Bleistift
Schneewittchen 2.0
Thriller
An diesem grau verregneten Montagmorgen war Jenny, das hübsche It-Girl der Abteilung nicht zur Arbeit erschienen und ihr schmaler Schreibtischplatz blieb verwaist. Das war schon recht ungewöhnlich, denn die junge schlanke Frau war eigentlich dafür bekannt, eher überpünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Das war auch deshalb recht verwunderlich, weil von ihr auch eine ärztlich attestierte Krankschreibung nicht vorzuliegen schien. Jenny war zudem die einzige Frau in dem modernen Großraumbüro, wenn man einmal von der taffen Mittvierzigerin Sybille, der souverän agierenden Abteilungsleiterin absah. Außerdem war Jenny der erklärte Liebling der
restlichen fünfzehn Kollegen der operativ-statistischen Abteilung dieses weltweit agierenden Versicherungskonzerns, von denen sie mindestens mit der Hälfte der Kollegen schon einmal so etwas ähnliches, wie eine temporäre Liaison hatte. Wobei sie sich aber ausschließlich nur den ledigen unter ihren männlichen Verehrern widmete. Alle anderen bedachte sie lediglich mit einigen freundlichen Flirts und flippig, coolen Sprüchen, die sie jederzeit auf Lager hatte. Jenny hatte tatsächlich allerdings auch ziemlich selten mal etwas Geld in ihrem Portemonnaie, denn sie liebte es auf geradezu abenteuerliche Weise shoppen zu gehen. Sie investierte ihre sauer verdienten Silberlinge viel lieber in die schicksten und angesagtesten
Markenfummel, in sündhaft teure Edelkosmetik und natürlich auch in superteure High Heels. Je höher und schlanker übrigens die Absätze, desto wahrscheinlicher, dass sie zunächst an Jennys hübschen Füßen und danach im voluminösen Schuhschrank ihres kleinen Apartments eine neue Bleibe fanden. Außerdem passten signalrote High Heels exorbitant zu ihrem rabenschwarz glänzenden Haar und zu ihren bordeauxrot geschminkten Lippen, weshalb die blasse Jenny von all ihren männlichen Kollegen auch liebevoll
Schneewittchen 2.0 genannt wurde…
So kam es also des Öfteren vor, dass ihr ihre Kollegen gerne auch mal ein belegtes Brötchen und einen Cappuccino, oder auch nur einen Latte Macchiato zum Frühstück spendierten, damit sie tagsüber wenigstens halbwegs über die Runden kam. Manchmal luden die Kollegen Jenny auch zum Steh-Lunch auf eine Currywurst mit Pommes unten am Kiosk ein, oder bezahlten ihr bei Ali, dem immer gut gelaunten und etwas adipösen Türken, einen Chicken-Döner. Vorzugsweise natürlich mit extra viel weißer Kräutersauce. Das Highlight der Woche, wenn Jenny dann herzhaft in ihren Döner biss und ihr die weiße Sauce am Kinn herunter tropfte. Spätestens dann machte sich auf allen Gesichtern ihrer Kollegen ein fettes Grinsen breit...
