Der Ach-Horenn 2. Teil
Anmerkung: Diese Erzählung ist Teil der Kosmogonie einer fantastischen Welt. In ihr leben als menschengleiche Gestalten die Elfen. Die Sirenen sind ihr Todfeinde, körperlose Wesen, die in stillen Wassern hausen.
Lange Zeit glaubten die Elfen, der Fluss ende in diesem stinkenden, elenden Moor. Denn es grenzte direkt an einen Wald, der so groß war, dass ein Wanderer ein ganzes Jahr benötigt hätte, ihn zu umrunden. Dieser Wald, denn man später Wald der Fälle nannte, war so dicht und dunkel, dass viele ihn für undurchdringlich hielten. Es mangelte nicht an Versuchen, ihn zu
durchqueren, jedoch alle, die ihn betraten, kamen schon nach kurzer Zeit hervor, ängstlich und verstört und wagten es danach oft nie mehr, auch nur einen Fuß in irgendeinen Wald zu setzen. Schaurige Geschichten erzählte man sich an dunklen Abenden von diesem Wald, wenn man zusammen am Lagerfeuer saß und die Angst vertreiben oder sie herbeirufen wollte.
Die Blätter seien so dicht beieinander, dass die Sonne ausgesperrt blieb und man in Finsternis durch den Wald wandern müsse. Seltsame Geräusche würden einen begleiten, die nichts Gutes verhießen. Dabei sei es warm und stickig und das Atmen falle einem schwer. Die Äste hingen tief herab und wer nicht aufpasse, den würden sie ergreifen und würgen, ihm die Beine wegreißen oder noch sehr viel Schlimmeres mit ihm anstellen. Dabei wäre ihre Rinde rau und würde die Haut der unglücklichen Opfer blutig scheuern, so dass man von dem Gestank von Blut und Angst umgeben sei. Wer sich von all
dem nicht abschrecken ließe, der käme schließlich zur einzigen Lichtung des ganzen Waldes, auf der ein einzelner, riesiger, hässlicher und sehr alter Baum stände. Hoch sei er und statt einer Krone würde er einen verfallenen Palast tragen, in dem die entsetzliche Königin des Waldes hauste. Alt sei sie und eben so hässlich wie der Baum, mager mit faltiger Haut, spindeldürren Händen, großen Glubschaugen, die, wie es schien, ihr jeden Moment aus dem Kopf springen würden und mit diesen Augen würde sie die armen Verfluchten fixieren, bis sie sich nicht mehr regen könnten. Auf ihren Befehl hin würden die längsten Äste die Opfer dann ergreifen und in den Palast heben, wo sie bei lebendigem Leibe so lange in einem riesigen Suppenkessel gekocht würden, bis sie ganz aufgelöst wären.
Nichts davon war Wahrheit, doch es dauerte sehr lange, bis man mehr wusste. Joaho war der erste Elf, der sich von all dem nicht schrecken
ließ, denn es verlangte ihm nach Wissen und nicht nach Geschichten. Als Erster durchquerte er den Wald, tat es danach immer wieder und es gab auch nach ihm niemanden, der den Wald der Fälle besser kannte. Tatsächlich war dieser am Rand sehr dicht, doch es gab viele andere Wälder, bei denen es nicht anders war. Hatte man diesen äußeren Ring erst einmal durchdrungen - was allerdings fünf Tage dauerte - war der Wald sogar recht licht, die Sonne durchflutete ihn mit seinen Strahlen und wärmte dem Wanderer Gesicht und Gemüt. Joaho fand keine Pflanzen, die er nicht schon kannte und die Bäume waren, wenn sie denn etwas anderes taten als nur dazustehen, äußerst freundlich. An jedem Morgen seiner Expeditionen wurde er durch fröhliches Vogelgezwitscher geweckt. Dann richtete er sich auf und atmete tief durch, denn auch diese Luft war sehr nahrhaft, wenn auch nicht durch sich selbst, sondern weil sie einen leckeren Hunger
förderte und Joaho so jeden Morgen mit einem kräftigen Frühstück begann.
Schließlich hörte er nach vielen Tagen ein leises Flüstern, das, je näher er ihm kam, zunächst zu einem Zischen, dann zu einem Rauschen und schließlich zu einem wilden Brausen wurde und so erreichte er das steinige Ufer eines Flusses. Er brauchte einige Tage um zu erkennen, dass er den Ach-Horenn vor sich hatte, der, wenn er das Moor verließ, wieder zu einem mächtigen Strom wurde Schnell war er hier, denn er floss wild schäumend durch ein schmales und tiefes Felsbett und riss alles mit sich mit. Zumindest glaubte Joaho dies zu Anfang, weil er da noch nicht dessen wahres Wesen kannte. Denn versuchte jemand den Fluss dort zu durchschwimmen, dann verlangsamte der Ach-Horenn seine Wasser, bis jener, egal ob Elf oder Tier, sicher das andere Ufer erreicht hatte.
Zunächst kostete Joaho das Wasser und da kam
ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass er den Ach-Horenn vor sich hatte, denn es schmeckte so kalt und köstlich, wie er es kannte, denn er stammte aus Röppen, einer der ältesten Städte am Fluss in der, wie es erzählt wird, auch Dihanech* geboren wurde und seine Jugend verbracht hat, bevor er hinaus in die Welt zog um alles zu lernen.
Eine lang Zeit blieb Joaho am Ufer des Flusses sitzen und beobachtete, wie er floss. Dabei sah er viele Fische und keine Art war ihm unbekannt. Nur waren nicht wenige sehr viel größer, als er sie kannte und sie tummelten sich im Wasser, als sei es ihnen einen große Freude. Da lächelte Joaho, stand auf und ging weiter, nicht weil er glaubte nun alles über Fische zu wissen, sondern weil er verstanden hatte, dass ein Elfenleben nicht ausreichte um alles über sie zu lernen. Er ging am steinigen Ufer entlang, denn der Fluss interessierte ihn nun mehr als der Wald. Immer wieder blieb er stehen und
lauschte seinem Rauschen, welches sich ohne Unterlass veränderte, aber nie unfreundlich wurde. Außerdem schien das frische Wasser alles zu beleben, was um den Fluss herum war und überrascht stellte Joaho fest, dass er an einem Tag eine sehr viel größerer Strecke zu Fuß zurücklegte, als ein Reiter in einer flachen Ebene. Bei Sonnenuntergang hüllte er sich in seine Decke und wenn die aufgehende Sonne ihn am nächsten Morgen weckte, war er ausgeruht und munter und das, obwohl es Sommer war und er nicht mehr als vier Stunden geschlafen haben konnte. So ist es nicht verwunderlich, dass Joaho der erste war, der begann die Freundlichkeit des Ach-Horenn zu begreifen und erahnte, welch ein Segen er für alle Elfen war. Darum fürchtete er auch nicht, nur eine einzige Sirene anzutreffen.
- Fortsetzung folgt -
* Dihanech = Sagenhafter Gelehrter der Elfen.