12. Kapitel
„Schatz, ich habe heute freigenommen, damit wir noch ein bisschen Zeit verbringen können. Viola hat schon vorhin die Liegen in den Garten gebracht, lass uns die letzten warmen Sonnestrahlen zusammen genießen.“ Mit säuselnder Stimme tänzelte Josef um Amelie herum, überschüttete sie mit Liebenswürdigkeiten und ließ keine Gelegenheit aus, ihr im Vorbeigehen jedes Mal einen Kuss aufzuhauchen. Es war viel zu lange her, dass er dermaßen nett zu ihr war und entsprechend misstrauisch und ängstlich reagierte sie. Jederzeit konnte seine Stimmung von
einer Minute zur anderen kippen, so war sie es gewohnt. Schon zu oft hatte er sich von seiner besten Seite gezeigt, um dann kurze Zeit darauf wieder jähzornig und aggressiv zu reagieren. Dieses Mal hielt seine gute Stimmung schon viel zu lange an und Amelie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Fast war es wie in alten Zeiten. Nur ein Mal hatte er die Villa verlassen, seit sie seine Wut am Donnerstagabend abbekommen hatte. Inzwischen war schon der halbe Montag vorbei und bis auf wenige Stunden, die er in seinem Büro im Haus verbracht hatte, war er nur dieses eine Mal am Freitagnachmittag für kurze Zeit unterwegs gewesen. Er war nicht, wie
sonst üblich in eine Bar gefahren und kam auch ohne den gewohnten Alkoholgeruch nach Hause, hatte ihr jedoch nicht mittgeteilt, wohin er gefahren war und was er erledigt hatte. Wortlos fuhr er weg und kam wenig später, sichtlich zufrieden zurück. Natürlich hatte sie sich gefragt, was der Anlass dafür sei, traute sich aber nicht, ihren Mann persönlich danach zu fragen. Es war alles sehr merkwürdig und trotzdem war Josef seit seiner Entschuldigung ausgesprochen herzlich und liebevoll.
Als sie am Morgen in den Badspiegel geschaut hatte, waren die geschwollene Lippe und die blau-grüne Verfärbung
oberhalb ihres rechten Auges so gut wie verschwunden. Nur ein leichter Druckschmerz erinnerte noch an die groben Hände, die sie vor Tagen zu spüren bekommen hatte. Verstört strich sie mit der Fingerspitze über die Hautpartie und fühlte ebenso wenig, wie an dem Tag, als Josef seinen Zorn an ihr ausgelassen hatte. In den letzten Jahren hatte Amelie gelernt, still zu halten, wenn Josef auf sie losging. Je ruhiger sie blieb, umso schneller war es vorbei. Hatte sie sich am Anfang noch versucht zu wehren, lernte sie recht schnell, wie sie ihre Gefühle abstellen konnte und dadurch nichts spürte, wenn es besonders schlimm wurde.
„Frühstück ist fertig! Liebling, kommst Du?“ Erschrocken war sie zusammengefahren, zu ungewohnt waren solche Worte geworden. Unten angekommen, war zum vierten Mal in Folge der Frühstückstisch liebevoll gedeckt, mit Blumen geschmückt und diverse Köstlichkeiten dufteten verlockend. Sie hatte zuerst den Blick über den Tisch gleiten lassen, um ihn dann an ihren Ehemann zu heften. Er lächelte sie innig an, schaute stolz auf den Tisch und lud sie ein, sich zu setzen. Es fühlte sich wirklich fast an wie früher. So wie vor Jahren, als es Josefs Probleme noch nicht gab. Aber es fühlte sich nur fast so an. Amelie traute
diesem neuen Frieden nicht und oft genug bemerkte sie seinen eigenartigen Blick, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Viel schlimmer war jedoch die Tatsache, dass in jeder Stunde, Minute und Sekunde Jimmy in ihrem Kopf war. Gemeinsam mit ihr beobachtete er äußerst misstrauisch Josef, saß neben ihr am Frühstückstisch, hielt ihre Hand, wenn sie ihren Gedanken nachhing und schaute sie ständig mit seinen fragenden Augen an. Er fehlte ihr unsagbar, sie sehnte sich nach ihm, nach seiner sanften Art, seinen zärtlichen Berührungen und nach seiner Stimme. Völlig versunken dachte sie an den Morgen, als sie gemeinsam in ihrem Bett
aufgewacht waren. Es war seit sehr langer Zeit eine Nacht vergangen, in der sie seelenruhig schlafen konnte, ohne Angst und ohne Störung. Wie hatte sie es geliebt, Jims Hand auf ihrer Haut zu spüren, seine Küsse und seine leise Stimme. Er hatte sie beschützt, ohne es zu wissen, nur dadurch, weil er bei ihr geblieben war. Es hatte sich alles so gut angefühlt, viel besser, als in den besten Zeiten mit Josef. Jim hat sich nicht einfach genommen, was er so gern wollte. Natürlich war es ihr nicht verborgen geblieben und fast hätte sie nachgegeben, weil auch sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als ihn ganz zu spüren. Aber
sie war standhaft geblieben und wenigstens das konnte sie nun mit ruhigen Gewissen vor sich selbst behaupten. Obwohl ihr Augen lächelten, versuchte sie krampfhaft die Tränen zurückzuhalten, die sich genau wie das drückende Gefühl in ihrer Kehle bildeten. Sie konnte einfach nichts dagegen tun und war dennoch gezwungen, ihre wahren Empfindungen zu verbergen.
„Warum lächelst Du denn so? Freust Du Dich über das Frühstück?“ Schon wieder war sie mit ihren Gedanken sehr weit von diesem Tisch entfernt und ihr Lächeln hatte überhaupt nichts damit zu tun.
Sie musste sich zusammenreißen, Josef erwartete eine positive Antwort, die sie ihm auch professionell lieferte. Ohne Hunger und recht lustlos hatte sie in ein kleines Brötchen gebissen und es mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült. Wie es Jim wohl nach dem Telefonat ergangen war? Sie hoffte im Stillen, dass Josef am nächsten Tag wieder arbeiten würde und sie eine Gelegenheit finden könnte, Kontakt aufzunehmen. Noch wusste sie nicht wie, aber sie wollte von ihm hören, dass es ihm gut ging. Sie selbst hatte ihn gebeten, sich nicht mehr bei ihr zu melden, hatte sozusagen selbst die Verbindung gekappt und sie wusste genau, dass ihre
gemeinsame Situation aussichtslos war. Trotzdem brauchte sie die Bestätigung, dass er in Ordnung war. Hoffentlich hatte ihr Mann ihn verschont und seine ganze Wut an ihr abreagiert. Es ging ihr nicht gut und die merkwürdige Atmosphäre machte es nicht besser. Wie sollte das alles weitergehen? Hatte sie noch Gefühle für Josef? Was hielt sie noch bei diesem Mann, jetzt, da sie ehrliche Liebe gekostet hatte? Würde sie mit Josef jemals wieder glücklich werden? Oder hielt sie nur das Mitleid für ihn und ihr gemeinsames Versprechen gefangen?
Am Abend zuvor war er ihr sehr nahe gekommen, viel zu nahe. Sie war am
Nachmittag zu ihrem Vater gefahren, musste sich unbedingt um das Nötigste kümmern, da Josef sie am Samstag nicht weglassen wollte. Am Sonntag hatte sie sich durchgesetzt, die Reste vom Mittagessen eingepackt und war mit klopfendem Herzen nach Beaverton gefahren. Vielleicht hielt sich Jim nicht an ihre Bitte und würde im Garten auf sie warten? Sie hatte Sehnsucht und wünschte sich mit jeder Faser, dass sie ihn sehen würde. Aber er war nicht da, kam auch nicht und sie war traurig und erleichtert zugleich. Traurig, weil sie im Stillen gehofft hatte, ihn noch einmal zu sehen und erleichtert, weil es für sie beide sicherer war, wenn es kein weiteres
Treffen gab. Das ungute Gefühl, welches sie die ganze Zeit nicht loswurde, versuchte sie erfolglos zu verdrängen. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber nichts fühlte sich an diesem Nachmittag richtig an. Ihr Vater war ausgesprochen still und schläfrig und fragte nur einmal leise nach, wo denn ihr Ehemann heute sei. Mit Tränen in den Augen vertröstete sie ihren Dad und versprach, dass er sicher beim nächsten Mal wieder mitkommen würde. Sie wusste, dass es eine Lüge war und es zerriss ihr fast das Herz. Ihr alter Daddy hatte Jim ins Herz geschlossen, ohne zu wissen, wer er war und nun durfte auch er ihn nie wiedersehen. Nachdem ihr Vater
eingeschlafen war, setzte sich Amelie weinend und träumend noch für wenige Minuten auf die Schaukel, ehe sie zurück nach Portland fuhr.
In der Villa angekommen, erwartete sie Josef schon freudig erregt und wich nicht mehr von ihrer Seite. Seinen höhnischen und süffisanten Blick bemerkte sie nicht, er hatte sich sehr gut in der Gewalt. Ihr gegenüber lächelte er äußerst liebevoll und hatte seine Hände immer wieder fordernd an ihrem Körper. Sie wollte das nicht, alles in ihr sträubte sich gegen seine Berührungen. Ständig hatte sie sein wutverzerrtes Gesicht vor Augen und seine brutalen Hände, die seit langer Zeit alles andere als
freundlich waren. Aber seine Avancen waren mehr als eindeutig. „Leg Dich schon hin, ich bin gleich bei Dir“, säuselte er ihr selbstgefällig ins Ohr und griff mit einer Hand an ihre Brust und mit der anderen an den Hintern. „Alles meins!“ Was dann folgte, blendete sie genauso aus, wie die Schläge, die sie so oft bekommen hatte. Sie schaffte es nicht, sich zu verweigern, hatte Angst, dass seine Stimmung wieder umschlagen könnte und spielte das Spiel geduldig mit. Genau wie die brutalen Überfälle ging Sex mit Josef normalerweise schnell vorbei. Auch dieses Mal dauerte es nicht lange, sie erfüllte ihre Rolle meisterhaft, ohne Verdacht zu erwecken
und ihr Mann schlief kurze Zeit danach wohlig grunzend ein. Endlich musste sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, die sich längst angestaut hatten.
