11. Kapitel
Wie ich an diesem Abend nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich muss wohl noch mehrere Stunden in der Gegend herumgefahren sein oder ich habe irgendwo, im Auto sitzend, Zeit vergehen lassen. In meiner Wohnung kam ich erst an, als es bereits dunkel war. Ohne das Licht anzuschalten und ohne etwas zu trinken oder essen, kroch ich in mein Bett und wünschte mir nur noch einen betäubenden Schlaf. Meine Klamotten hatte ich achtlos auf dem Weg ins Bett ausgezogen und dort fallengelassen, wo ich gerade stand. Ich wollte nichts mehr fühlen, wollte den
fast körperlichen Schmerzen entfliehen, wollte die vielen Fragen aus meinem Kopf verbannen und wünschte mir so sehr Amelie an meine Seite. Es waren noch keine 36 Stunden her, dass wir gemeinsam unter eine Decke, eng umschlungen aufgewacht waren. Den Duft ihrer Haare nach Pfirsichen hatte ich noch in der Nase und wenn ich mich konzentrierte, fühlte ich ihre Hand auf meiner Brust. Ihre streichelzarten Fingerspitzen, die meine Haut erkundeten und diese tiefe Sehnsucht in mir weckten, als sie Zentimeter für Zentimeter eine heiße, brennende und dennoch so köstliche Spur zeichneten. Auch ihre weiche warme Haut fühlte ich,
kaum dass ich die Augen geschlossen hatte und ich hörte wie ein Echo ihre leise seufzenden Laute, die sie von sich gab, wenn ich mich an sie schmiegte. Sofort riss ich meine Augen wieder auf und augenblicklich fühlte ich überall Kälte, obwohl ich trotz der spätsommerlichen Temperaturen in meine Decke gerollt war. Es war dunkel und kalt und Amelie in weiter Ferne - wie konnte ich mich träumend diesem Genuss hingeben, der in diesem Augenblick und vielleicht für immer, nur eine schöne Erinnerung bleiben würde? Meine ganze Hoffnung mobilisierend, wünschte ich mir, dass Amelie nicht genauso litt, wie ich.
Hoffte, dass dieses Schwein von Ehemann sich darauf besann, was er für einen Goldschatz besaß und wenigstens sie verschonen würde. Ich wusste in dieser Nacht noch nicht, ob ich kampflos aufgeben oder alles daran setzen würde, den Kontakt wieder herzustellen. Viel zu verwirrt über die Geschehnisse dieses Tages suchte ich fast krampfhaft Ruhe, fand sie aber immer weniger, je mehr ich mich danach sehnte. Drei Gefühle tobten in meiner Brust und mischten sich zu einem hoffnungslosen Wirrwarr - die Liebe zu Amelie, verbunden mit dem Schmerz der Trennung, der Ärger, weil ich meinen Trainerjob erst einmal an den Nagel
hängen musste und die tiefe Wut auf Josef, dessen weitreichenden Einfluss ich eindeutig unterschätzt hatte. Irgendwie brauchte ich einen Plan, um die nächste Zeit zu überstehen, schaffte es in diesen Stunden aber einfach nicht, einen klaren Gedanken zu fassen.
Im Nachhinein kann ich nicht sagen, wie ich das Wochenende überstanden habe. Mechanisch habe ich mich versorgt, habe geduscht, mir eine alte Pizza warm gemacht und ohne Appetit, nur die Hälfte davon gegessen. Jeder Anruf den ich erhielt, endete mit dem Drücken der Ablehn-Taste, nachdem ich nervös geprüft hatte, ob nicht doch Amelie am anderen Ende der Leitung war. Irgendwie
jeder versuchte mich zu erreichen, es hatte sich sicher schnell herumgesprochen, dass ich diese blöde Anzeige am Hals hatte. So groß war Beaverton nicht. Die Jungs meines Trainer-Teams riefen im beständigen Wechsel an und auch Otis, Hank und Terry versuchten mehrfach ihr Glück. Ich hoffte inständig, dass niemand mein Schweigen damit bestrafen würde, unangemeldet aufzutauchen, aber es traute sich offensichtlich keiner in die Höhle des Löwen.
Verdammt! Wohin mit meinen Gedanken? Ich wollte Amelie und doch wieder nicht, um ihr keine neuen Probleme zu bereiten. Ich wollte meinen
Trainer-Job wiederhaben, weil diesen Irrsinn mit Curly doch niemand wirklich glauben konnte, hatte aber keine Möglichkeit, das Problem zu lösen, da mir ja aufgezwungen worden war, die Füße still zu halten. Und ich wollte am allerliebsten diesen elenden Josef zum Jordan schicken, der für die ganze Misere verantwortlich war, kam aber nicht im Entferntesten an seine stinksaubere Weste heran. Es war zum Haare ausraufen, zum Verzweifeln und zum Mut verlieren, zumal ich nicht wusste, wie es Amelie in diesen Tagen erging.
Irgendetwas musste mir einfallen, um wenigstens an eine kurze Nachricht von
ihr zu gelangen.
Am Montag bekam ich meine nächste Lektion. Es war der letzte Ferientag für uns Lehrer. Die nächsten beiden Tage würden mit Konferenzen und den Vorbereitungen für das neue Schuljahr vergehen, ehe es am Donnerstag dann wieder beginnen würde. Es gab viel zu tun, besonders für mich, da ich am Ende des vergangenen Jahres kläglich meine persönlichen Vorbereitungen versäumt hatte. Es ging mir nicht besser, aber ich war froh, zu einer Tätigkeit gezwungen zu werden, die mir normalerweise viel Freude bereitete. Mein Gedankenkreisel war in den letzten beiden Tagen nicht
zum Stillstand gekommen, aber ich hatte etwas getan, um überhaupt etwas zu tun. Meine Sehnsucht nach Amelie und die quälenden Fragen, ob es ihr gut ginge, machten mich halb verrückt. So hatte ich mich am Sonntag, wie ein Krimineller, in die Nähe der Straße geschlichen, in der ihr Elternhaus stand und sicher versteckt die Kreuzung beobachtet. Als ich aus der Ferne Amelies rotes Auto erkannte, zerriss es mir fast das Herz. Ich wollte zu ihr und konnte meinen Wunsch nur sehr schwer zügeln, zumal ich erkannte, dass sie allein unterwegs war. Aber ich hatte inzwischen Einiges gelernt und musste zu ihrem Schutz vorsichtig sein. Also
drückte ich einem vorbeilaufenden Jungen zwei Dollar in die Hand und bat ihn, einen Brief hinter den Scheibenwischer an Amelies Auto zu klemmen. Wie in einem schlechten Psychothriller erfüllte ich hervorragend meine Rolle - dachte ich - und wähnte mich ziemlich schlau, da ich unsichtbar blieb.
In dem Brief bat ich Amelie um eine kurze Mitteilung, ob sie in Ordnung sei, ihr Ehemann sie in Ruhe lässt und dass sie jederzeit zu mir kommen kann, wenn es zu schlimm wäre. Meine Adresse fügte ich hinzu, wir hatten uns ja jedes Mal nur bei ihr getroffen, und die drei Worte, ohne die ich keine Nachricht an
sie schreiben konnte - Ich liebe Dich! Ein wenig fühlte ich mich besser, nachdem der Junge zurückkam und bei mir vorbeilaufend, verschwörerisch den Daumen hob. Ich war aktiv geworden und hoffte, dass ich auf irgendeine Weise eine Botschaft von Amelie bekommen würde. Natürlich wagte ich nicht, noch am gleichen Tag damit zu rechnen, aber ich wünschte mir, dass sie überhaupt reagieren würde, musste ich doch einfach wissen, ob es ihr gut ging. Auch zu Curlys Familie sollte ich Kontakt aufnehmen, wusste jedoch noch nicht wie. Zuviel stand inzwischen für mich auf dem Spiel. Mein Trainer-Job war mir wichtig, ich wollte bald wieder
auf dem Platz stehen und hoffte, ich konnte die Familie von meiner Unschuld überzeugen. Wie naiv ich in diesen Tagen noch war, sollte ich bald zu spüren bekommen.
