Kapitel 59 Fieber
Sie hatten Naria verloren. Der Gedanke schien sie jeden Tag ihrer Reise zu verfolgen. Fast noch mehr als die ewige Kälte an die sie sich schon fast gewöhnt hatte. Fast. Vielleicht war es auch einfach nur das sie ihre Füße nicht mehr spürte und gar nicht wissen wollte, wie diese unter Lumpen und auseinanderfallenden Schuhwerk aussahen. Der Weg über die Berge war beschwerlich gewesen, doch nichts hatte sie auf die gefrorenen Einöden vorbereitet, die jenseits von Silberstedt lagen. Schnee erstreckte sich in alle
Richtungen soweit das Auge reichte, eine rein weiße Schicht deren gefrorene Oberfläche unter ihren Füßen einbrach, so dass man sich für jeden weiteren Schritt erst wieder frei kämpfen musste. Blaue Eissäulen, die wie uralte Ruinen aus der Landschaft hinaus ragten stellten neben vereinzelten Hügeln und Bergen aus dunklem, schwarzem Granit die einzigen Orientierungspunkte da. Dörfer oder gar Städte hingegen gab es hier draußen nicht mehr und das einzige Zeichen von Leben, das sie sahen waren vereinzelte Vögel oder Herden von ausgezehrten Rentieren, die jedoch bereits vor ihnen davon liefen, wenn sie sich nur etwas näherten. Nur einmal
waren sie auf einen einzelnen Jäger gestoßen, einen Mann der in schwere Pelze gehüllt gewesen war und ein Gewehr über der Schulter trug. Auch wenn er die zwei Fremden zuerst skeptisch beäugt hatte, hatte er sich doch schließlich mit ihnen unterhalten, auch wenn sein Akzent verriet, dass er die Amtssprache wohl nicht sehr oft sprach. Hier draußen hatten die alten Dialekte der Stammesfürsten und Nomadenclans noch überlebt, doch auf die Frage nach den Eisnomaden hatte auch der Jäger nur mit dem Kopf geschüttelt. ,, Nie gesehen. Und wenn man sie sieht ist man meist ohnehin tot.“ , erklärte er. ,, Sind wie Geister da
draußen. Sie frieren nicht in Schnee wie wir, sie schlafen sogar darin und bauen ihre Häuser daraus. Und wenn ihr mir alles Gold anbietet das es in Canton gibt, ich würde nicht zu solchen Leuten wollen. Sind gefährlich…“
Das war allerdings auch alles, was er ihnen dazu sagen konnte. Letztlich konnten sie jedoch einen Teil ihrer knapper werdenden Vorräte gegen ein paar Felle eingetauscht, die Wärmer hielten als ihre bereits deutlich mitgenommenen Umhänge. Und das war bald auch bitter nötig. Es gab hier draußen nur wenige Wälder oder Bäume und manchmal vergingen zwei oder drei Tage ohne, das sie Holz fanden. Und so
fanden sie sich des Nachts oft ohne Feuer wieder und konnten sich in der Kälte und Dunkelheit ihres Zelts nur aneinander schmiegen und auf den Morgen warten, der keine Wärme brachte.
Hinzu kam noch, das Galren wieder begonnen hatte zu Träumen, dessen war Elin sich sicher. Manchmal schien er im Schlaf mit sich selbst zu reden und seit einigen Tagen scheinbar auch wenn er wach war, sein Blick war oft glasig und schien in die Ferne zu gehen. Irgendwo weit weg…
Und hier draußen gab es nichts, was ihn von ihrem Einfluss ablenken konnte und ohne Naria waren ihre Vorräte an
Tinktur schon vor einem halben Mond zu Ende gegangen. Es zehrte an seinen Kräften und obwohl sie kleiner war, ihre Füße erfroren und ihr genau so kalt, fiel er bald auf ihrem Weg immer wieder hinter sie zurück. Und dann kam schließlich der Tag an dem sie nicht weiter konnten.
Elin blinzelte ins trübe Licht das ins Innere ihres Zelts fiel. Eigentlich war es kaum mehr als eine simple , große Decke, die den Wind nur notdürftig abhielt und auf einer Reihe von Stöcken ruhte. Und manchmal hatte sie schon darüber nachgedacht auch diese einfach zu verbrennen und sei es nur um es noch etwas länger warm zu haben. Vorsichtig
setzte sie sie auch und sah sich im Halbdunkel um. Ganz aufzustehen war nicht möglich, davor hing die Plane über ihrem Kopf zu niedrig. Stattdessen kroch sie ein Stück von ihrem Lager fort in Richtung Ausgang und spähte nach draußen. Gestern Abend hatte noch ein Schneesturm getobt. Oder vielleicht war es auch erst Nachmittag gewesen, dachte sie. Hier oben wurde es zu schnell dunkel. Jedenfalls hatten sie ihr Lager in völliger Dunkelheit aufgeschlagen. Nun jedoch konnte sie Bäume sehen. Nur vereinzelt stehende knochige, tote Dinger, aber immerhin Feuerholz… Und noch etwas anderes, aber sie wagte ihren Augen nich zu
trauen.
