Kapitel 62 Kein Ausweg
Mit den neuen Vorräten und warmer Kleidung gestaltete sich ihr Rückweg fast langweilig. Die Kälte der Eiswüsten machte ihnen nach wie vor zu schaffen, aber sie waren längst nicht mehr davon bedroht zu erfrieren und die neuen zelte, die ihnen Melchior mit auf den Weg gegeben hatte, hielten sogar die stärksten Winde ab und erlaubten es sogar, ein kleines Feuer in ihrem Inneren zu entfachen ohne das ihnen von dem Rauch bald die Augen tränten.
Und wenn es nur das gewesen wäre, was Elin zu denken gab, hätte sie vielleicht
sogar froh sein können. Vielleicht. Doch da war nach wie vor Galren und je näher sie den Bergen und damit Vara zu kommen schienen, desto schweigsamer schien er zu werden. Die Worte des Sehers hatten ihm zugesetzt, das spürte sie. Mehr als ihr… Und warum auch nicht. Melchior hatte ihr Todesurteil gesprochen, dachte Elin. Wie sollten sie den einen Ausweg finden, wenn es ihnen zuvor nicht gelungen war? Der einzige Grund aus dem sie diese Reise unternommen hatten war, dass es keine Lösung gab und dass die Dunkelheit die Galren so unbeabsichtigt entfesselt hatte drohte, sie alle zu verschlingen. Selbst das alte Volk hatte keinen Ausweg
gefunden… Aber noch weigerte sie sich aufzugeben. In Vara würden sie zumindest erst einmal Zuflucht finden können und dann… dann würden sie sehen, wie es weiter ging.
Elin wusste nicht mehr, wie lange sie für den hinweg gebraucht hatten, doch die Berge schienen dieses Mal schneller näher zu kommen, als sie sie hinter sich gelassen hatten und die endlosen Schneefelder wichen zurück und wurden zu vereinzelten, gefrorenen Eisbrettern die über dem gelben, toten Gras lagen, das die Ebenen zwischen Gruppen aus Tannen und Fichtenwäldern bewuchs. Und sie trafen zum ersten Mal wieder auf Menschen. Ein paar Schäfer, die ihre
Tiere in den felsigen Hängen an den Pässen weideten, wo der Winter das Gras noch nicht ganz abgetötet hatte und einigen Förstern und Jägern, die ihnen frische Vorräte verkauften. Weiter die Berge hinauf wurde jedoch auch die Besiedlung wieder spärlicher und sie bald wieder alleine zwischen den hoch aufragenden Gipfeln und den Schluchten, die sich abseits der mit Eis und Schnee überkrusteten Pfade auftaten. Nachts schlugen sie ihr Lager schließlich im Schutz einer Felswand auf, die zumindest den ständigen Flugschnee und Wind etwas abhielt und der Pfad zumindest etwas an breite zunahm, so dass man nicht mehr ständig damit
rechnen musste bei einem falschen Schritt sofort in den Abgrund zu stürzen.
,, Elin…“ Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen und zuerst konnte die Gejarn sie nicht zuordnen. Auch wenn sie sie ganz sicher kannte. Jemand rüttelte sie am Arm. Die Stimme gehörte nicht Galren… ,, Elin… seht nach ihm.“
Melchior ? Mit einem Schlag war sie hellwach und setzte sich auf. Sie war verschwitzt, obwohl es im Zelt selbst längst eiskalt war. Hatte sie geträumt ? Von dem Seher jedenfalls war weit und breit nichts zu sehen. Was von dem Feuer, das Galren am Abend entfacht hatte geblieben war, glomm als kleiner
Haufen Glut vor sich hin und gab kaum mehr Licht ab. Doch trotzdem wusste Elin sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Lucke des Zelts stand weit offen und kalte Bergluft sowie vereinzelte Schneeflocken fanden ihren Weg ins Innere, so dass sich bereits eine kleine Pfütze davor gebildet hatte. Aber nicht nur Melchior, ob sie sich die Stimme nun nur eingebildet hatte oder nicht, war nicht hier. Galrens Schlafsachen, eine schwere Decke und Felle neben ihren, war verlassen, der Stoff bei Seite geschlagen. Das konnte alles Mögliche heißen, sagte sie sich, doch ein Teil von ihr wusste es bereits besser. So schnell sie konnte warf sie sich ihren schweren
Umhang über und kletterte dann in Richtung Zelteingang. Draußen war alles dunkel, der Himmel mit Wolken bedeckt, so dass man nicht einmal mehr die Sterne sehen konnte. Selbst der Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte schien genau so dunkel wie die grauen Felswände die um sie herum aufragten. Und so hätte sie ihn zuerst fast übersehen. Galren war nur ein weiterer Schatten unter Schatten wie er da an einem Felsen unweit ihres Zelts lehnte. Direkt neben ihm neigte sich der Boden hin zum Abgrund wo die Felsen glatt bis in die Täler zwischen den einzelnen Berggipfeln abfielen. Er sah nicht auf, obwohl er sie doch längst
gehört haben musste, stattdessen blieb er nur in seinen Mantel gehüllt sitzen und betrachtete irgendetwas in seiner Hand.
