Der Ach-Horenn - 1. Teil
Anmerkung: Diese Erzählung ist Teil der Kosmogonie einer fantastischen Welt. In ihr leben als menschengleiche Gestalten die Elfen. Die Sirenen sind ihr Todfeinde, körperlose Wesen, die in stillen Wassern hausen.
Genre: Fantasy
Länge: 6 Teile
Seit dem Werden der Welt herrschten die Sirenen über die Wasser und die Elfen fürchteten sich sehr vor allem Nass, hatten sie es nicht in Fässern, Trögen, Wannen, Kannen oder Töpfen vor sich. Doch dereinst zog ein großer Fluss seine Bahnen durch das Land, über den die Sirenen oder einer ihrer bösen
Verbündeten keine Macht hatten, ja, den sie selbst noch mehr fürchteten, als sie von den Elfen gefürchtet wurden. Denn lange war er der Vater von allem was wächst und in seinem Rhythmus erkannten die Weisen den Zyklus des Lebens. Langsam, abwartend und betrachtend war dieser Rhythmus und Veränderungen brauchten oft an die dreißig Jahre und später war allen eine Zeitspanne von achtundzwanzig, neunundzwanzig oder dreißig Jahren das, was sie einen Zyklus nannten. Und der Name dieses großen Flusses war Ach-Horenn.
Niemand war je bis zur Quelle des Ach–Horenn gekommen, obwohl nicht Wenige versuchten, den Ursprung des großen Flusses zu ergründen. Keiner von ihnen kehrte je zurück. Das ließ manche glauben, dass das Quellgebiet in einem furchteinflößenden Landstrich liegen müsse und alle Forscher ihre lästerliche Neugier in den Tod geführt habe. Doch die meisten - beseelt von dem Leben,
welches die Wasser im weiteren Verlauf des Ach-Horenn spendeten - waren der Ansicht, dass dort, wo der große Fluss aus der Erde trat, ein Paradies seine müsse, mit dem süßesten Wasser, einem stets gedeckten Tisch und umgeben von dem ursprünglichen Frieden der Welt, der schon lange verlorengegangen war. Doch hatte nie ein Auge der Elfen die Quelle gesehen. Und so wusste keiner, ob der Ach-Horenn in einem Gebirge entsprang oder einfach aus der Erde gluckerte, klein und wenig bedeutend, aber doch schon so klar, frisch und lebendig, wie man ihn kannte und schätzte. Oder ob zwei oder drei kleinere Flüsse sich irgendwo vereinigten, ihre Kräfte sammelten und zusammenschlossen und auf diese Weise den schönen Fluss schufen. Die Legenden sprossen bis in die Tage, da der Letzte der Elfen, damals schon ein Mensch, das Land verließ und nach Westen zog.
Nur einen dunklen Ort gab es an dem Fluss und
dies war just die Stelle, von der an man seinen Verlauf kannte. Am rechten Ufer erhob sich ein Hügel, der nur spärlich bewachsen war, mehr mit Moosen als mit Gras. Ohne Unterlass blies hier ein kalter Ostwind und zerrte solange an den Sträuchern, die hier zu wachsen versuchten, bis sie aufgaben und eingingen oder er sie mit den Wurzeln herausgerissen und fortgeweht hatte.
Ein einzelner Baum stand auf der Kuppe des Hügels. Er war alt, knorrig und verwachsen, einer großen Kastanie nicht unähnlich, aber hässlich und bedrohlich. Seine Rinde schillerte goldgelb und von Weitem glaubte man, der Stamm sei mit Honig überzogen. Doch kam man näher, stieg einem ein übler Geruch in die Nase und wer so töricht war, die Hände auszustrecken, um nach dem Baum zu greifen, der bekam die stinkende Masse auch nach tagelangem Waschen nicht von den Händen. Die Blätter waren grün, jedoch so dunkel im Ton,
dass sie, sobald die Sonne hinter einer Wolke verschwand, ganz schwarz schienen und in der Nacht sah man sie gar nicht. Dass der Baum überhaupt Blätter hatte, erkannte man dann nur an dem bedrohlichen Rascheln, wenn der Wind durch die krummen Äste fuhr, an dem dunklen Blattwerk zerrte, jedoch bald aufgab und sich jaulend davonmachte.
Doch ließ der Wind einmal nach und nur ein laues Lüftchen wehte, dann, so wird erzählt, konnte man, wenn man ganz still unter dem Baum stand, ein leises Flüstern vernehmen. Und wenn man sehr viel Glück hatte, konnte man aus diesem Flüstern die Namen derer heraushören, die in den nächsten drei Monaten sterben würden. Zu jener Zeit war die Lebensspanne eines jeden Elfen jedoch noch so groß, dass noch kein einziger eines natürlichen Todes gestorben war. Nur gewaltsam oder durch einen schrecklichen Unfall konnte also das Leben in jenen Tagen beendet werden.
Und wenn man ganz viel Pech hatte, flüsterte der schreckliche Baum einem den eigenen Namen zu.