Es wurde Montag und Josef hatte sich also noch einmal frei genommen. Er plante einen gemütlichen Tag im Garten, wollte die letzte Sonne des Jahres nutzen und hatte Viola, die Gärtnerin, schon beauftragt, die Liegen aufzustellen. Zum Glück ließ er Amelie in Ruhe, verschonte sie mit seiner direkten Nähe und hatte sich hinter Bergen von Zeitungen vergraben. Auch sie hatte sich zur Tarnung ein Buch mit in den Garten genommen. Ab und an blätterte sie darin, um nicht aufzufallen,
wenn Josef sie doch beobachten sollte. Ansonsten sah sie nicht eine Zeile, sondern lies ihre Gedanken wieder zu Jim wandern. Seit Sonntagnachmittag hatte sie das ungute Gefühl nicht mehr verlassen. Er war nicht bei ihrem Vater aufgetaucht, hatte keine heimliche Botschaft versteckt und jedes Mal, wenn sie unauffällig auf ihr Handy schielte, zeigte auch das keine Nachricht an. Warum versuchte er nicht auf irgendeine Weise Kontakt zu ihr aufzunehmen? Hatte er wirklich so schnell aufgegeben, hatte er sie aufgegeben? Sie fühlte sich nach wie vor bedroht von Josef und spürte instinktiv, dass sie Jim vergessen musste, aber sie brauchte diese eine
Nachricht. Amelie wurde zunehmend unruhig aber ihre Hände waren gebunden. Solange ihr Mann in der Nähe war, gab es keine Möglichkeit, unauffällig zu telefonieren oder eine Nachricht zu schreiben und ihr Mann wich nicht von ihrer Seite.
Am Montagabend teilte er ihr mit bedauernder Stimme mit, dass die Arbeit nach ihm rufen würde, er seinen kurzen Urlaub leider beenden und sie am nächsten Morgen wieder allein lassen müsse. Natürlich gelang es Amelie hervorragend, die enttäuschte Ehefrau zu spielen. Zu misstrauisch war sie, weil sie noch immer nicht zu hoffen wagte, dass Josef sich wirklich so plötzlich
ändern wollte und konnte. Sosehr sie sich nach Jim sehnte, immer noch hatte sie ihr Versprechen für Josef im Kopf und hoffte trotz allem darauf, dass er seine Probleme überwinden könnte. Wäre er irgendwann wieder der Mann, den sie geheiratet hatte, dann könnte sie sicherlich besser ihre Gefühle einordnen und eine Entscheidung für oder gegen ihn treffen. Aber soweit war es noch lange nicht und er selbst war es, der ihr am Abend, binnen weniger Minuten jegliche aufkeimende Hoffnung nahm. Josef war unvorsichtig.
Als Amelie vom Duschen kam, belauschte sie ungewollt ein Telefonat. Er wähnte sich allem Anschein nach
sicher und hatte seine Bürotür nur angelehnt, als sie das Bad verließ. Schon bei dem ersten gehörten Wort, überzog eine Gänsehaut ihren vom heißen Duschwaser erhitzten Körper und ohne darüber nachzudenken, blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Der Typ dürfte seine Lektion gelernt haben und wird die Füße still halten.“
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„Doch, da bin ich mir ganz sicher.“ Äußerst arrogant lachte er seinem Gesprächspartner etwas vor.
„Nein, Du brauchst keine Details wissen. Jetzt bist Du an der Reihe. Pass Du ab morgen früh, halb acht auf meine Frau auf. Lass sie keine Sekunde aus den
Augen, höre ihr Handy ab, verfolge sie bis auf die Toilette. Du verstehst, was ich meine? Ich glaube, sie ist schon zur Vernunft gekommen, aber ich will auf Nummer sicher gehen.“
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„Ja, wie beim letzten Mal, Info alle Stunde an mich.“
Das Gespräch war offensichtlich beendet, da Amelie wie aus weiter Ferne hörte, dass Josef sein Telefon auf den Tisch legte. Ihr Unterbewusstsein mobilisierte ihre Beine und setzte sie mühsam in Bewegung, wusste, dass sie dort nicht stehenbleiben durfte. Alles was sie fühlte, war entsetzliche Leere und abgrundtiefe Angst, als sie auf
leisen Sohlen ins Schlafzimmer schlich, sich im Bett angekommen, die Decke über den Kopf zog und schlafend stellte.
„Schlaf gut mein Engel, alles wird gut!“ Hörte sie Josefs Worte und spürte seinen Kuss auf der Stirn, als er einige Minuten darauf zu ihr unter die Decke schlüpfte. Amelies Schrei verhallte tonlos in ihrem Kopf.
©Memory