verschmähte liebe
Das steinerne Kreuz stand weit außerhalb des Dorfes. Aus Sandstein, mächtig und klobig, halb verwittert, mit Moos und Flechten bedeckt, wehrte es sich gegen das Altern. Inschriften hatte es nie getragen, denn alle wussten, was einst hier geschehen war. Die Menschen hatten es sich hinter vorgehaltener Hand zugeraunt. Auf diese Weise wurde das Wissen um sein Geheimnis lange Zeit von Generation zu Generation weiter gegeben.
Heute steht das steinerne Kreuz noch immer, aber es ist jetzt von einer kleinen Grünfläche umgeben. Ein einziger hoher, alter Kiefernbaum markiert seinen Standort und
alle gehen achtlos vorbei und nehmen sich nicht die Zeit für einen kurzen Gedanken, was dieses Kreuz wohl bedeuten könnte.
Doch manchmal öffnet sich in Neumondnächten, ehe ein Gewitter losbricht, ein Zeitfenster. Dann lüftet jenes steinerne Kreuz für besondere Menschen sein Geheimnis.
Es ist lange, lange her und es war eine kriegerische und grausame Zeit. Manche sagen auch, sie sei finster gewesen. Wer weiß? Fast jedes Dorf gehörte einem anderen Herrn und der bestimmte selbst über die Menschen. Sie mussten Gehorsam leisten und Tribut zahlen aus dem Wenigen, das sie erwirtschaften konnten. Und verliebte sich der Herr in ein Dorfmädchen, gehörte sie
ihm. Einfach so. Das war auch der schönen Agnes geschehen. Doch der Ritter, Herr des Dorfes, der sie begehrte, war schon ein alter Mann, hässlich und dazu noch grausam. Aber Agnes liebte den schönen Knappen Wunibald. Er diente brav bei dem Herren des Nachbardorfes. Auch Wunibald liebte Agnes von ganzem Herzen. Doch das durfte nicht sein. So musste sich das Liebespaar im Geheimen treffen. Sie taten dies in den finstersten Nächten und immer im Wald zwischen den beiden Dörfern.
Als einmal der alte Ritter auf der Jagd war, wurde er zufällig Zeuge des geheimen Treffens zwischen Agnes und Wunibald. Der Jähzorn kochte in ihm hoch und er sann auf Rache. Wunibald hatte wohl etwas bemerkt
und er flüsterte Agnes ins Ohr: „Liebchen, da war jemand. Aber hab keine Angst, ich werde dich mit zu mir nach Hause nehmen und verstecken. Mein Herr wird uns beschützen. Da bin ich ganz sicher.“ Agnes erwiderte ebenso leise: „Liebster Wunibald, es ängstigt mich gar sehr, was du da gerade gesagt hast. Bin ich denn bei meinen Eltern nicht mehr sicher?“ Da gab Wunibald zu bedenken: „Du weißt, dass dich der grausame Alte begehrt. Und wenn er uns eben erwischt hat, sind wir beide kaum noch sicher, denn er wird auf Rache sinnen. Aber mein Herr wird alles für uns tun. Ich will gemeinsam mit ihm deine Flucht planen.“ Zur Vorsicht wollten sie sich für eine gewisse Zeit nicht mehr sehen.
Der alte Ritter aber ließ Agnes heimlich beobachten. Er nutzte jede erdenkliche Gelegenheit, um sich am geheimen Treffpunkt des Liebespaares einzufinden. Doch nichts geschah. Allmählich beruhigte sich der Alte wieder und schöpfte neue Hoffnung, dass ihm übers Jahr die schöne Agnes als Frau gehörte.