Jenny konnte zwar ihre eigenen Finanzen nicht so gut zusammenhalten, aber dafür war sie ein überaus freundliches und sehr sympathisches, wie auch freizügiges Wesen. Zudem war sie auch noch ziemlich reizvoll anzuschauen. Sie war sozusagen der kunterlabunte Butterfly der Abteilung, der gelegentlich von Blüte zu Blüte flatterte und allein mit seiner freundlichen Vielfarbigkeit bei all ihren männlichen Kollegen punktete. Jemandes Kopf zu verdrehen war ihr gar ein Leichtes und wenn sie dessen Blütennektar gesogen und die dröge Langeweile wieder die Oberhand gewann, spätestens dann spannte sie ihre Flügelchen wieder auf und ließ sich auf der nächsten sich anbietenden Nektarquelle nieder. Der besondere Clou an
dieser Sache war, dass niemand ihr buntes, flatterhaftes Wesen wirklich für übel nahm, auch wenn er mal für eine gewisse Zeit verlassen wurde. So konnte es denn sehr gut möglich sein, dass ihr Rundflug eines schönen Tages erneut wieder bei ihm enden würde, wie es von Zeit zu Zeit auch immer mal wieder geschah. Ihre absolute Spezialität waren erotisch anspruchsvolle und hochsensible Blowjobs, allein darin waren sich alle Wissenden mehr als einig. Selbst diejenigen, die es bislang zwar noch nicht selbst erlebt, wohl aber bereits von Dritten davon gehört hatten. Dieser Nimbus wurde quasi durch eine interne Mund-zu-Mund-Propaganda am Leben gehalten und stärkte in faszinierender Weise
ihren geradezu exzellenten Ruf als eine tabulose Freudenspenderin. Gelegentlich kreisten auch künstlerisch mehr oder weniger geschmackvolle Karikaturen durch die Computer der Abteilung, die Jenny in einer ihrer verführerischen und nektarsaugenden Positionen zeigten. Einer, der es wohl offensichtlich auch etwas genauer wissen musste, bediente sich dabei sogar eines Animationsprogramms zum Beleben von selbstgezeichneten kleinen Strichmännchen, die ihre jeweiligen aktuellen erotischen Abenteuer in Jennys unmittelbarem Umfeld in spannend erzählter Weise auslebten. Kein Wunder also, wenn sich die bislang noch nicht bedachten Kollegen gleich reihenweise um ihre Gunst bemühten und sie in ihrem
Werben gelegentlich sogar erhört wurden. Die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhte sich immer dann, wenn Jenny wieder einmal notorisch pleite war und das geschah fast beinahe schon mit konstant wiederkehrender Regelmäßigkeit jeden Monat, jeweils immer ein paar Tage vor dem nächsten Zahltag.
Die Gleichung dafür war eigentlich recht einfach strukturiert und beinhaltete auch keinerlei Unbekannte, Jenny liebte die Männer und die Männer liebten Jenny… So waren sie ihrer Sieben, als sie sich zur Mittagszeit in der Kantine trafen und sich an einem der langen Tische zusammensetzten. Die Versicherungsagenten, die nach den Regionen die sie bearbeiteten, benannt wurden. Jenny hatte in dem riesigen
Erdenrund zwar keine eigene Region, wurde aber je nach Bedarf wegen ihrer absolut unkonventionellen Denkweise stets einem Agenten zugeordnet, der gerade gestresst an einem größeren Versicherungsfall arbeitete. Somit war sie in der Abteilung Operative Statistik des Unternehmens rein praktisch gesehen, das Mädchen für alles. Der Vorteil war, Jenny kannte mittlerweile alle ihre Kollegen ziemlich gut, sowohl was ihre Schwächen, aber auch was ihre Stärken anging. Die Regionen beratschlagten nun darüber was sie zu unternehmen gedächten, nur für den Fall, dass Jenny sich im Verlaufe des Tages nicht telefonisch bei einem von ihnen melden würde. Merkwürdig an Jennys Verschwinden
war, dass ihr sonst ständig heiß glühendes Smartphone seit dem letzten Wochenende permanent abgeschaltet blieb. Und das, obwohl ihr jeder schon auf den Anrufbeantworter gesprochen und sie dringend um einen zeitnahen Rückruf gebeten hatte. So begannen sie sich bereits am Mittag ernstliche Sorgen zu machen und kamen überein, dass Frank, also der Mann für Nordamerika, ihr heute Abend zuhause einen kurzen Besuch abstatten sollte. Dieser recht gewiefte Agent sollte möglichst unauffällig und sehr diskret herausfinden, was es mit Jennys spurlosem Verschwinden auf sich hatte. Vielleicht benötigte sie ja ihre Hilfe, denn soweit es bekannt war, hatte Jenny keine Angehörigen. Jenny war nämlich tatsächlich
ein wirkliches Findelkind und wurde seit ihrer Geburt immer nur von anderen gefunden...
Lautlos rollten bei hellem Mondlicht in der Nacht auf Donnerstag ein schwarzer Daimler und ein silbergrauer Audi auf ein altes verlassenes Fabrikgelände in der südlichen Vorstadt. "Kaiser-Konfitüre", verkündete ein längst schon durchgerostetes Firmenlogo in edler Sütterlinschrift auf einem emaillierten Blech an der roten Backsteinwand vis-a-vis dem ehemaligen Haupteingang zur Fabrik.
