Der Ach-Horenn 4. Teil
Anmerkung: Diese Erzählung ist Teil der Kosmogonie einer fantastischen Welt. In ihr leben als menschengleiche Gestalten die Elfen. Die Sirenen sind ihr Todfeinde, körperlose Wesen, die in stillen Wassern hausen.
Der längste Abschnitt des Ach–Horenn war der, den die Elfen den fruchtbaren Unterlauf nannten und er soll hier in knappen Worten beschrieben werden, denn kein Bericht könnte den lebensspendenden Wasser gerecht werden, es sei denn, man hätte eine Lebensspanne um zu lesen, denn so zahlreich war das Gute, das der Fluss bewirkte und so viele Schicksale hat er
glücklich gelenkt.
Er war nun breit und floss langsam und nicht einen Strudel soll er gehabt haben. Selbst ein kleines Boot drohte niemals zu kentern. Darum bauten die Elfen auch lange Zeit keine Übergänge über den Fluss, denn viel Zeit benötigt man, um Brücken, zumal solche aus Stein, zu bauen. Statt dessen gab es unzählige Fährleute an den Ufern des Flusses und sie transportierten alles über das Wasser. Es gab ganz kleine Boote für nur einen Wanderer und große, auf denen ganze Herden von Tieren Platz fanden. Das war auch nötig, denn jene Elfen, welche an den Ufern des Ach–Horenn lebten, betrieben Viehzucht und Ackerbau. Ihre Arbeit war weit geringer als die der Bauern und Hirten nach dem Einsturz der Welt und trotzdem waren ihre Erträge am Ende des Jahres um vieles höher. Weite Teile aller Länder versorgten sie und berühmt war das Ach–Horennmehl, denn es gab viele Mühlen, welche die Kraft des
Flusses nutzen. Buk man aus diesem Brot, so stillte es den Hunger für Tage.
Überschwemmungen gab es nicht, aber dennoch war das Land an die hundert Meilen zu beides Seiten des Flusses das Fruchtbarste jener Tage. Viele Elfen taten nicht mehr, als im Frühjahr zu säen und im Herbst zu ernten. Der Ach–Horenn kümmerte sich um das Wachsen und Gedeihen. So lohnte sich auch das Bestellen von kleinen Feldern und das war der Grund, warum es so viele Dörfer gab, die zumeist gar nicht weit voneinander entfernt beim Fluss standen.
Das erste Städtchen war Röppen und es lag am Westufer des Ach–Horenn. Die meisten Häuser waren aus Holz, boten aber ausreichend Schutz gegen die Unbillen des Wetters, denn der Fluss vertrieb alle Gewitter und Stürme. Dies war die Heimat von Joaho gewesen und hier lebte auch sein Vetter Heorei, der in späterer Zeit ein Opfer des Krieges der Elfen gegen die Sirenen wurde. Röppen war ein altes Städtchen
und es wird erzählt, dass Dihanech* von dort stammte. Tatsächlich lebten viele kluge Männer und Frauen in Röppen, aber ob das ein Zeichen dafür war, dass Dihanech hier geboren war, oder ob es diesen dorthin zog, eben weil man sich das erzählte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Es gab eine berühmte Büchersammlungsstätte in Röppen, doch wie reichhaltig ihr Wissen war, vermag heute niemand mehr zu sagen, denn sie verbrannte mit allen Werken im Kriege, am selben Tag, an dem Heorei fiel.
Zwei Tagesreisen flussabwärts lag die größte Stadt am Ach–Horenn. Badur hieß sie und war die schönste Stadt der Welt. Als der Krieg gegen die Sirenen tobte, baute man sie zur größten und mächtigsten Festung der Elfen aus und nannte sie dann Baronn. Doch über den Krieg soll hier nicht berichtete und sie darum Badur genannt werden. Alle Häuser waren aus Stein und sie waren groß und schön. Nicht
selten war weißer Marmor für den Bau verwendet worden und geschickte Bildhauer waren ständig irgendwo in der Stadt bei der Arbeit und schufen reiche Verzierungen, Büsten und Skulpturen von Tieren, Inschriften oder einfach nur schöne runde Bögen. Diese spannten sich über die schmalen Gassen und Straßen zwischen den eng beieinander stehenden Häusern. Die meisten waren vier Stockwerke hoch und eben weil eines dicht bei dem andern war, konnte man, über die flachen Dächer gehend, viel der herrlichen Stadt erkunden. Es gab sogar einen Dachmarkt, der zwar nicht der größte Badurs, aber doch ein ganz besondere war. Hier wurden Dinge feilgeboten, die anderswo nur schwer zu bekommen waren. So wurden hier zum ersten Mal die drei Bücher des Joaho gezeigt und immer gab es einen Stand, an dem ein Exemplar von Dihanechs Werk auslag. Wer wollte, konnte es erwerben, doch war auch jeder willkommen,
der einfach nur im Buch der Welten stöbern wollte. Es galt allerdings als unhöflich, danach nicht über das Gelesen mit anderen zu streiten. Denn auch in jenen Zeiten, als Dihanech noch unter den Elfen umherging, gab es so manchen Disput über seine niedergeschriebenen Worte.
Viele Wanderstäbe wurden angeboten, denn die Elfen zogen gerne durch die Welt. Jedoch auch für das, was heute Zauberei genannt wird, waren sie notwendig und es heißt, für die Errichtung der Hellgoron** und die Erschaffung der Milrure*** benötigten die Elfen so viele Stäbe, dass ganze Wälder abholzt werden mussten. Dabei war das Geheimnis dieser Taten nicht die Zauberei oder die Wanderstäbe, sondern die gemeinsame Arbeit für ein gutes Ziel, was Menschen, Blimps und Wenden**** später vergaßen.