Den Rest des Sonntag verbrachte ich abermals mit traurigen Grübeleien, während ich mich vorwiegend in meinem Bett herumwälzte. In der Nacht wechselten sich wunderschöne Träume, in denen ich Amelie sehr nahe war, mit solchen, in denen wir erfolglos versuchten, vor einem Monster zu fliehen. Hitze löste Kälte ab, Freude Furcht. War ich Amelie nahe, verwöhnte ich sie mit all meiner Liebe und wachte erregt und verschwitzt auf. Waren wir
auf der Flucht, traten wir erschöpft auf der Stelle, klammerten uns aneinander, während sich hinter uns eine schwarze Wolke, die die Fratze Josefs trug, auftürmte. Auch aus diesem Traum erwachte ich verschwitzt, obwohl Kälte meinen Rücker hinaufkroch.
Abermals hatte ich mich zu weit aus dem Fenster gelehnt und bekam die Rechnung am Montagvormittag. Langsam verließen mich Kraft und Mut.
Wir Lehrer meiner Grundschule waren ein sehr gutes und beständiges Team und schon lange Zeit als solches miteinander vertraut. Trotzdem beschränkte sich unser Kontakt, so gut wie ausschließlich,
auf die gemeinsame Arbeit. Es gab nur wenige private Kontakte und fast keine Treffen außerhalb der schulischen Mauern. Darum schwante mir überhaupt nichts Gutes, als mein Schulleiter Mr. Cumberland am Vormittag des letzten Ferientages vor meiner Wohnungstür stand. Das gab es noch nie und genügte, dass ich mich augenblicklich unwohl fühlte. Mr. Cumberland stand nur wenige Jahre vor der Pension, wirkte durch sein Äußeres sehr weise und erhielt von allen den vollsten Respekt. Seine Entscheidungen wurden in fast allen Fällen ohne Diskussion respektiert, weil sie immer durchdacht, fair und klug waren. Als er mit
bekümmerter Miene vor meiner Tür stand und um Einlass bat, hätte ich ihm am liebsten diese vor der Nase zugeschlagen. Die Tatsache, dass er in meinem privaten Bereich auftauchte, konnte nur die nächste Katastrophe ankündigen. Und so war es auch!
„Darf ich hereinkommen?“, fragte er und ich wich unwillkürlich einen Schritt zu Seite. Meine Wohnung befand sich in einem katastrophalen Zustand, an dem ich nichts mehr ändern konnte, da mein Chef bereits mitten darin stand. Schnell raffte ich meine herumliegende Kleidung zusammen und warf sie hinter die Tür ins Bad. Die halbvergammelte Pizza versteckte ich schnell im Backofen
und trotzdem war nichts in Ordnung. Die letzten Tage hatten in der Wohnung und an mir heftige Spuren hinterlassen. Entsprechend kritisch beäugte mich Mr. Cumberland, als ich ihm einen Platz auf dem Sofa anbot. Ich selbst holte noch einmal tief Luft und ließ mich ihm gegenüber auf dem einzigen Sessel fallen. Es konnte beginnen.
„Sicher wunderst Du Dich, dass ich hier unangemeldet aufkreuze, aber die Sache um die es geht, kann nicht aufgeschoben werden. Und“, er schaute mir direkt in die Augen, „ich wollte sie auch nicht telefonisch mit Dir klären.“ Es war üblich, dass er die jungen Lehrer unter uns duzte und ich war froh darüber, weil
ein förmliches Sie alles noch schlimmer gemacht hätte.
„Lassen Sie mich raten, es geht darum, dass ich ein böser Kinderschänder bin, oder? Und lassen Sie mich weiter raten, Sie haben eine anonyme Information bekommen und müssen jetzt so schnell wie möglich der Sache nachgehen, weil morgen die Schule wieder beginnt.“ Ziemlich patzig warf ich ihm diese Informationen hin. Hatte ich noch viel zu verlieren? Die buschigen weißen Augenbrauen in Cumberlands Gesicht wanderten nach oben und seine Augen schauten mich milde und dennoch aufmerksam an. So kannte er mich augenscheinlich nicht.
„Was ist passiert? Dir ist doch klar, dass ich kein Wort davon glaube, oder? Und Dir ist trotzdem sicher klar, dass ich mich um die Angelegenheit kümmern muss?“
„Kümmern Sie sich! Schlimmer als es schon ist, kann es nicht mehr werden.“ In dem Moment war ich davon wirklich überzeugt.
Sichtlich bedrückt ließ er sich die ganze Geschichte um Curly erzählen, war aber mit den wenigen Fakten nicht zufrieden. Das Mädchen ging nicht in unsere Schule und die Eltern waren Mr. Cumberland nicht bekannt. Umso mehr versuchte er, zu verstehen, was da vor sich ging. Die Information hatte er nicht
anonym bekommen sondern von einem Mitarbeiter des Beaverton Couriers. Es wurde immer schlimmer! Ich sah mich schon mit einer entsprechend fettgedruckten Überschrift auf Seite Eins prangen. Im Moment gab es diese Seite noch nicht, versicherte mir mein Chef, aber er müsse der Angelegenheit nachgehen und entsprechend reagieren. Hatte ich das nicht am Freitag schon einmal gehört? Mir wurde schwindelig und ich hatte den Eindruck, die Wände meiner Wohnung kamen stückweise im Zeitlupentempo auf mich zu. Mein Leben wurde gerade demontiert und die Person, die allein dafür verantwortlich war, lag wahrscheinlich gerade grinsend
in der Sonne und ließ sich von seiner Frau den schmierigen Buckel massieren. Amelie! Ich musste aufpassen, nicht wie ein Mädchen der dritten Klasse loszuheulen, denn mir war danach.
Wie das Gespräch weiterging, kann ich nicht mehr sagen. Ich habe Mr. Cumberland alles Mögliche erzählt, hörte aber nur seine Worte am Ende. „Es tut mir wirklich leid, Jim. Aber Du musst mich verstehen, mir sind die Hände gebunden. Ich glaube an Deine Unschuld aber im Sinne der Kinder und ihrer Familien kann ich Dich auf keinen Fall ab morgen arbeiten lassen. Deine Stunden werden übernommen und bis alles geklärt ist, besetze ich Deine Stelle
nicht neu.“
Mehr als nicken konnte ich nicht. Zu groß war der Kloß in meinem Hals, der mir gerade die letzte Luft zum Atmen nahm.
„Du schaffst das. Wir schaffen das!“ Er nahm mich tatsächlich, völlig unüblich für ihn, in eine ganz kurze Umarmung und bewegte sich daraufhin rückwärts zur Tür. „Kann ich Dich allein lassen?“ Offenbar machte ich wohl gerade einen desolaten Eindruck auf ihn und abermals nickte ich nur.
Kurz bevor er die Tür hinter sich zuzog, da ich immer noch wie gelähmt auf dem Sessel saß, bückte er sich, trat noch einmal in meine Wohnung und drückte
mir ein weißes Blatt in die Hand. „Das lag auf dem Fußabtreter. Melde Dich bei mir, wenn Du jemanden brauchst.“ Dann war er verschwunden und ich starrte noch eine Ewigkeit auf die geschlossene Tür, als ob dahinter soeben ein Geist verschwunden wäre. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Viel später bemerkte ich, dass ich das Papier gedankenversunken zu einer Rolle gedreht hatte, die ich in meiner Hand hin - und herschob. Als ich das Blatt glattgestrichen hatte, erkannte ich meinen Brief an Amelie. Jedes einzelne Wort war noch zu lesen, obwohl das Schreiben sehr gelitten hatte. Noch deutlicher als meine Zeilen war jedoch
die rote Schrift auf der Rückseite zu sehen. DU HAST NOCH NICHT GENUG?
Ich begann zu würgen, schaffte es gerade noch in das Bad, wo ich mich heftig übergeben musste, um danach kraftlos, an die weiße Kachelwand gelehnt, die nächsten Stunden zuzubringen. In welchen Alptraum war ich da hineingeraten? Urplötzlich wünschte ich mir mein altes Leben zurück.
©Memory