Einst wurde hier früher mal feinste Konfitüre hergestellt und süße Marmelade gekocht. Aber die acht Insassen der Fahrzeuge hegten ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse daran, die seit Ewigkeiten schon
eingestellte Marmeladen-Produktion wieder in Gang zu bringen. Vielmehr wollten sieben von ihnen, trotz dieser lauen Sommernacht in weißen Gummihandschuhen und mit über den Kopf gezogenen schwarzen Ski-Masken, so einiges klarstellen. Weshalb sie auch den achten Mann beinahe schon fürsorglich in ihre Mitte genommen hatten, welcher aber in höchst undankbarer Weise dafür überhaupt kein Verständnis aufbrachte, indem er die vier weiteren Insassen des Audis mit üblen Schimpftiraden geradezu überhäufte. Plötzlich reichte es dem Beifahrer und er drehte sich blitzschnell herum. »Alte doche endlisch male deine Fresse, Raimundo…«, stieß er erbost mit einem recht starken italienischen Akzent hervor und ließ
seine geballte Faust echt ungemütlich auf die Nase des Entführten krachen. Worauf Raimund Dengler urplötzlich verstummte. Zugleich neben dem Schmerz registrierte er auch aus seiner Nase zwei abwärts rinnende Blutfäden in seinem Gesicht, die nun sein cooles, edles T-Shirt besudelten. Noch immer wusste er nicht, was diese Mistkerle mit ihn vor hatten und vor allem, warum sie ihn so völlig überraschend auf der Brücke beim letzten Abkassieren seiner Troika-Pferdchen gekidnappt und ihn hierher in diese alte, längst stillgelegte Marmeladenfabrik verschleppt hatten. Er hoffte insgeheim noch immer darauf, dass seine drei Pferdchen schon irgendetwas Sinnvolles unternehmen würden, um ihn da wieder herauszupauken. Bestens
instruiert waren sie für so einen Fall allemal. Schließlich war er ja auch ihr Beschützer und wurde noch gebraucht. Allerdings schwante ihm nach diesem üblen Faustschlag jedoch auch nichts sonderlich Gutes und so beschloss er, dass es zumindest vorerst wohl auch klüger sei, sich in ein verachtendes Schweigen zu hüllen... Unterdessen erreichte der nächtliche Konvoi den mit großen Katzenköpfen gepflasterten Hof dieses alten verfallenen backsteinernen Fabrikgebäudes, welches zuvor schon von unzähligen Sprayern reichlich mit allerlei dummen Bildern und unlesbarem Geschmier erfolgreich verunziert worden war. »Endstation, aussteigen, Raimund, wir sind
da«, tönte die Stimme des Audi-Fahrers dumpf unter der Maske, während er den Zündschlüssel herumdrehte und dem Motor abstellte. Im Sekundenbruchteil durchzuckte Raimund Dengler der absurde Gedanke, beim Aussteigen einfach einen seiner Bewacher kräftig in die Kronjuwelen zu treten und anschließend Fersengeld zu geben um im Schutz der Dunkelheit zu verschwinden. Aber schnell verwarf er den Gedanken an eine Flucht jedoch wieder, denn diese Typen hier sahen nicht so aus, als ob sie ihn mit heiler Haut entkommen lassen wollten. Außerdem hatten sie ihm nämlich den breiten Kabelbinder um seine Handgelenke auch viel zu fest zusammen gezogen An eine Flucht war also nicht einmal ansatzweise zu denken.
So stießen sie ihn brutal aus dem Audi und zerrten ihn danach dann auch ziemlich unsanft durch eine nur angelehnte rostige Metalltür ins Innere einer leegeräumten alten Werkhalle. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht des Vollmondes, der sein fahlgelbes, gespenstisch schimmerndes Licht durch die zerbrochenen Fensterscheiben schickte. Inzwischen hatten sich auch die anderen drei vermummten Männer aus dem Daimler in der halbdunklen Halle eingefunden und sich unter die Entführer gemischt. Eine extrem helle LED-Taschenlampe flammte auf und wies dem Trupp den Weg zu einem massiven gusseisernen Abflussrohr, welches an der hinteren Hallenwand aus dem Fußboden ragte
und in der Decke der nächsten Etage wieder verschwand.