Nie wurde jedoch finsteres Machwerk auf irgendeinem Markt in Badur angeboten, denn es war die hellste und schönste Stadt der Elfen. Sie
lag an beiden Ufern des Ach–Horenn und um diese beiden Hälften zu verbinden, erbaute man ein große Brücke aus Stein. Elf Bögen wurden über den Fluss geschlagen und jeder war fünfzig Schritte breit. Dort wo zwei Bögen sich trafen, waren Statuen aufgestellt worden, zehn an jeder Seite, die all das zeigten, was die Elfen liebten. Auf der einen Seite standen ein Fuchs, ein Dachs, ein Rabe, ein Hirsch, ein Hase, ein Pferd, ein Eichhörnchen, ein Stier, ein Schaf und ein Wolf. Die Statuen auf der anderen Seite waren ein Raubvogel (der sehr an die kommenden Milrure erinnerte), ein Langschwertkämpfer, ein Bogenschütze, ein Lesender, ein Koch, ein Wanderer, ein schwer Gewandeter mit Kapuze und ohne Gesicht, ein Schmied, ein gebücktes Männchen mit einem schelmischen Grinsen und die Sonne. Gebaut war all dies aus hellem Stein der, sorgsam poliert, im Sonnenlicht strahlte ohne das Auge zu blenden. Darum schlug das Herz aller Elfen
höher, wenn sie über diese Brücke gingen und die Statuen ließen sie nachdenklich werden. Der Ach–Horenn floss friedlich unter der Brücke dahin, doch er erfreute sich nicht an der schönen Stadt, sondern an dem friedlichen Gemüt der Elfen, die in ihr lebten. Und auch wenn Badur schon zu jener Zeit von einer Mauer umgeben war, so hatte man sie nicht errichtet, um Feinde abzuwehren, sondern weil die Elfen meinten, zu einer Stadt aus Stein gehöre eine Mauer aus Stein. Warum das so war, vermochten sie aber nicht zu sagen. So war diese Mauer zwar hoch, aber nicht besonders breit und diente nicht der Verteidigung. Die Innenseite dieser Mauer bemalten Künstler mit Bildern und wenn der Regen diese abwusch, waren andere Maler an der Reihe und neue Bilder entstanden.
Mehr soll über Badur hier nicht erzählt werden, denn ein ganzes Buch würde nicht ausreichen, die Schönheit der Stadt zu
beschreiben. Und auch wenn die Elfen sie später, als sie gegen die Sirenen ziehen mussten, zu einer mächtigen Festung ausbauten, ging von ihr, obwohl nun trutzig und mit unzähligen Türmen versehen, immer noch eine einzigartige Anmut aus, für die im Kriege aber niemand Platz in seinem Denken fand.
Etwas weiter flussabwärts gab es einen Ort der Werken hieß. Das war jedoch weniger ein Name, als vielmehr eine Beschreibung dessen, was dort geschah. Viele Wassermühlen standen am und auch im Fluss und der Ach–Horenn erleichterte auf diese Weise so manchem Müller sein Handwerk. Aber auch viele andere Handwerke, bei denen große Kraft von Nöten war, hatten hier ihren Platz, ganz gleich ob die Meister sich dem Eisen, dem Holz oder dem Glas zugewandt hatten. Und noch zahlreicher als die Meister waren die Lehrlinge und Gesellen in Werken, weshalb es immer eine junge Stadt war, in der viele Erfindungen
gemacht und noch mehr Fragen gestellt wurden.
Von hier an ähnelte der Ach–Horenn weiter sehr dem fruchtbaren Unterlauf, nur dass es unterhalb von Werken mehr Städtchen und sogar einige Städte gab, auch wenn keine sich mit Badur messen konnten und gab es einmal eine Brücke über den Fluss, war diese aus Holz. Viehzucht und Ackerbau waren auch hier sehr ergiebig und so wurde dieser Teil des Flusses Stadt und Land genannt, oft jedoch weiterhin fruchtbarere Unterlauf. Wochenlang war ein Reisender unterwegs und der Fluss änderte seinen Charakter nicht. Freundlich, breit und lebensspendend war er und die Elfen verehrten ihn wie einen nahen Verwandten und wer fortging und erst nach Jahren wiederkehrte, begrüßte den Ach–Heron wie einen lange verlorengegangen Freund. Auch später, als die Elfen im Kriege gegen die Sirenen und ihre Verbündeten kämpften, vergaßen sie nie die sanften Wasser des Flusses und sie schickten
ihre Verwundeten an seine Ufer, in der berechtigten Hoffnung, der Fluss möge deren Leiden mindern.
Doch schließlich änderte sich das Erscheinungsbild des Ach–Horenn. Nach zwei großen Schleifen - fast so als wolle er sich von dem fruchtbaren Land nicht trennen - wurde der große, breite und langsam dahinfließende Fluss schmal und floss nun sehr schnell. Mit aller Macht grub er sich tief in das Gestein der Welt und an seinen Ufer türmte sich der Fels zu einem mächtigen Gebirge auf. Diesen Teil nannten die Elfen den steinigen Weg, denn der Ach–Horenn rauschte hier mäandernd durch eine enge Klamm.
- Fortsetzung folgt -
* Dihanech = Sagenhafter Gelehrter der Elfen.
**= Hellgoron; Gebirge, von den Elfen errichtet als Sperrwall gegen die gefangen gesetzten Sirenen
***= Milrur; riesige Greifvogelart, von den Elfen erschaffen und in der Hellgoron ausgesetzt um die Sirenen an der Flucht zu hindern
****= Menschen, Blimps und Wenden; in diese drei Völker teilten sich die Elfen noch vor dem Einsturz der Welt