Kapitel 57 Letzter Brief
Die Waffe bot einen ehrfurchtgebietenden Anblick. Auf einem simplen, drehbaren Rahmen auf Holz aufgebaut funkelte einem der Tod aus hundert Mündungen entgegen, die alle auf einer gemeinsamen Achse montiert waren. Feuerte eines der Geschütze, setzte der Druck der Explosion eine Feder in Gang, die direkt das nächste an seine Stelle rückte. Es dauerte ewig, eine dieser Waffen wieder nachzuladen, doch feuerten sie einmal, blieb in ihrem Schussfeld nur Tod und Zerstörung zurück, wenn eine Unzahl
schwerer Bleikugeln durch die Luft segelten. Eine einzige Salve konnte eine komplette Abteilung Soldaten in die Flucht schlagen und dabei dutzende von Opfern fordern. Zerstörung, die man sonst nur einem Magier des Ordens zutraute aus den Eingeweiden einer Maschine.
Syle hatte den Aufbau der Salvengeschüzte überwacht. Lange hatten sie in den Arsenalen der fliegenden Stadt geschlummert und eigentlich hatte sich der Bär nie träumen lassen, sie einmal einsetzen zu müssen. Der Palast und die Stadt selbst galten eigentlich als uneinnehmbar… Doch wenn es nötig war verfügten sie hier über die
zerstörerischen Waffen, die die Arsenale der kaiserlichen Armee hergaben. Je ein dutzend Maschinen standen nun an jeder Seite der Stadt bereit, genauso wie auf den Türmen des Palastes, so wie hier. Unter normalen Umständen hätte alleine die Feuerkraft dieser Geschütze ausgereicht um wohl jeden Feind innerhalb von Augenblicken in die Flucht zu schlagen, während sich die Luft um sie herum mit Blei füllte. Und das war ohne das eine einzelne Muskete oder Kanonen abgefeuert worden wäre. Doch das hier waren keine normalen Zeiten und ihre Gegner verfügten über Magie. Sehr viel mehr und stärker als alles, was der Orden hervorbringen
konnte.
Nein… so bedrohlich die neuen Waffen waren, Syle bezweifelten das es ausreichen würde, während er über die Dächer der Stadt hinaus sah. Der Himmel war klar und die Sonne schien auf die breiten Straßen und Plätze hinab, welche die schwebenden Inseln um den Palast herum durchzogen. Der Schnee schmolz langsam auf einer Unzahl Dächer und in den großen Parks, die nun nur noch von dürren, laublosen Bäumen und braunem, toten gras bestanden waren. Kleine Ströme aus Schmelzwasser flossen über die Rinnsteine und durch Abflüsse im Fels über die Ränder der Stadt hinaus. Beständig fielen Tropfen
von den noch gefrorenen und von Eis überkrusteten Zinnen des Turms herab auf dem Syle sich befand und der kalte Wind ließ ihn trotz der mit Wolle gefütterten Uniform und seines eigenen Pelzes schaudern. Einzelne Schneeflocken trieben noch immer durch die Luft und verfingen sich auf den verbrämten Ärmeln und dem Kragen des blauen Offiziersmantels den er trug. In goldenen Fäden gestickt prangte das Wappen des Kaisers auf den Aufschlägen und am Rücken des Mantels, Adler und Löwe. Gejarn und Menschen, dachte er bei sich. Vereint nicht getrennt. Auf eine Weise symbolisierte sein hier sein genau das. Kaiser und
Hochgeneral… Und dieses Mal würden sie ein Schicksal teilen.
Der Mann neben ihm schien seine Gedanken zu teilen. ,, Unsere Verteidigung ist so lückenlos wie sie sein kann, wenn man bedenkt wie wenige wir sind, Herr. Und dennoch…“
Der Hauptmann der Garde war von Syle persönlich ausgesucht worden. Ein Mensch mittleren Alters, dessen Haar an den Schläfen bereits zu ergrauen begann. Ein roter Schnurbart dessen Enden nach oben geflochten waren sorgte dafür dass sein Gesicht immer wirkte, als sollte er eigentlich Lächeln. Doch die tiefen Falten auf seiner Stirn sprachen eine andere
Sprache.
,, Aber wir werden den Palast halten.“ , versprach er. ,, Niemand hat je die Garde geschlagen, wenn sie hier kämpfte. Und trotzdem wäre es mir lieber zu wissen, dass der Kaiser nicht hier wäre. Ihr kennt ihn besser als ich, Hochgeneral. Aber er sollte nach Vara gehen, solange noch Zeit dafür ist. Noch sind die Armeen des Herrn der Ordnung weit genug weg, noch gibt es einen Korridor nach Vara. Er hat keine Erben mehr… Es gefällt mir nicht.“
Nein, dachte Syle. Wenn Kellvian starb wäre seine Linie am Ende. Und das sie alle der Tod erwartete darüber machte sich hier keiner mehr Illusionen, er
genau so wenig wie der Kommandant der Leibgarde.
,, Mir wäre bei diesem Gedanken auch wohler, glaubt mir. Aber Kellvian glaubt zu tun, was er tun muss. Und ich habe nicht vor ihn was dies angeht in Frage zu stellen.“
,, Meine eigene Familie ist schon auf dem Weg dorthin.“ , meinte der Hauptmann leise und Syle sah das erste Aufblitzen von Zweifel in seinen Augen.
,, Fürchtet ihr sie nie wieder zu sehen ?“ Von hier oben konnten sie auch die Palastgärten überblicken die nach dem ersten Frost und Schnee genauso öde und verlassen dalagen wie die Parks in der fliegenden Stadt selbst. Syle konnte
nicht behaupten, dass er die Befürchtungen des Mannes so leicht nachvollziehen konnte. Er selbst hatte keine Familie. Oder zumindest keine mehr, die ihn anerkennen würde. Während der Aufstände der Clans unter Konstantin Belfares Herrschaft hatte man ihn verstoßen. