Das geheimnis unter der schwelle
„Als kleiner Junge hat man seine Nase gerne überall vorne. So auch ich. Bei uns im Städtchen ist etwas los, das sich alle nur hinter vorgehaltener Hand weiter erzählen. Ich will unbedingt wissen, was es ist. Überall heißt es : „ Beim Heiner-Bauern…..“ und dann wird die Hand an den Mund gelegt, die Leute sehen sich um und vergewissern sich, dass niemand zuhört, ehe sie sprechen. Ja, den Heiner-Bauern kenne ich auch. Da geht meine Großmutter zum Milch- und Buttereinkauf. Eier bekommt sie dort auch manchmal und ich begleite sie gerne. Aber auch sie will mir wirklich nichts erzählen. Aber
ich muss unbedingt wissen, was dort geschehen ist. Nur Kindern gegenüber sind die Leute noch weitaus verschwiegener!
Viele Jahre später treffe ich den Heiner-Bauern beim Bräu, einem alten Schulfreund, in der Gaststube. Wir reden erst belangloses Zeug, aber nach der dritten Maß Starkbier bringe ich das Gespräch auf damals. Das Bier hat Heiner die Zunge gelöst, vielleicht auch der zeitliche Abstand zu dem Ereignis. Jedenfalls beginnt der Heiner-Bauer plötzlich zu erzählen.
„Hans“, sagt er und macht dazu eine weit ausholende Bewegung, „du warst damals noch ein kleiner Bub. Und die Leute im Städtchen haben gern getratscht und auch manches dazu gemacht. Jetzt will ich dir aber
die Wahrheit erzählen, so mir Gott helfe.“ Er bekreuzigt sich umständlich, ehe er weiter erzählt und ich bin sehr gespannt auf seinen Bericht.
„Hans,“ beginnt er wieder, während ich eine neue Maß vom dunklen Bier bestelle. „Hans, aber du darfst mich nicht unterbrechen oder gar auslachen.“ Das verspreche ich gerne und es wird endlich wahr, dass ich vom Betroffenen selbst die Geschichte höre. Heiner fährt fort: „Es sind jetzt mehr als fünfzehn Jahre her, als dieses Unglück über mich herein brach. Ich hatte damals gerade in den Hof eingeheiratet und auf den steinigen Äckern hier ist Landwirtschaft kein Zuckerbrot. Natürlich wollte ich – wie jeder Bauer – einen eigenen Viehbestand, nicht nur
Schafe und Ziegen und ein Schwein, die im Sommer immer draußen leben bis zum Schlachten im Herbst. Meine kleinen Ersparnisse steckte ich deshalb in zwei einjährige Kälber, die ich stolz in unseren Stall stellte. Als meine Frau das sah, wurde sie leichenblass und die Tränen rannen ihr übers Gesicht. Aber sie sagte nichts weiter, schlug ein Kreuz und d verschwand. Nicht lange danach wurden meine Kälber krank und kein Viehdoktor konnte ihnen helfen und sie starben mir weg. Niemand konnte oder wollte mir sagen, was passiert war. So kaufte ich denn im Frühling zwei neue Tiere, kräftiger schon als die ersten. Sie standen den ganzen Sommer auf der Weide und wurden starke Kühe. Als es Zeit für den Stall
wurde, begann meine Frau wieder zu weinen. Ich konnte es nicht verstehen. Aber kaum im Stall, wurden auch diese Tiere krank und starben mir weg.
Durch hartnäckiges Befragen meiner Frau und der Nachbarn erfuhr ich schließlich, dass schon die Eltern und Großeltern meiner Frau den Stall nicht benutzen konnten, weil alle eingestellten Tiere krank wurden und dann starben.
Schließlich wandte ich mich an den Pfarrer, den du ja auch noch kennst. Er hörte sich meine Geschichte an, bekreuzigte sich drei Mal und meinte dann, ich solle doch bei der alten Frau im Wiesengrund einen Besuch machen. Vielleicht wisse sie Rat.
Die Alte lebte in einer kleinen Hütte abseits
des Städtchens. Sie sammelte Kräuter, Beeren, Pilze, trocknete alles, stellte Tinkturen, Tees und seltsame Pillen für Mensch und Tier her. Die Leute gingen mit ihren Wehwehchen lieber zu ihr als zum Bader oder gar Doktor.
Ehe ich mich auf den Weg machte, gab mir meine Frau nocheinenKorb voll Wurst, Schinken, Brot und Eier für die Alte. Bei ihr angekommen, schien es, als ob sie mich schon erwartete. Sie stand vor ihrer Hütte in ihr großes Umschlagtuch gehüllt und dann sagte sie nur zu mir: „Heiner-Bauer, ich freue mich, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Lass uns gleich zu dir gehen.“ Den Korb mit den Esswaren ließ ich gleich bei ihr stehen. Kurze Zeit später stand sie mit mir in
unserem kleinen Hof. Die schlimme Geschichte kannte sie seit vielen Jahren, aber niemand vorher hatte es gewagt, zu ihr zu kommen und sie um Hilfe zu bitten. Ich musste ihr noch zeigen, wo der Stall ist, dann schickte sie mich mit rauen Worten in die Küche.