Elin trat näher und konnte das Glitzern von Metall und den Lauf der Waffe erkennen. Hatte er die Pistole schon die ganze Zeit mit sich getragen oder von einem der Jäger erstanden denen sie begegnet waren, als sie nicht aufgepasst hatte?
,, Galren ?“ Sie blieb ein Stück von ihm entfernt stehen. Er hielt keine Wache… und hier in den Bergen gab es nichts, das man Jagen könnte. ,, Was tust du da ?“
Erst jetzt schien er sie überhaupt zu bemerken und sah auf. Auch sein Gesicht war nur ein Schatten, seine Züge nur
undeutlich zu erkennen. ,, Geh wieder rein Elin.“
Stattdessen trat sie nur weiter auf ihn zu, nun vorsichtiger geworden. Das ungute Gefühl, das sie schon beim Aufwachen beschlichen hatte verstärkte sich noch und ohne dass sie es selbst merkte, schüttelte sie den Kopf. Nein…
,, Galren ?“ Elin ließ sich neben ihm nieder, ohne ihn auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Nicht das sie schnell genug gewesen wäre, irgendetwas zu unternehmen. Ihr war kalt und das nicht wegen der Witterung.
,, Der Seher hat gemeint es gäbe einen Ausweg, Elin. Was wenn er das hier ist?“
Aus der Nähe konnte sie erkennen, das er lächelte, aber es war kein glückliches Lächeln. Wie um seine Worte zu unterstreichen, hielt er die Pistole hoch, bis vor seine Brust. Zu nah, dachte Elin. Zu nah an seinem Herzen und auf ihn gerichtet… ,, Wenn ich tot bin…,kann der Herr der Ordnung auch nicht zurück kehren, oder ? Und was wäre schon dabei….“ Er ließ die Waffe nicht sinken und vermied es ihr in die Augen zu sehen. ,, Ich habe nie etwas richtig gemacht, Ein. Vielleicht ist das die Gelegenheit.“
,, Galren… das ist nicht der Weg.“ Er dachte nicht nur darüber nach. Dazu würde er sich nicht nachts aus dem Zelt
schleichen. Und was wenn es stimmte ? Wenn das wirklich war, was der Seher gemeint hatte? ,, Leg die Waffe weg. Wir… wir gehen nach Vara. Und wenn es wirklich…“
,, Wir wissen nicht einmal ob Vara noch steht wenn wir da ankommen, Elin. Und ohne mich bist du vielleicht ohnehin schneller. Du hast mich einmal zurück gelassen. Das ist nichts anderes… Es ist vorbei.“
,, Warum ?“Galren sah ihr zum ersten Mal in die Augen, als er ihren Tonfall hörte. Nicht entsetzen. Sondern verwundert, nur getrieben von dem ehrlichen Wunsch nach einer Erklärung. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. ,
So etwas von ihm zu hören tat weh. Von ihm, der sonst nie aufgab. Ja vielleicht hatte er damit Recht. Aber sie war noch lange nicht bereit, sich das einzugestehen. ,,Galren , warum ?“
,, Warum ? Weil es keinen Weg mehr für mich gibt, Elin. Ich habe die Leute immer nur verletzt und enttäuscht. Lias. Armell. Kellvian. Merl. Dich. Und selbst jetzt tue ich dir weh. Den ganzen Weg hierher. Kein Wunder das der Herr der Ordnung mich als passende Hülle sieht. Aber das hört hier auf.“
,,Feigling.“ Er hatte wohl mit viel gerechnet. Dass sie ihn bitten würde, das sie ihm sagen würde, das nichts davon stimmte…vielleicht ja auch, dass sie es
zulassen würde. Aber Elin spürte keine Angst mehr. Kein Mitleid. Nur Wut. ,, Glaubst du wirklich das macht irgendetwas besser ? Wenn ja bist du wirklich nichts anderes als ein verdammter Feigling.“ Ihre Worte hallten als Echo von den Bergen wieder. ,,Wenn du das jetzt tust ist Naria umsonst gestorben. Und Lias. Und Janis. Alle. Und wenn du schon aufgibst welche Chance hat dann überhaupt noch einer von uns? Er tötet uns sowieso alle, Galren. Es spielt längst keine Rolle mehr ob er dich bekommt oder nicht. Aber nur zu. Ich jedenfalls werde weiterkämpfe, bis es wirklich keine Hoffnung mehr gibt, wenn das das Ende ist…“ Ihre