»Macht ihn daran fest«, vernahm er wieder die gedämpft klingende Stimme des Audi-Fahrers. Flinke Hände packten ihn und pressten ihn mit den Rücken gegen das dicke Rohr. Ein anderer Vermummter hielt plötzlich zwei weitere lange Kabelbinder in der Hand und fesselte mit einem laut hörbaren Ritsch seine Oberschenkel über dem Knie fest an das eiserne Rohr, während ihm zugleich der Kabelbinder, der seine Handgelenke zusammengefesselt hielt, durchgeschnitten wurde, sodass er seine Hände endlich wieder frei bekam. »Was wollt ihr von mir?«, stieß Dengler zwischen den Zähnen hervor, rieb sich die
schmerzhaften Striemen an seinen Handgelenken und blinzelte verstört in das grelle Licht der Taschenlampe. »Ist es etwa Geld? Wieviel wollt ihr, ihr Scheißkerle?«
Die Männer lachten grob unter ihren Masken,
»Zeig’s ihm, Nordamerika«, meinte der Audi-Fahrer. Der so angesprochene Maskierte,
griff in die Brusttasche seines dunkelblauen Overalls und zog daraus ein Smartphone hervor. Er schaltete es ein und hielt es dem Gefesselten unter die Nase, während das Gerät ein darauf aufgezeichnetes kurzes Movie abspielte. »Kennst du die hier vielleicht?«, fragte er. Raimund Dengler starrte etwas erblasst auf die fortlaufenden Videobilder, welche ganz offensichtlich in einem Krankenhauszimmer
aufgenommen wurden. Auf dem Video war das schwer misshandelte Gesicht einer jungen Frau in Farbe und Großformat zu sehen, während sie reglos an diversen lebenserhaltenen Geräten angeschlossen in ihrem Bett lag. Eine Hand zog langsam die leichte Bettdecke von der jungen Frau fort und schlug ihr das Krankenhausnachthemd zurück. Worauf der übel malträtierte nackte Körper dieser jungen Frau nun deutlich sichtbar wurde. Dengler schluckte und nickte,
»Das ist die kleine Nutte, die für mich anschaffen geht. Ich hab ihr achttausend harte Euronen für Schmuck und Klamotten geliehen, die sie jetzt für mich abarbeitet.« »Bullshit, es waren nicht einmal fünftausend, Arschloch und die kleine Nutte heißt übrigens
Jenny, du Fatzke... Ich hoffe, du kannst mir erklären, was das für Scheiß-Farben und Blutergüsse an ihrem zierlichen Körper sind. Also, wir sehen hier welche Farben? Grün und Blau und ist das hier etwa Lila? Sag mal Skandinavien, diese beschissene Farbe hier, das ist doch so ein verdammtes Lila stimmt’s, oder täusche ich mich da?« »Lila…«, bestätigte der Angesprochene und nickte überzeugend. »Hey, ich hab dich was gefragt, mach’s Maul auf, Dengler, oder sollte ich besser Hook zu dir sagen? Das war doch auf St. Pauli dein alter Künstlername in Hamburg, wo man dir einen satten Tritt verpasst hatte, weil du verblödeter Armleuchter immer die Mädels verprügelt hattest. Dann allerdings war dies
jetzt der letzte fiese Haken, den du in deinem beschissenen Leben geschlagen hast, einen weiteren wird es für dich nämlich nicht mehr geben, mein Hase, denn wir werden dir jetzt dafür mal ordentlich die Löffel langziehen.« Raimund Dengler traten nun die ersten Schweißperlen auf die Stirn, denn eigentlich hatte er jetzt erst den vollen Ernst seiner überaus schwierigen Situation begriffen, »Ihr könnt mich nicht so einfach umlegen, denn auch ich habe einen Boss, der übrigens eure Kleine erbt, falls mir was passieren sollte und alle Rechte gehen dann automatisch auf ihn über. Sie würde dann sein Eigentum werden und gegen den kommt auch ihr sieben Zwerge einfach nicht an. Ihr habt also keine Chance und solltet mich deshalb besser gleich
