Grashalme tanzen wie ein Ensemble von Elfen. Am östlichen Himmel stapften den Freunden drei riesige Wolkenberge wie Marshmallowmänner entgegen. Unmerklich setzte sich der See in Bewegung, entwickelte weiße Schaumkronen. Bald war es so frisch, dass die Haut sich kräuselte. Die Freunde stürzten sich in die Wellen, tauchten, prusteten, sielten sich im beheizten Wellenbad, lachten, genossen die Freiheit der Natur, die Unbeschwertheit der Jugend, während draußen am Strand ein kalter Wind wehte. Der Issyk-Kul wärmte sie wie ein Känguru seine Jungen im Beutel, um sie später in den Abend zu entlassen. Der nächste Morgen hatte etwas Missmutiges. In der ganzen Nacht hatten dicke Regentropfen auf das Dach getrommelt, hatten grell die Blitze durch die Fenster geleuchtet, hatte der Sturm sein klagendes Lied geheult. Farblos und verhangen war die Stunde, bevor die Sonne über

den Bäumen des Gartens sichtbar wurde. Welch großer Unterschied dagegen nur wenige Stunden später. Die Sonne schnitt kräftige Schatten und Lichter ins Land; was Farbe hatte, das glühte und leuchtete; was glänzen konnte, das glitzerte und strahlte im Licht. Herrlich funkelte die frisch verschneite Kuppel des Pyramidenberges, der in einiger Entfernung seit Ewigkeiten auf die Begegnung mit einem freundlichen Menschen hoffte. Es war, als hätte der Regen das Leben im Tal zu neuem Leben erweckt. Die Uferwiesen strahlten im saftigen, satten Grün. Eine Herde Stuten graste friedlich. Ab und an hoben die besorgten Mütter ihre Nüstern und wieherten nach ihren ausgelassen herumspringenden Fohlen, deren Mähnen im wilden Galopp flatterten. Die Ansammlung lehmfarbener Flecken entpuppte sich als Kompanie lebender Rasenmäher. Als spielten sie der Wolf und die sieben Geißlein, sprang ein kläffender,

zotteliger Hund um paar weißhaarige, krummhörnige Ziegen und Böcke. Ein kleiner Junge saß, an einem Stock schnitzend, im Gras und hütete zwei rotbraune Kühe mit kümmerlichen Eutern. Die in der Luft tirilierenden Sänger wetteiferten mit den zirpenden Zikaden, den summenden Bienen und surrenden, regenbogenfarbenen Libellen. Außerordentliche Duftschwaden entströmten den blühenden Kräutern entlang des Weges. Besonders betäubende Süße entsprang einer unscheinbaren Pflanze mit ausgefransten Blättern und unauffälliger Blüte. Das war also der betörende Duft von Anascha, des wilden Hanfes, der das Herz jedes Junkies höher schlagen ließe. Hier wuchs er als Unkraut am Wegrand. Trauben von lachsfarbenen Beeren hingen an Büschen mit riesigen Dornen. Meterhohe Binsen spielten rauschende Sinfonien und säuselnde Liebeslieder. Doch plötzlich, am Ende des Schilfes, stand ein Bild

wie aus Tausendundeiner Nacht. Ein großer, großer Glanz aus Königsblau, ein riesig schimmernder Saphir. Der brillante Effekt des Edelsteins wurde noch verstärkt durch die aufgetürmten Wellen, die schäumend in sich zusammenbrachen. Dort, wo das Blau des Sees ins Ultramarin wechselte, stand eine dunkle, weitgereihte Perlenkette puderzuckerbestäubter Kronen, so klar erkennbar, so präzis, so märchenhaft wie ein Gemälde. Augen und Gedanken erwachten, kosteten, schwelgten, schlemmten diesen sagenhaften Augenschmaus, zeichneten dieses unglaubliche Kunstwerk der Natur für immer auf. Ich sah einen weißen Dampfer am Horizont. Und es kam mir vor, als wäre ich der kleine Kirgisenjunge, der zwei Märchen sein Eigen nannte und beide wieder verlor. So wie der namenlose Junge in Aitmatows Novelle vom weißen Dampfer. Als wären sie traurig, schlugen die kleinen