Stimme begann zu zittern und gegen ihren Willen stiegen ihr die Tränen in die Augen. ,, Du kannst nicht einfach aufgeben… Ich will nicht alleine sterben, Galren.“ Sie würde niemals zugeben wie viel Überwindung sie diese letzten Worte kosteten. Sie wollte ihn schütteln, ihm sagen dass er gefälligst wieder zur Vernunft kommen und seine eigenen Worte Lügen strafen sollte. Worte, die nur zu sehr ihren eigenen Ängsten Ausdruck verliehen. Stattdessen nahm sie nur sein Gesicht in beide Hände, ignorierte die Waffe zwischen ihnen. ,, Du bist kein Feigling. Das glaube ich nicht. Das bist du schlicht nicht…“
,, Und ich bin auch kein Held, Elin. Und das wäre es wohl, was es bräuchte um das alles hier noch zu einem guten Ende zu führen. Ich fürchte jedoch die sind alle tot… oder ihre Träume vor langem zerbrochen.“ Er sah wieder zu Boden, fort von ihr. Bisher hatte er immer zugelassen, dass sie ihm half. Nun jedoch ? Irgendwie hatte er sich in diese Idee verrannt, dass der Seher seinen Tod als Lösung ansehen könnte. Vielleicht hatte Melchior für ihn auch nur bestätigt, was er bereits befürchtet hatte? Geister, was Melchior ihnen gesagt hatte war nichtssagend gewesen, bestenfalls. Sie würde nicht zulasse, das
er nur deswegen jetzt zerbrach. Und sie würde es weder ihm noch ihr verzeihen…
,, Aber du nicht… Galren, schau mich an. Er hat dich nicht gebrochen. Und das wird er auch nicht. Es gibt einen Weg und wir werden ihn auch finden. Du hast auch das von Melchior gehört. Das ist was du tust, das ist was dich ausmacht. Du findest einen Weg. Aber das hier ? Das ist keiner. Du hast noch eine Wahl.“ Eine Weile lang hielt sie ihn nur fest, hinderte ihn daran sich wieder in seine eigenen, düsteren Gedanken zu flüchten. Sie war sein Anker in diesem ganzen Wahnsinn. Das war sie immer gewesen. Und sie würde es bleiben so lange es
nötig war. Sie akzeptierte seine Zweifel, seine Angst die letztlich auch nur ihre war. Aber das er Aufgab, nein… das konnte sie nicht akzeptieren. Das war nicht Galren, nicht der Mann den sie liebte, sondern nur was der Herr der Ordnung aus ihm machen wollte. Eine ausgebrannte Hülle, die keinen Ausweg mehr sah… und vergessen hatte sich auf das zu besinnen, was er eigentlich war.
Langsam hob er den Kopf. Sie konnte nicht sagen was er denken mochte. Jeden Moment erwartet sie einen Knall zu hören, der alles beenden mochte. Und was würde sie dann tun? Den anderen sagen dass sie zugesehen hatte wie er aufgab und starb? Minuten mochten
vergangen sein oder auch Stunden.
,, Dann sag mir , was kann ich noch tun ?“ War da nicht das leichte Aufschimmern von Hoffnung in seinen Augen? Schwach aber da. Irgendwie hatte sie ihn dazu gebracht ein Stück von dem Abgrund zurück zu taumeln an dem er stand. Und Elin hatte nicht vor abzuwarten ob er den Rest des Weges von selbst gehen würde. Sie küsste ihn, schloss eine Hand um die Waffe. Und tatsächlich lockerte sich sein Griff, grade genug, das er zuließ, dass sie ihm die Pistole entwand und sie fort über den Rand der Klippe schob. Wenn er es wirklich hier beenden wollte, brauchte er keine Kugeln… Das war ihr genau so
klar wie ihm.
,, Liebe mich.“ , hauchte sie, hielt sich an ihm fest wie eine Ertrinkende. Die Erwartung war quälend. Eine Ewigkeit schien zu vergehen in der er sie nur still betrachtete. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie nahm kaum wahr wie er ihr durch die Haare strich, bevor er eine Hand auf ihre Wange legte. Er lächelte. Für den Augenblick war es genug.
,, Wie oft wirst du mich noch vor mir selbst retten müssen ?“ , fragte er schließlich in die Stille hinein. Langsam stand er auf, hielt sie dabei fest und zog sie mit sich nach oben. ,, Gehen wir wieder rein. Morgen ist ein neuer Tag. Und ich werde da sein. Das ist ein
Versprechen…“