gehenlassen, denn noch kann ich das ganze Affentheater hier alles vergessen und so tun, als wenn nichts geschehen wäre«, versuchte er die sieben Vermummten zu beindrucken. »Das wird sich noch zeigen, Arschloch. Doch jetzt bist du erst einmal dran. Was also hast du mit ihr gemacht, du Drecksack?«, klang drohend die Stimme des Audi-Fahrers unter der schwarzen Strickmaske hervor. »Gar nichts, ich hab ihr nur eine verpasst, weil sie mich mit der angeschafften Kohle bescheißen wollte…« »Du meinst also nur eine verpasst, so wie das jetzt hier?«, stieß er durch die Zähne und rammte dem überführten Zuhälter einen schweren Faustschlag in den Magen, worauf der wie ein Taschenmesser nach vorn
zusammenklappte. Stöhnend richtete er sich langsam wieder auf. »Hör auf, Südamerika, sonst kriegt er nachher womöglich nichts mehr von dem mit, was wir noch mit ihm vorhaben«, ermahnte ihn der Mercedes-Fahrer. Der Mann, den er mit Südamerika angesprochen hatte, nickte, »Schon okay, los Männer, fangt an, wir wollen doch mal sehen, was er so drauf hat, dieser dreckige Pinsel, oder ob er wirklich nur kleine Mädchen verprügeln kann.« Raimund Dengler spürte, wie ihm jemand von hinten mit einem rasiermesserscharfen Cuttermesser sein T-Shirt und den darunterliegenden Hosenbund seiner Jeans aufschlitzte, ebenso mussten seine Boxer-Shorts auf dieselbe Art und Weise daran
glauben. Nach ein paar langen, sauberen Schnitten stand er total im Freien, während aus seinen zerschnittenen Jeanshosen ein stählerner Schlagring klingelnd und auf den schmutzigen Betonfußboden der Werkhalle fiel, wie auch sein goldenes Smartphone. »Ja, was haben wir denn da?«, grinste der Mercedes-Fahrer und hob die Schlagwaffe auf. Na guck mal einer an, wenn das nicht mal Raimunds Verlobungsring mit der kleinen Jenny ist. Ich verwette mein dreizehntes Gehalt darauf, dass dieser Ring genau zu den Abdrücken auf Jennys Körper passt. Wer hält dagegen? Komm, Nordamerika, zeig mir doch fix noch mal diesen geilen Hard-Core-Streifen mit unserem malträtierten Schneewittchen.«
Der Maskierte nickte, hielt ihm sein Handy hin
und ließ das Movie noch einmal ablaufen. Der Mercedes-Fahrer stoppte das Video und vergrößerte den Bildausschnitt,
»Dacht‘ ich‘s mir doch, da hat diese Drecksau das Schneewittchen doch tatsächlich mit diesem Scheißding hier bearbeitet«, sagte er wütend und zeigte seinen Kollegen die entsprechende Vergrößerung. Bedrohlich und ziemlich aufgebracht standen sie plötzlich alle um Raimund Dengler herum und der wurde sich im Nu vollends der dunkel heraufziehenden Gefahr bewusst, »Okay, okay«, lenkte er rasch ein, »vielleicht hab ich es ein bisschen übertrieben und die Kleine möglicherweise auch etwas derber angefasst. Aber ihr wisst ja, bei Geld, da hört die Freundschaft auf. Das hätte doch jeder
von euch auch so gemacht, oder?«, versuchte er sich zu rechtfertigen. Einer der Männer packte daraufhin Denglers Arme und band sie hinter dem Eisenrohr wieder mit einem breiten Kabelbinder fest zusammen.
Der Mercedes-Fahrer trat im grellen Taschenlampenlicht ganz dicht an Dengler heran und tätschelte ihn jovial die Wange,
»Natürlich, Raimund, das hätten wir ganz genauso gemacht.«
Dann gab er einem seiner maskierten Kollegen einen Wink, worauf dieser eine
1,5 Liter Plastikflasche aufschraubte und
eine Flüssigkeit über Denglers zerschnittenen Sachen ausgoss. Sofort stank es in der leeren Halle auffallend heftig nach Benzin.