Wellen leise ans Ufer. Es war, als redeten sie. Und aus all ihren Reden sprach eine heilige wunderbare Ruhe, ohne leidenschaftliche Erregung, ohne Unschlüssigkeit oder Zaudern, klar und rein, ja sogar ein wenig gelassen. Es war die Offenbarung eines alten Mannes, die mich von meinen letzten Verwirrungen, meinen letzten Zweifeln und meinen letzten Bedenken befreien sollte. Von nun an sollte auch mich diese erhabene Ruhe durch mein ganzes Leben begleiten. Und der See sprach zu mir: »Bleibe hier, mein Sohn! Ich will dich lehren, das Leben zu lieben. Ich will dich lehren, die Freiheit zu erlangen. Ich will dich lehren, den Frieden zu erhalten.« Liebevoll schaute ich in das kristallklare Wasser. Ich liebte diesen See, meinen Vater, ich war ihm dankbar. Im Herzen hörte ich eine Stimme sprechen, die mir sagte: Bleibe hier, lerne vom Vater des Tian Shan und lausche seine Geheimnisse. Doch ich wusste auch, heute

war noch nicht die Zeit. Es ergriff meine Seele, schmerzte mein Herz. Und es wurde mir klar, dass ich wiederkommen musste.

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Hörbuch

Über den Autor

Rajymbek
Die Ahnung, das Gefühl, der Reiz eines Augenblicks sickert in mein Herz und bildet aus tränenreichen Worten einen See, der, wenn er überläuft, in Kaskaden, Verse schmiedet, die zum Verstand fließen wie ein weiser Strom und sich ins Meer ergießen. Die Hand ist sein Delta, Schreibt auf, was der Fluss von seiner Reise erzählt. (Roland Pöllnitz)

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Magnolie Lieber Roland,
eine Wahnsinns Geschichte, die mich mit in die Ferne genommen hat.
Dankende und liebe Grüße
Manu
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Gern geschehen, Manu, kannst du gern nachlesen in meinem Erzählbändchen "Die Perle vom Tian Shan".

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Den Ort würde ich mir auch gern ansehen. Sehr gern gelesen
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Es hindert dich niemand, dorthin zu reisen, unebekannter Gast.
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Wow!!!
Das hast du wunderschön geschrieben. Bin begeistert vom Text und von deiner Erfahrung.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Wenn du das gesamt Buch liest "Die Perle vom Tian Shan" wird dich das noch mehr begeistern, liebe Sabine. Danke für dein Lob und deinen Favo.

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
Shehera Das ist so schön geschrieben...bin begeistert! Toll, dass du uns mitgenommen hast, lieber Roland!

Liebe Abendgrüße
Shehera
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Wie du siehst, geht auch Prosa. Das Buch "Die Perle vom Tian Shan" ist eines meiner Lieblingskinder. Ich liebe diese Landschaft. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich bin, wie ich bin. Danke für deinen Favo.

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
Darkjuls Eine Geschichte voller Höhen und nachdenklicher Momente. Dort muss es ja wunderschön, atemberaubend sein. Du fühltest Dich dem Ort verbunden und ich war dabei. Die Natur ist ein Geschenk. Die Menschen, die dort leben, wissen das und lieben das Leben als Geschenk in dieser traumhaften Umgebung. Wir, die wir auch in schöner Umgebung leben, haben kaum mehr einen Blick dafür. Eine wirklich gelungene Geschichte zum Thema.

Schau bitte mal auf Seite 2, der heiß ersehnte See.....

GLG Marina
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Vielen lieben Dank, Marina. Die Geschichte ist ein Ausschnitte aus meinem Buch "Die Perle vom Tian Shan"
https://www.amazon.de/Die-Perle-Vom-Tian-Shan/dp/1447646290

Deien Hinweis habe ich ernst genommen und mich über deinen Favo gefreut.

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
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