Die Zeit schien zu kriechen, während ich in der Küche auf die Alte wartete. Meine Frau beschäftigte sich im Garten. Sie wollte von all dem nichts wissen, bekreuzigte sich stattdessen immer wieder von neuem. Sie ist schließlich gut katholisch. Endlich – ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war – erschien die Alte bei mir in der Küche. Ein ums andere Mal schüttelte sie den Kopf, ehe sie zu sprechen begann. Ich kann mich daran
erinnern, als sei es gestern gewesen. „Heiner-Bauer,“ sagte sie, „beim nächsten Vollmond um die Mitternacht machst du die Türschwelle an der Stalltüre auf und holst heraus, was du dort findest. Bringe es zum Friedhof und vergrab es dort. Dann bringst du die Schwelle wieder in Ordnung. Putzt den Stall mit viel Wasser sauber, kalkst die Wände und lässt ihn vom Pfarrer neu segnen. Dir wird kein Vieh mehr krank.“ Mit diesen Worten verließ mich die Alte eilends.
Die nächste Vollmondnacht rückte näher und ich wurde immer aufgeregter. Endlich war es soweit. Mit Hacke, Spaten, Schaufel, Eimer und Sack ausgerüstet, machte ich mich gen Mitternacht an die Arbeit. Die steinerne Schwelle hatte ich bald heraus geholt. Sie
saß verhältnismäßig locker. Bei einem so alten Haus eher die Ausnahme. Dann machte ich mich daran, die steinige Erde heraus zu graben. Obwohl es Frühsommer war und die Nacht eigentlich mild, lief mir der kalte Schweiß über Stirne und Nacken. Dazu gab es immer wieder seltsame Geräusche, die sich wie ein unterdrücktes Stöhnen und Seufzen anhörten. Endlich stieß ich auf etwas weiß Schimmerndes, schmal und länglich. Ich holte es heraus und steckte es ohne zu überlegen in den mit gebrachten Sack. Das Seufzen wurde immer lauter und unheimlicher. Dann fand ich ein eher rund geformtes Etwas, groß und schwer, mit Steinbrocken gefüllt. Als ich es heraus heben wollte, fielen mir noch die beiden runden
Öffnungen an der einen Seite auf. Ein Schädel, durchzuckte es mich. Aber das Grauen, welches mich jetzt erfasste und so stark erzittern ließ, dass mir die Zähne auf einander klapperten, verhinderte, dass ich mir den Gegenstand noch näher betrachtete. Nur hinein in den Sack damit! Weitere, weiß leuchtende, an Knochen erinnernde Sachen holte ich heraus und steckte sie schnell in den Sack. Ich grub so lange, bis nichts mehr zu finden war. Alles war in den Sack gewandert und allmählich wurde auch das Seufzen und Stöhnen leiser.
Sorgfältig schloss ich das Loch im Boden, setzte wieder die steinerne Schwelle, so dass nichts mehr zu sehen war. Dann reinigte ich meine Werkzeuge, schulterte vorsichtig den
Sack mit seinem unheimlichen Inhalt und trug ihn noch in der gleichen Nacht zum Friedhof. Dort legte ich ihn – wie mit dem Pfarrer abgesprochen – in ein zufällig ausgeschachtetes Grab. Im selben Augenblick verstummten die seltsamen Geräusche, die die gesamte nächtliche Grabung begleitet hatten. Am nächsten Tag reinigte ich gemeinsam mit meiner Frau den Stall. Wir schrubbten den Fußboden, putzten die Fenster und ich kalkte die Wände frische. Der Pfarrer kam vorbei, segnete mit Weihwasser und Weihrauch den Stall und gegen Abend huschten zwei Schwalben durch den Stallraum.
Wir hatten es geschafft. Die neu gekauften Jungkühe konnten einziehen. Hans, du weißt
es, bis heute sind unsere Tiere im Stall gesund und sie gedeihen immer prächtig.“
Mit diesen Worten beendet der Heine-Bauer seine Geschichte. Unsere beiden Biere stehen immer noch unangerührt vor uns. Der Heiner wischt sich wieder den Schweiß von der Stirn, dann trinken wir auf das Wohl der Alten vom Wiesengrund, auf Heiners gesunde Tiere und auf Gottes Hilfe.“
Hans, mein Großvater, erzählte mir immer wieder diese Geschichte, wenn wir in seiner Heimat waren und durch das Städtchen gingen. Er zeigte mir den kleinen Hof des Heiner-Bauern, wenn wir Milch oder Butter holten.
Und auch heute noch, wenn ich in G. bin, gehe ich dort vorbei, denke an meinen
Großvater und jene Geschichte vom Heiner-Bauern. Ob sie sich wirklich so zugetragen hat? Und ob heute, mehr als hundert Jahre später, noch irgendjemand von dieser Geschichte etwas weiß?
©HeiO 09-2010