»So, Hook, jetzt gibt es kein Zurück mehr,
deine Klamotten, die brauchst du von nun an eh' nicht mehr«, meinte er und zündete sich mit einem Streichholz eine Zigarette an. Dann warf er das noch brennende Hölzchen in den benzingetränkten Haufen mit Denglers Kleiderresten. Eine kurze Stichflamme erhellte für einen Moment lang gespenstisch die leere Werkhalle und Raimund Dengler starrte entsetzt auf die hochschlagendenden Flammen, die sich bereits der Reste seiner Bekleidung bemächtigten. Inzwischen hatte der Mann, den sie Osteuropa nannten, Dengler auch dessen Schuhe ausgezogen. Der Mercedes-Fahrer schob Denglers schickes neues Smartphone in einen der Schuhe und stellte sie kurzerhand auf den bereits lichterloh brennenden Haufen seiner
restlichen Kleidungsstücke. »Keine Bange, mein Freund, auch dieses Ding da, das wirst du ebenfalls nicht mehr brauchen und den Rest erledigt ratzfatz das Feuer.« »Das könnt ihr doch nicht machen«, heulte Dengler nun weit Schlimmeres ahnend. »Doch Raimund, das können wir«, meinte der Audi-Fahrer gelassen, »wir können sogar noch ganz andere Sachen mit dir machen, wie du gleich sehen wirst.« »Ihr könnt mich doch nicht einfach so umbringen, ihr…ihr…«, stammelte Dengler. »Wieso denn nicht, du hast doch das arme Schneewittchen auch zusammengetreten und sie einfach so liegengelassen, Raimundo.« »Aber die lebt doch noch, die kleine Nutte«, gab Dengler mit zitternder Stimme zurück.
»Ja, man gerade noch so, weil zufällig eine Polizeistreife vorbeikam und sie im letzten Moment, allerdings mehr tot als lebendig ins Krankenhaus hat schaffen können. Ist also definitiv nicht dein Verdienst, dass sie noch lebt, nur falls sie dieses Massaker am Ende überhaupt überlebt, du Drecksack. Ich fürchte aber, deine Zeit ist jetzt abgelaufen, Raimund. Du hast inzwischen so viel Kacke gebaut und nun fällt sie dir übelst stinkend selbst aufs Bein«, murmelte Südamerika angewidert durch seine Skimaske hindurch. »Schluss mit dem Gelaber, wer A sagt, der muss auch B sagen und nun ist es Zeit für B, Dengler«, meinte der Mercedes-Fahrer zynisch und gab einem seiner Leute einen Wink. Der zog aus seinem Hosenbund
abermals einen breiten Kabelbinder heraus und trat an den bereits schweißtriefenden Zuhälter heran, »Wenn die Bullen hier irgendwann einmal je deine verrottende Leiche finden sollten, dann können sie wenigstens gleich zuordnen, wer diese verdammte Sauerei an dem armen Schneewittchen begangen hat. Und dafür gibt es jetzt auch die passende Hundemarke gleich gratis mit um den Hals, Raimund.«
Dann fädelte er sachkundig den Kabelbinder durch ein Fingerloch des Schlagrings, legte den weißen Plastikstreifen um Denglers Hals und steckte die Enden energisch ineinander. Anschließend zog er den dicken Kabelbinder mit einem festen Griff zusammen, sodass dem vor Angst schlotternden Zuhälter beinahe
schon die Augen herausfielen. »Halt doch endlich still, Hook, und zappel‘ gefälligst hier nicht so wild rum, sonst ziehe ich dir den Straps womöglich gleich auf null und dann bist du eh‘ noch schneller in der Hölle, als es sogar uns lieb sein kann. Und das wollen wir doch beide nicht. Stimmt‘s Dengler? Schließlich zählt jede verdammte Sekunde auf diesem Erdenrund, die man noch hier verbleiben darf. Oder siehst du das etwa anders, mein lieber Raimund?«, tönte die Stimme des Mannes unter der Maske. Inzwischen hatte das Feuer auch die feinen handgearbeiteten Lederschuhe richtig in Brand geraten lassen, als Denglers funkelnagelneues Smartphone plötzlich dicke Backen machte und sich unter heftigem