Eines Tages erhielt Agnes Besuch von einer Kammerjungrau, die Wunibalds Herrn diente. Diese berichtete Agnes: „Der Herr lässt ausrichten, dass du dich für das nächste Treffen mit Wunibald verkleiden sollst. Dazu lege die Sachen an, die ich dir mitgebracht habe. Und euer nächstes Treffen findet in fünf Tagen um Mitternacht am bekannten Ort
statt.“ Agnes war sehr erfreut, denn ihr schien das Ende ihrer Gefangenschaft nahe zu sein. So ließ sie durch die Kammerjungrau Wunibald ausrichten: „Ich werde zur angegebenen Zeit am bekannten Ort sein. Gott schütze uns.“
Wunibald aber hatte von den Verwirrungen des Herzens bei der Kammerfrau keine Ahnung. Diese hatte nämlich selbst ein Auge auf Wunibald geworfen, denn der Knappe war nicht nur schön sondern auch klug und hatte ein äußerst angenehmes Wesen. Und so wurde sie von Eifersucht geplagt. Weil sie nun in Wunibalds Pläne eingeweiht war, konnte sie auch dem alten Ritter ihre Kenntnis von der nächtlichen Flucht auf geheimem Weg zukommen lassen. So rüstete
sich der Alte und nahm eine Handvoll seiner Getreuen mit. In jener Nacht wollte er im Wald gut versteckt auf den Knappen und Agnes warten. Der Knappe sollte mit seinem Leben dafür bezahlen, dass er eine Jungfrau aus dem Nachbardorf zum Weibe begehrte. Agnes gehörte ihm und sonst niemandem. Mit ihr wollte er dann auf seine Burg verschwinden.
Gegen Mitternacht warteten des Ritters Getreue und er selbst, sicher im Wald versteckt, an dem geheimen Treffpunkt auf das Erscheinen der beiden Liebesleute. Wunibald aber hatte zu einer List gegriffen. Agnes steckte in seinen Kleidern, er selbst hatte sich in ein Nonnengewand gehüllt. Damit hoffte er, Schlimmes zu verhindern.
Nach einer liebevollen und herzlichen Umarmung wollten beide gerade den Weg zu Wunibalds Heim antreten, als der alte Ritter erschien. Agnes und Wunibald waren so überrascht, dass beide wie versteinert da standen. Ehe noch irgendjemand ein Wort gesagt hatte, zückte der Ritter sein Schwert und stach es dem Knappen ins Herz. Aufstöhnend sank der zu Boden und tränkte die Erde mit seinem Blut. Im selben Augenblick, als der alte Ritter sich niederbeugte zu dem Knappen, erkannte er, dass er Agnes getötet hatte. Als er sich jetzt Wut entbrannt auf den Knappen in Nonnenkleidern stürzen wollte, zückte der sein im Gewand verstecktes Schwert und spaltete dem alten Ritter den Schädel.
Dessen Getreue ergriff das Grauen und sie flüchteten, so rasch sie konnten.
Nachdem Wunibald das Ausmaß dessen, was geschehen war, erfasst hatte, setzte er sich nieder und weinte bitterlich. Er weinte über seine verlorene Liebe und über die schreckliche Tat, die er soeben begangen hatte. Als die Morgensonne ihre ersten Strahlen über den Himmel schickte, fand sie auch Wunibald in seinem Blute neben den beiden anderen Toten liegen.
Die geflüchteten Knechte des alten Ritters hatten bereits die Kunde vom Tod ihres schrecklichen Herrn und der schönen Agnes im Dorf verbreitet. Lange dauerte es nicht, da hatte auch Wunibalds Herr alles erfahren. Nun wartete er auf die Rückkehr seines
getreuen Knappen. Aber der erschien nicht. So machte er sich auf, Wunibald zu suchen. Im Wald entdeckte er dann die drei im Tode vereinten. Die ungetreue Kammerfrau war ihm in großem Abstand gefolgt. Als sie Wunibald in seinem Blute liegen sah, stöhnte sie auf, raufte sich die Haare und verschwand dann schreiend im Wald. Sie wurde nie mehr gesehen.
Fromme Menschen aus beiden Dörfern haben die drei Toten an Ort und Stelle begraben. Zum Gedenken und zur Mahnung wurde das Kreuz aus Sandstein errichtet. Aber noch immer müssen die Vier in Neumondnächten umgehen. Ihre Seelen werden erst dann zur Ruhe kommen, wenn auf Erden Frieden
herrscht.
© HeiO21-06-2011