Der Ach-Horenn 6.Teil
Anmerkung: Diese Erzählung ist Teil der Kosmogonie einer fantastischen Welt. In ihr leben als menschengleiche Gestalten die Elfen. Die Sirenen sind ihr Todfeinde, körperlose Wesen, die in stillen Wassern hausen.
Wer es wagte, den steinigen Weg zu befahren, was nur wenige taten, konnte den Eindruck haben, dieses enge Tal würde niemals enden. Doch dann, nach unzähligen langen und gefährlichen Meilen, fielen die mächtigen Felsen plötzlich steil hinab und an beiden Ufern war flaches Land, fast so, als wollten die Berge den Fluss in die Freiheit entlassen. Dieser reckte und streckte sich und war nun nicht mehr schmal und reißend, sondern wieder breit und
gemächlich floss er dahin.
Dieses Ende des steinigen Weges nannten die Elfen auch das Axttor, denn es war, als ob eine riesige Axt die Berge gespalten, fleißige Hände aber nur den einen Teil weggeräumt hätten. Sie wussten nicht, dass sie der Wahrheit damit sehr nahe kamen, denn zu Beginn der Welt, als die Elfen noch nichts ihrer schöpferischen Kraft eingebüßt hatten, waren einige von ihnen zusammengekommen um diese Berge zu errichten und sie hatten große Freude daran, Felsen aufzuschichten und scharfe Kanten ins Gestein zu hauen. Doch wollten sie noch viele andere Dinge schaffen und glaubten nur wenig Zeit zu haben. So ergriffen an einem Tage alle ihre Hammer und Meißel und schlugen jenen steilen Abschluss in das Gestein. Trotz dieses jähen Endes waren sie mit ihrer Arbeit zufrieden und sie nannten das von ihnen errichtete Gebirge die Berge des Wassers. Da sie jedoch weiterzogen um andere Werke zu
verrichten, geriet diese Name in Vergessenheit, auch wenn er im Buch der Welten von Dihanech niedergeschrieben stand.
Das Land, durch das der Ach-Horenn floss war nun wieder grün und fruchtbar, aber fast unbewohnt, denn sowohl der Weg durch das enge Klammtal, als auch jener um die Berge herum war zu beschwerlich. Dieses Land bot keine Verlockungen, außer für jene, welche die Abgeschiedenheit suchten, denn Besuch kam nie hierhin. Deshalb hieß dieser Teil des Flusses, wegen der ihn umgebenen Leere Ödland, was nicht rechtens war, denn wuchsen dort an seinen Ufern die Feldfrüchte ebenso wie anderswo am Ach–Horenn. Doch kaum ein Elf wohnte hier oder blieb für eine längere Zeit. Stattdessen hatten sich viele seltene Pflanzen zusammengefunden, weil selten Pflug oder Schar den Boden umgrub. Und mit ihnen lebten Tiere, die sonst nirgends in der Welt ein zuhause hatten wie das Flusshörnchen, welches,
einem Eichhörnchen nicht unähnlich, das Wasser nicht scheute und ein hervorragender Schwimmer war. Wenn die meisten dieser Tiere keinen Namen trugen, so lag das daran, dass nie ein Elfenauge sie geschaut hatte.
Das Ödland war der kürzeste Abschnitt des Flusses und schon bald darauf erreichte der Ach-Horenn das Meer, nicht weit östlich von der Stelle, an der die Elfen später die Hellgoron errichteten, jenes mächtige Gebirge, hinter dessen hohen Bergen sie nach dem Kriege die Sirenen im Meer der Stille gefangen hielten.
Kurz vor dem Meer spaltete sich der Ach-Horenn in unzählige Arme und bildete so ein Delta, dass zu keiner Zeit erkundet wurde. Es war nicht mehr als eine Vermutung, das sich die Verläufe jener Flussarme sich ständig änderten, auch weil dort eine immerwährender Kampf ausgetragen wurde. Ohne Unterlass versuchten die Sirenen durch das Delta in den Ach – Horenn und damit in den fruchtbarsten
Teil der Welt zu gelangen. Doch so lebensspendend und freundlich sein Gebaren flussaufwärts war, so tobend, mächtig und von Zorn gegen alle Feinde getrieben konnte der Fluss sein. Seine Wasser schwollen zu mächtigen Wellen an und wuschen die Sirenen zurück ins Meer, so oft sie es zu verlassen trachteten. Ganze Heere der Verbündeten der Sirenen zerschlug er und sein Tosen war schrecklicher und heimtückischer als ihr verderblicher Gesang, wenn er es wollte. Mit der ganzen Kraft seines Lebens stellte er sich gegen Boshaftigkeit und Lug und Trug und nie wurde er besiegt. Nicht die Sirenen besiegelten sein Ende, sondern der Hass, der Eifer und die Gier nach Macht der Menschen, mit der sie am Ende der niederträchtigen Kriege große Teile der bekannten Welt zum Einsturz brachten, lange nachdem Wenden und Blimps diese bereits verlassen hatten.
Dies ist die Geschichte eines großen Flusses
und keiner nach ihm sollte so mächtig, freundlich oder lebensspendend sein. Doch wer an einen Bach kommt und nur lange genug still sitzen bleibt, für den formen sich Worte und Geschichten aus dem Plätschern und diese erzählen vom Ach–Horenn.