Aufflammen in einen rauchspuckenden Minivulkan verwandelte. »Okay, telefonieren wird sowieso immer überbewertet. Tja, mein Lieber, das war‘s dann wohl, sag der Welt schnell noch mal bye, bye und dann können wir alle wieder fix nachhause fahren. Äh, du natürlich nicht, Dengler«, grinste einer der Männer aus dem Audi. »Aber du wolltest doch bestimmt vorher noch eine Beichte ablegen und dem massakrierten Schneewittchen gewiss die Schulden erlassen, falls sie diese Scheiße überhaupt überlebt, die kleine Nutte.«
Dann schaltete er sein Smartphone ein und richtete es im Hochformat auf das Gesicht des Zuhälters. »Also was ist, vielleicht überleg ich es mir ja noch einmal und lass dir noch etwas
Zeit auf Erden. Aber nur, wenn du beichtest und auf die noch ausstehende Restzahlung verzichtest, du stinkender Galgenvogel.«
»Also gut..«, stöhnte Dengler nach einem kurzen Moment des Überlegens. »Ja, ich hab sie wohl tatsächlich etwas zu derb angefasst und es tut mir leid. Sollte sie es überleben, dann sind damit zugleich auch ihre restlichen Schulden an mich in Höhe von zweitausend Euro abbezahlt. Ich schwör.«
Erschöpft schloss Raimund Dengler die Augen und sein Kopf sank ihn auf die Brust. Mitleidlos schaltete der Mann das Smartphone ab und schaute sich die Video-Aufnahme mit dem Geständnis des Zuhälters noch einmal an. Dann nickte er, trat dicht an Schläger heran und tätschelte seine Wange,
»Na siehste, geht doch, Dengler.«
Er ging zu seinen Kollegen und zeigte ihnen noch einmal das aufgezeichnete Geständnis. Einen Augenblick lang tuschelten sie noch miteinander, dann zog einer der Männer ein weiteres Mobiltelefon aus der Brusttasche seines Overalls und überreichte es dem Beifahrer des Mercedes, der kurz damit herumhandtierte und nach einer Weile zu Dengler zurückkehrte.
»Wir haben uns etwas überlegt. Nämlich, dass wir vielleicht doch noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen könnten.«
Dengler stöhnte sofort erleichtert auf.
»Aber nicht, dass du denkst, wir lassen dich so einfach laufen, denn das geht nämlich gar nicht. Aber du könntest dir möglicherweise
dein Leben zurückerkaufen, falls du nur clever genug dazu bist, aber du hast auch nur einen einzigen Versuch.« Er zeigte ihm ein simples 0815-Prepaid-Handy. »Mit diesem hübschen Spielzeug hier, natürlich ohne Sim-Karte versteht sich, kannst du, wenn wir fort sind ein einziges Telefonat führen. Vorausgesetzt du wählst nach genau fünf Minuten die richtige Nummer. Sie ist dreistellig und hat nur zwei verschiedene Ziffern. Wählst du irgendetwas etwas anderes, sprengt sich das Ding bei ner' falscher Zifferneingabe sofort von selbst in die Luft und reißt dich unweigerlich in den Tod. Es könnte also so gesehen, auch dein letztes Telefonat sein. Darum überleg dir sehr genau, wen du anrufst und wann. Rufst du nämlich niemand an, brauchst du es spätestens
fünfzehn Minuten nach meiner Aktivierung auch nicht mehr zu tun, denn dann passiert genau dasselbe. Nämlich Bum… Und gib dir keine Mühe, es öffnen zu wollen…nochmal Bum…Mein netter italienischer Kollege hier, er ist nicht ganz umsonst Elektronikingenieur. Kapiert, Dengler? Also, no risk, no fun, gehab' dich wohl, du miese Zuhälterratte.« Dann befestigte er dem stramm an das gusseiserne Abflussrohr gefesselten Schlägertypen das präparierte Mobiltelefon mit einem weiteren Kabelbinder an seinem linken Handgelenk. Ein erneuter Schnitt mit einem Seitenschneider durchtrennte seine auf dem Rücken gefesselten Hände und gab sie wieder frei. »So, in knapp fünf Minuten kannst du nun einmal telefonieren, wenn dir dein Leben lieb
ist und denk' besser darüber nach, welche die richtige Telefonnummer ist. Sich irren wäre in diesem Fall garantiert absolut tödlich.«
Ein rotes Blinklicht leuchtete gespenstisch im Display auf und ein blauer Countdown in der Mitte zählte bereits rückwärts. Er zeigte die Ziffern 14:25 an... Und Dengler spürte, die Sprengladung an seinem Handgelenk war tatsächlich schon scharf gemacht worden...