Mauern…
Ihr Zelt lag am Rand des Wäldchens auf einer Anhöhe. An deren Fuß jedoch erstreckten sich die Grundmauern dutzender Gebäude, bis hin zu einer hohen Felswand aus dunklem Gestein. Die Umrisse eines hohen Eingangs waren in den Stein geschlagen worden, doch dahinter schien nichts als Finsternis zu liegen. So fasziniert Elin von dem Anblick vor ihr war, dieser Ort stieß sie auf eine nicht gekannte Art ab. Mehr als die Katakomben unter der Stadt der Zwerge oder die Dunkelheit in den Archiven im roten Tal. Nein. Damals war es ihr leicht gefallen unbekümmert
an das ganze heran zu gehen doch irgendetwas an dieser Stadt war anders. Bösartig… Wie ein Schatten, der sich nicht heben wollte.
Sie würden sich den Ort später ansehen, dachte sie. Oder besser einen großen Bogen darum machen. Elin wich zurück ins Zelt und drehte sich nach Galren um, der immer noch unter den Decken lag und sich bisher nicht gerührt hatte. In einem Anflug ihrer alten Fröhlichkeit setzte sie sich auf ihn und rüttelte ihn an den Schultern.
,,Aufwachen, Schlafmütze, sieh dir das…“ Ihr Lächeln gefror und verschwand. Galren glühte… Sie konnte die Hitze selbst durch den Stoff der
Decken hindurch spüren. ,, Galren ?“
Es schien ihn unglaubliche Mühe zu kosten, auch nur die Augen zu öffnen und als er es schließlich tat, blickten sie müde und glasig, seine Haut war verschwitzt.
,, Hey….“ Er versuchte zu Lächeln auch wenn es eher wie eine Grimasse wirkte. ,, Ich glaube nicht, das ich aufstehen kann.“ Trotz des Fiebers waren seine Worte vollkommen klar, vollkommen deutlich. ,, Tut mir leid.“
,, Geister, hör bloß auf dich zu entschuldigen.“ So schnell sie konnte, kletterte sie wieder aus dem Lager, suchte alles, was sie noch an Brennmaterial finden konnte zusammen.
Sie konnte so nicht weiter, das war auch ihr klar. ,, Ich mache Feuer und… „ Ihre Gedanken rasten. Wir haben keine Medizin.“ Nicht ohne Naria. ,, Aber ich kann Wasser heiß machen und…“
,,Elin…“ Galren setzte sich langsam auf, auch wenn selbst diese simple Tätigkeit ihn gewaltige Anstrengung zu kosten schien. Selbst sitzend schwankte er und sie konnte sehen, dass er zitterte. ,, Du musst weiter suchen.“
,, Ich bezweifle, dass dieser Seher hier in der Nähe ist, Galren.“ Sie wusste was er eigentlich sagen wollte. Doch gleichzeitig weigerte sie sich auch nur einen Moment darüber nachzudenken. As wäre weder fair noch… würde sie es tun.
Ganz einfach. ,, Eigentlich wäre zu erwarten, dass jemand der die Zukunft kennt zu uns kommt, oder ?“
,, Ich glaube nicht das es so funktioniert, Elin.“ Er versuchte sich an einem Lächeln das schlicht nicht echt wirken wollte. ,, Hör zu, ich kann nicht…“ Galren hustete. Sie hatten beide hier draußen schon damit zu kämpfen gehabt, Elin selbst hatte sich ein paar Tage fiebrig gefühlt, bis es wieder verflogen war. Doch dieses Mal klang sein Husten wie der eines scheinbar viel älteren Menschen und er barg den Kopf in der Armbeuge. Trotzdem reichte es nicht, damit er die dunklen, rötlichen Sprenkel vor ihr verbergen konnte, die
nun auf seinen Lippen und seiner Haut glänzten. ,, Ich komme nicht mehr weiter. Aber du.“
,, Galren, du wirst schon wieder gesund.“ Sie wusste, wie unwahrscheinlich das hier draußen war, dennoch wollte sie es nicht zugeben. Nicht so schnell, nicht so… einfach. ,, Ein paar Tage Ruhe nur. Wir haben noch Vorräte…“
,, Für eine Woche. Elin, sehe ich aus wie jemand der in einer Woche wieder laufen wird?“ Nein, dachte sie. ,, Hör zu… es gibt die Möglichkeiten. Du bleibst und ich stecke dich an. Dann sterben wir wirklich beide. Oder du bleibst du ich erhole mich wieder. Dann haben wir
keine Vorrätemehr und sterben auch. Oder du gehst alleine weiter.“ Obwohl er derjenige war, der vom Fieber heimgesucht wurde, waren seine Worte selten klarer gewesen. ,, Ich sage das nicht nur weil ich will das du hier weg kommst, Elin. Das ist auch meine einzige Chance. Bitte. Finde den Seher und vielleicht findest du auch andere Leute. Jemanden der auch mir helfen kann.“
Aber er glaubte nicht daran, das konnte Elin ihm anhören. Und wie lange würde er hier draußen überleben, wenn sie jetzt aus dem Zelt trat? Eine Nacht ? Zwei ? Und vielleicht wollte er das auch gar nicht. Es hing unausgesprochen zwischen
ihnen, doch Galren klammerte sich nicht ans Leben. Nicht mehr. Nicht seit dem sie aus der fliegenden Sta6td aufgebrochen waren.