- ENDE -
Gewidmet Joachim Höppner (1946 – 2006). Die Welt ist leiser ohne ihn
Einige kurze Anmerkungen zur Entstehung des Ach-Horenn
Es ist jetzt gut acht Jahre her, dass ich den Ach-Horenn geschrieben habe. Er ist als Teil einer Kosmogonie für zwei Fantasyromane entstanden. Doch das war aber nicht allein mein Antrieb für diese Erzählung.
Wer das Buch kennt, wird es nicht verwunderlich finden, dass ich, bevor ich den Ach-Horenn schrieb, gerade Das Silmarillion von J.R.R. Tolkien gelesen hatte, sozusagen als Abschluss meines ’ersten Tolkienjahres’ - zuerst habe ich Der Hobbit, dann Der Herr der Ringe, dann Das Silmarrillion gelesen - eine Reihenfolge, die ich jedem nur empfehlen kann, der sich Tolkien nähern will - und ich war von den Geschichten begeistert. Ich war so sehr von dem Gelesenen eingenommen, dass ich mir Das Silmarillion als Hörbuch zulegte. Gelesen wurde
es von Achim Hoeppner und erst da erfuhr ich, dass er bereits zwei Jahre zuvor verstorben war.
Sozusagen zwischendurch hatte ich noch von E.A. Poe Das Gut zu Arnheim gelesen und war ziemlich enttäuscht, vor allem weil hier ein existierender Fluss eine fantastische Beschreibung bekam. Es ist wohl nur dem Alter des Werks zuzuschreiben, dass man dem Autor dies durchgehen lässt. Würde heute jemand in einer Erzählung oder einem Roman von den mehrere hundert Meter hohen Wasserfällen der Volga berichten, das Urteil wäre vernichtend. Es mag überheblich klingen, aber ich dachte mir: ’Das kannst du besser.’
So begann ich an der Arbeit am Ach-Horenn und stellte die Erzählung in 6 Wochen fertig. Dabei hatte ich ständig die wunderbar warme Stimme von Achim Höppner im Ohr, stellte mir vor, er würde sie lesen. Und tatsächlich half mir das, die Ecken und Kanten der Geschichte zu erkennen. Zu lange Sätze kürzte ich und
hatte ständig den Klang meiner Erzählung im Hinterkopf. Ich war (und bin es auch immer noch) unbescheiden genug, dass ich mir wünschte - das tue ich bis heute - Achim Höppner hätte den Ach-Horenn einmal gelesen. Entsprechend eifrig ging ich zu Werke.
Das ich bei all dem auch versuchte, mich an der Sprachgewalt eines Tolkien zu messen, wurde mir erst später bewusst. Mit der Zeit wuchs darum auch die Furcht, nur ein billiges Plagiat zu erstellen. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Erzählung sehr lange ein einsames Leben auch meiner Festplatte führte. Erst vor gut drei Jahren zeigte ich sie einem guten Freund - der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er keine Freundschaftreviews gibt, eine fast unschätzbare Eigenschaft von ihm - und er, der auch andere Erzählungen von mir gelesen hat und ein Tolkienkenner ist, war der Meinung, dass man in ihr meinen Stil wiederfindet und sie dennoch "tolkinesk" sei.
Ein Lob, dass mir Mut machte.
Doch zurück zur Konstruktion des Ach-Horenn ...
Ich wollte von Anfang an einen mythischen Fluss schaffen. Also machte ich mir Gedanken darüber, was einen Mythos ausmachte. Es ist sicherlich nicht die Wahrhaftigkeit. So darf man diese Erzählung auch verstehen. In universe betrachtet kann alles in ihr erfunden sein, denn sie entstand zu einer Zeit, in der selbst die Existenz der Elfen ein Mythos und nicht gesichert war. Das gab mir dann großen Spielraum. Ich konnte einen Fluss ganz "nach Lust und Laune" beschreiben. Denn letztlich ist ein Mythos auch immer ein Lehrstück. Dies gilt auch für den Ach-Horenn. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die Geschichte (in universe) sich an ein Publikum richtet, dessen Lebensweise mit Hilfe des
großen Flusses konterkariert und kritisiert werden soll. Dabei wird idealtypisch vorgegangen. Der Ach-Horenn kommt dem Paradies auf Erden sehr nahe. Dagegen kann die reale Welt nur abfallen. Aber eben genau das ist ja auch beabsichtigt. Der Zuhörer - in universe wurde diese Geschichte ja erzählt, d.h. mündlich vorgetragen (Achim Höppner, s.o.) - soll sich sehnsuchtsvoll an die Ufer des Flusses wünschen und wenn es nur für einen Tag sei. Ziel der Erzählung ist es nicht, das Publikum kurzfristig aufzurütteln, sondern langfristig auf einen idealistischen Weg zu bringen, weil der Ach-Horenn zeigt, dass alles auch ganz anders sein könnte.
All das sind natürlich sehr hochgesteckte Ziele. Wenn sie nicht erreicht wurden, finde ich das nicht bedauerlich. Denn bei meinen Überlegungen über Mythen ist mir vor allem eines klar geworden: Mythen überleben und werden weitererzählt, wenn sie gute
Geschichten sind. Sollte ich das erreicht haben, bin ich mehr als zufrieden.
ArnVonReinhard