Die Entführer hatten es auf einmal sehr eilig und verließen hastig die alte Fabrikhalle, wobei sie hinter sich die große eiserne Tür krachend ins Schloss zogen. Dengler hörte noch wie die Motoren angelassen wurden und sich die Fahrzeuge in Bewegung setzten. Dann herrschte plötzlich nur noch Stille und das blinkende rote Licht im Display des
Mobiltelefons verkündete eine unheilvolle Alarmstimmung, während der Countdown dabei permanent abwärts zählte... tak, tak, tak...
Ein paar Minuten später kamen den Entführern, die sich inzwischen wieder von Masken und Handschuhen befreit hatten, zwei Streifenwagen der Polizei mit Blaulicht und eingeschalteten Martinshorn entgegen.
Der Audi-Fahrer grinste seinen italienischen Kollegen an, »Das hast du gut gemacht, Mario, du warst sehr überzeugend, denn der Drecksack hat doch tatsächlich die Polizei angerufen, der Countdown hatte also seine Wirkung nicht verfehlt. Wie werden die sich aber erst
wundern, wenn sie auf dem Handy, mit dem er höchstpersönlich die Ordnungshüter angerufen hat, sowohl den Film mit dem malträtierten Schneewittchen, als auch gleichzeitig sein eigenes Geständnis finden werden. Und das muss dieser Pinsel denen erst mal glaubwürdig erklären können.«
Mario grinste zurück,
»Aber die Idee mitte die falsche Bombe in die Telefone von dir, die war auch nicht schlechte, hey.« ...
... Zwei Hände klatschten einander ab.
Anderthalb Monate später nahm das wieder genesene Schneewittchen zwei Punkt null erneut an seinem Schreibtisch Platz. Noch etwas blass zwar, aber unglaublich glücklich
darüber, dass ihre sieben Kollegen ihr so selbstlos aus der Patsche geholfen hatten. Als sie ihren Rechner hochgefahren hatte, wurde ihr sogleich eine E-Mail angezeigt,
@ Schneewittchen 2.0
Was ist, Jenny, einen Chicken-Döner
mit viel Kräutersoße zum Mittag?
♥liche Grüße
Südeuropa
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
Graphic inside: selfARTwork
© by Louis 2016/9 Update: 2020/5
FranckSezelli Lieber Louis, ein wirklich sehr unterhaltsamer Thriller. Er hat mir gut gefallen, insbesondere auch deine gelungenen detailreichen Schilderungen in gewohnt hervorragender Sprache. Prima auch der geistreiche Schluss! Liebe Grüße Franck |
Bleistift Hallo Franck, mein Freund aus dem fernen Frankenreiche... :-) Großes Merci... ...smile* Nun, es freut mich auch, dass Dir mein märchenhafter Thriller aus diesem 'Miljöh' gefallen hat und auch jener 'geistreiche' Schluss, selbst wenn ich es absolut für legitim halte, diesem widerlichen Ganoven dazu auch noch einen angemessenen Dekzettel zu verpassen... ...smile* LG zu Dir ins Südfranzösische... Louis :-) |
Enya2853 Lieber Louis, mit großem Vergnügen habe ich deinen Schneewittchen-Thriller noch einmal gelesen. Locker und detaillreich geschrieben. Toll, die Parallelen zum "echten" Schneewittchen, auch die Namen der Sieben finde ich cool. Ansonsten gilt mein Kommentar von damals immer noch. Komm gut ins Wochenende. Liebe Grüße Enya |
Bleistift Merci, liebe Enya, nun 'Schneewittchen' mal kurz aus dem Reich der Märchengestalten in die Gegenwart transferiert, das muss einem Autor wohl auch mal erlaubt sein dürfen, oder? Ich hab mich jedenfalls auch nach deinem wiederholten Lesen dieser Geschichte sehr darüber gefreut... ...smile* LG zu Dir Louis :-) |
monalisa592107 hab ich gern ein weiteres mal gelesen lg monika |
FLEURdelaCOEUR Tatsächlich - ein echter Louis ;-)) Ich hab ihn mir heute erst reingezogen, sehr amüsant! LG fleur |
HarryAltona Die Geschichte ist mir bisher entfallen. Danke dafür. Und die Dame hat eindeutig den falschen Job, oder Jobs. Mit den Talenten ist man in der Showbranche besser aufgehoben. lg... harryaltona |