Kreislauf
Verschwommen nahm Ben Umrisse durch seine halbgeöffneten Augen wahr. Schatten bewegten sich vor seinem Gesichtsfeld in verschiedene Richtungen. Bens Ohren klingelten noch zu laut, als dass er Geräusche aus seinem Umfeld klar wahrnehmen könnte. Er versuchte angestrengt nicht wieder zurück in die Ohnmacht zu verfallen, aus welcher er doch gerade erst aufgewacht war und stemmte seine Augenlieder förmlich auf. Es dauerte einen Moment, bis seine Pupillen sich an das Licht und die Bilder gewöhnt
hatten. Sein Mund war staubtrocken und am Hinterkopf pochte es fürchterlich unter einer verklebten Blutkruste. Aus reinem Instinkt verhielt er sich erstmal sehr ruhig. Er sondierte die Lage, so gut er es aus seiner aktuellen Position heraus konnte. Ben lag auf der Seite auf dem Boden, oder besser gesagt auf einem Fell auf dem Boden. Nicht weit entfernt glühte ein Kohlehaufen und spendete wohltuende Wärme. Kleine Funken stoben von leisem Knistern begleitet aus dem Haufen, wenn jemand darin rumstocherte.
Ben spürte, wie die aufsteigende
Aufregung seine Atmung beschleunigte. Jeder Versuch sich wieder zu beruhigen endete darin, dass die Aufregung weiter zunahm. Bens Fluchtinstinkt war stärker, als sein Plan, erstmal weiter zu beobachten. Das geschäftige Treiben um ihn herum blieb stabil und sein Blick hatte sich mittlerweile wieder scharf eingestellt. Den richtigen Zeitpunkt, seine Tarnung als Bewusstloser aufzugeben, wird es nie geben, daher setzte sich Ben mit einem Ruck auf. Einfach weglaufen war auch keine Option, nicht ohne seinen Bruder. Oliver, wo steckte der eigentlich? Ben konnte ihn von seinem Platz aus nicht
sehen und sofort schossen ihm die wildesten Gedanken und Sorgen durch seine lebhafte Fantasie. Er war so sehr damit beschäftigt, sich auszumalen, wo Oliver steckte, dass er die Schritte nicht wahrnahm, die sich von hintern näherten.
„Gott sei Dank, du bist endlich aufgewacht. Wir hatten schon Sorge, dass der Baum dich doch schwerer verletzt haben muss.“ Sein Bruder stand hinter ihm und hielt eine Schale und einen Lederbeutel mit einer Art Korken in den Händen.
„Hier trink und iss erstmal. Kochen
können die hier schon mal.“ Oliver reichte Ben die Schale und den Beutel und erntete dafür nur einen fassungslosen Blick seines Bruders. Bens Aufmerksamkeit wurde schnell auf die Schale in seinen Händen gelenkt. Irgendeine Fleischzubereitung schwamm in sämiger Flüssigkeit. Das Essen roch verführerisch und Bens Magen begann sofort gierig zu brodeln und zu knurren. Allerdings hatte Ben noch Schwierigkeiten mit seinem Kreislauf. Es fühlte sich so an, als ob er immer leicht von einer Seite zur anderen schwankte. Er konzentrierte sich auf die Schale in seinen Händen und erhoffte
sich durch diese Ablenkung eine Stabilisierung seines Zustandes.
„Ist alles ok, Ben?“, fragte Oliver zunehmend besorgt, da er seinen Bruder so unsicher und angespannt nicht kannte. Ben brauchte einen Moment um zu reagieren.
„Die Suppe bewegt sich“, flüsterte Ben schwach, ohne seinen Blick von der Schale wegzunehmen.
„Oliver, die Suppe bewegt sich, oder drehe ich langsam aber sicher durch?“
Oliver lachte impulsiv laut auf. Ben zuckte zusammen, da er befürchtete, das schallende Lachen seines Bruders würde ihnen auf unangenehme Weise mehr
Aufmerksamkeit verschaffen, als Ben es gerne hätte.
„Du machst mich echt fertig, Bro. Komm‘ mal mit.“ Mit diesen Worten wischte sich Oliver eine Träne aus den Augenwinkeln und zerrte seinen großen Bruder ruckartig auf die Füße.
„Mach mal langsam, mein Kreislauf ist noch nicht ganz zurück“, motzte Ben OIiver leicht schwankend an. Doch der ließ sich nicht reinreden und zog Ben durch den schummrigen Raum. Vorbei an jeder Menge Gestalten, welche Ben in seiner gehetzten Bewegung nur vage wahrnahm. Er war zu sehr damit beschäftigt, nicht gegen irgendeinen der
Holzpfeiler zu stoßen, welche die Decke des Gebäudes abstützten. Es ging eine steile, schmale Holztreppe hinauf. Ben roch etwas, was er im ersten Moment nicht zuordnen konnte.
„Schnell, rauf mit dir“, lachte Oliver gut gelaunt vom oberen Absatz der Treppe zu seinem Bruder.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Ben misstrauischer als zuvor. Er rieb sich den Hinterkopf, welcher durch den Aufschlag gegen den Baum noch immer sehr schmerzte und nun begann heftig zu pochen. Aber Oliver machte keine Anstalten, Ben eine Antwort zu geben. Er signalisierte seinem Bruder einfach,
die Treppe hochzukommen.
Mit jeder Stufe, die Ben nach oben stieg, spürte Ben immer deutlicher einen angenehmen Wind. Nun konnte er auch den Geruch wieder einordnen und Ben begann die Stufen immer schneller hochzusteigen. Sein Bruder war bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden, dafür eröffnete sich ein herrlicher, kristallklarer Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Und auf dutzende Masten mit aufgeblähten Segeln im fahlen Mondlicht.
Mit offenem Mund betrat Ben das Deck
eines gewaltigen, hölzernen Segelschiffs. Oliver stand bereits direkt vor ihm an der Reling und forderte Ben auf, dazuzukommen. Ungläubig folgte Ben der Aufforderung und trat neben seinen Bruder an die Bordwand. Der Geruch nach Salzwasser, das leichte Schwanken des Meeres. Der Kreislauf war also nicht sein Problem. Im Gegenteil. Ben war auf einen Schlag hellwach und in höchstem Maße alarmiert. Sein Blick schweifte über das Deck. Er konnte die Mannschaftsstärke nicht mehr zählen, zu viele Seemänner tummelten sich herum. Ben blickte den Mast und das Segel hinauf. Er konnte an
der Spitze zwei verschiedene Flaggen ausmachen. Das Segel war pechschwarz. Im sogenannten Krähennest waren drei Matrosen postiert. Ungewöhnlich, denn normalerweise standen dort maximal zwei Menschen drin. Sie hielten Ausschau nach Hindernissen. Die Segel waren straff in den Wind gestellt und an Deck waren jede Menge Seemänner damit beschäftigt, die Spannung ordentlich getrimmt zu halten. Auf dem Mitteldeck war ein überdimensionales Steuerrad. Es bestand aus drei identischen hintereinander verschraubten Steuerrädern. Dieses Schiff war für schwere See konzipiert.
Durch diese Konstruktion konnten mindestens sechs Steuermänner das Ruder unter Kontrolle bringen. Um den Hauptmast herum waren Waffen zu kleinen Türmen aufgebaut. An der Bordwand konnte Ben Kanonen erkennen. Sie waren fest vertäut und mit jeweils zwei Mann besetzt.
Ein Blick auf die anderen Schiffe zeichnete ein ähnliches Bild. Ben hatte den Eindruck, dass die anderen Schiffe nach einem Muster um sie herum angeordnet waren. Zudem glaubte Ben, dass das Schiff auf welchem sie sich befanden, größer wäre, als die anderen.
Er ließ seinen Blick nochmals schnell über das gesamte Schiff fliegen. Das Deck, den Mast, den Steuerstand. Die Aufbauten, die Mannschaft. Die Schiffe um sie herum. Oliver musterte Ben aufmerksam und beobachtete mit einer schelmenhaften Freude, wie Bens Gesicht sich immer weiter anspannte.
„Oliver, wo zum Teufel sind wir? Warum sind wir an Bord eines Admiralsschiff inmitten einer kampfbereiten Kriegsflotte?“