Dieser Hügel war die eine Grenze dessen, was man den wilden Oberlauf des Ach-Horenn nannte. Zwar war dieser Teil den Elfen ganz gut bekannt, doch leben wollten hier nur wenige. In weiten Bögen mäanderte der Fluss durch das Land und in keinem Jahr war er an der gleichen Stelle zu finden. Ungezügelt waren die Wasser des wilden Oberlaufs und oft trat der Fluss über die Ufer, überschwemmte das Land und an manchen Stellen drang er bis an den Fuße der Spagoron vor, jenes Gebirge, von dem Kander*, als sie auf dessen höchsten Berg Separ stand und nach Osten blickte glaubte, es grenze an ein Meer, dabei war das, was sie sah, der Ach-Horenn, der über die Ufer getreten war, um ihr der rechten Weg zu weisen. Denn es war wahr, was die Elfen sich erzählten, nämlich dass dieser Fluss seinen eigenen Willen hatte.
Viele versuchten ihn zu ergründen und einige hörten ihr ganzes Leben lang seinem Rauschen, Plätschern und Fließen zu, doch verstehen konnten sie sein Wesen nicht, weil die Wasser selbst entscheiden, mit wem sie sprechen und mit wem nicht. Und der Ach-Horenn liebte es zu schweigen und seinerseits die Elfen zu beobachten, auch wenn ihm nicht alles gefiel, was er sah.
Wenn sich nun das Wasser, nachdem es das Land überschwemmt hatte, wieder zurückzog, blieb keine Wüstenei zurück. Stattdessen blühte dort das Leben. Unzählige Blumen, Gräser und Farne sprossen aus der Erde und wuchsen schnell und schön, denn sie wussten, dass spätestens in einem Jahr das Wasser zurückkehren würde. Die Namen jener Pflanzen hingegen sind vergessen. Schon in jenen Tagen hätten nur wenige sie benennen können, auch weil so viele unter ihnen waren, die man sonst nirgends sah. Sie waren zwar groß oder klein,
zahlreich oder nur wenige, doch ihre Farben waren so prächtig, wie sie nie mehr irgendwo in der Welt sein sollten und es gab sogar solche, die nächtens strahlten. Die Gräser und Farne waren wie überall in der Welt grün, doch verbreiteten sie einen betörenden Duft, der jeden innehalten ließ, denn er war süß und sauer, salzig wie eine warme Seebrise, kräftig wie frisch geerntetes Gemüse und würzig wie gut abgehangenes Fleisch. Und ohne auch nur einen Happen zu essen, wurde man durch diesen Wohlgeruch satt und verspürte tagelang keinen Hunger.
Auf den Moosen, welche den Boden bedeckten, versank ein Wanderer bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln und sie waren weicher als der vortrefflichste Teppich, der je von Meisterhänden geknüpft worden war. Dabei fühlte man sich ganz leicht und glaubte, tagelang gehen zu können, ohne auszuruhen zu müssen und dem war auch so. Allerdings konnte
es passieren, dass empfindlichen Seelen bei einem solchen Spaziergang die Luft wegblieb, weil diese herrlichen Moose einem die Fußsohlen kitzelten und wer nicht anders konnte, der musste lachen, bis ihm die Tränen kamen oder er sich den Bauch halten musste oder beides. Dann blieb einem nichts anderes übrig als stehen zu bleiben und nach Luft zu schnappen. Dann kam man zwar nicht mehr vorwärts, doch in einem solchen Fall wussten die meisten sowieso nicht, ob sie tief Luft holen oder weitergehen sollten, denn ganz gleich was man tat, jeder befürchtete, eines von beiden zu vernachlässigen.
Das Ende des wilden Oberlauf bildete ein großes Moor, in dem der Ach-Horenn sich zu verlieren schien und tatsächlich hätten dort nur wenige den Fluss wiedergefunden und wenn nur aus dem Grund, dass sich selten jemand dorthin wagte. Doch alle Furcht war unbegründet, denn kein Tier, das sich in jenes Moor begab,
verschwand darin für immer, es sei denn es wollte es so. Jedem der sich dort verirrte, half der Fluss wieder hinaus und dies tat er nicht aus Langeweile, sondern wegen der Freundlichkeit die ihm zu eigen und hier am stärksten war. Denn das Moor barg Gefahren. Es gab modrige Tümpel, die so tief wie die Welt alt waren. Überall wollte es übel nach Verderben riechen, doch wo er konnte, wehte der Ach-Horenn diesen Gestank mit einem Schwall frischen Wassers davon. Deshalb gab es in diesem Moor immer eine starke Strömung, was jedoch kaum jemand bemerkte, weil die in viele Richtungen gleichzeitig wirkte. Und da er viel Wasser hatte und aufmerksam war, hatte der Fluss ein waches Auge auf alle Lebewesen, die in dem Moor umherirrten und er führte sie immer auf sicheren Pfaden dorthin, wo sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Die Tiere waren dann froh und eilten davon, ohne noch einmal zurückzuschauen, doch die
Elfen, die nicht verstanden, was gerade geschehen war, drohten dem Moor und schüttelten die Faust, verfluchten den verderblichen Gestank und die Verwünschungen mancher trafen dann auch den Fluss, der sie gerade gerettet hatte. Wer jedoch begriff, was mit ihm geschehen war, der blieb stehen, übersah das üble Moor und dankte dem Ach-Horenn und hielt seinen Namen in Ehren.
- Fortsetzung folgt -
*Kander = Kander ist die mythische Schmiedin, die das erste sagenhafte Langschwert schmiedete. Die Erzählung darüber ist unvollendet.