Elin wusste, er würde sie nicht bleiben lassen. Und sie wusste auch, dass er recht hatte Ihre beste Chance wäre es, jemanden zu finden, Seher oder nicht, der ihnen vielleicht Unterschlupf gewähren konnte.
,, Wenn ich gehe… versprichst du mir das du alles tun wirst um am Leben zu bleiben ?“ Einen Moment lang gab es zwischen ihnen nur betretenes Schweigen. Sie wussten es beide, aber das war das erste Mal, das Elin es offen aussprach. Sie fürchtete um ihn, nicht
nur wegen der Krankheit.
Und dann schließlich nickte Galren. ,, Du weißt nicht worum du bittest… aber gut. Solange ich kann. Aber nur wenn du jetzt auf brichst…“
Sie wusste nicht worum sie bat? Doch, hätte sie ihm am liebsten gesagt. Doch. Sie verlangte von ihm, dass er sich den Dämonen stellte, die ihn schon bei klarem Verstand heimsuchten und die nun im Fieberwahn noch mehr nach ihm griffen. Und am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und an sich gedrückt und alles wieder vergessen. Und vielleicht hätte das wirklich etwas geändert, vielleicht wären sie dann beide hier geblieben. Elin zwang sich nichts
dergleichen zu tun. Stattdessen entfachte sie mit den Überresten der letzten Nacht ein kleines Feuer und trat ohne ein weiteres Wort nach draußen. Einfach so zurück lassen würde sie ihn auch nicht. So schnell sie konnte, klaubte sie Holzstücke und Äste von den Bäumen in der Nähe zusammen und brachte alles zurück zum Zelt. So würde er zumindest für ein paar Stunden nicht erfrieren, vielleicht auch einen Tag. Ein Tag war viel Zeit sagte sie sich. Vielleicht konnte sie bis dahin auch wieder zurück sein. Als Elin schließlich ihren Rucksack mit den restlichen Vorräten schulterte, war Galren bereits wieder in die Felle gesunken, warf sich murmelnd hin und
her, träumte, schief… oder starb. Elin verbot sich darüber nachzudenken, was davon zutreffen mochte. Sie würde die nähere Umgebung und die Ruinenstadt absuchen und dann zurückkommen, schwor sie sich. Schweren Herzens trat sie schließlich von dem Zelt zurück und machte sich auf den Weg den Hügel hinab in Richtung der Überreste. Eine verfallene Straße schlängelte sich durch den Schnee den Berg hinab, nur noch erkennbar an vereinzelten, behauenen schwarzen Steinen die aus dem Weiß hinaus ragten. Und die ganze Zeit über wehte der Wind in ihren Rücken und trieb Schneeschleier mit sich, die sowohl das Zelt als auch die Wälder bald außer
Sicht geraten ließen. Hoffentlich gäbe es keinen zweiten Sturm. Nicht nur das sie ihre Suche dann aufgeben müsste um Schutz zu finden, Galren hätte keine Möglichkeit das Zelt irgendwie zu befestigen. Und auch die Häuser und Bauwerke der alten Stadt boten keinen Schutz. Der Luftzug zwischen den zerfallenen Gemäuern erzeugte einen hohen Pfeifton, der bald begann in ihren Ohren zu schmerzen. Geborstene Säulen lagen quer auf der Straße, die hier unten in besseren Zustand war und direkt in Richtung der dunklen Felswand zu verlaufen schien. Egal was geschah, Elin hatte nicht vor herauszufinden, was in den Schatten hinter dem in den Stein
geschlagenen Tor lag. Stattdessen bog sie von ihrem bisherigen Pfad ab und folgte einem Quer verlaufendem Weg der aus der Stadt hinaus und zurück in die weiße Einöde führte. Soweit sie sehen konnte gab es kein Zeichen von Leben und der Wind, der beständig Schnee aufwirbelte machte die Sache nicht besser. Wenn das so weiter ging würde sie bald kaum die Hand vor Augen erkennen können. Einen Moment war sie versucht zum Zelt zurück zu laufen solange das überhaupt noch möglich war. Aber Galren hatte auch Recht, das wusste sie. Den Seher zu finden war ihre einzige Chance und mit ihm vielleicht auch andere Menschen. So klein diese
Hoffnung auch war, sie hatte nicht vor sie aufzugeben…
Halt mir nur durch, sonst verzeih ich dir das nie, dachte sie als sie über die Stadt in die Richtung zurück sah in der ihr Zelt liegen musste. Die ganze Sinnlosigkeit und Absurdität dieses Gedankens brachte sie zum Lachen, aber vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben klang es nicht echt…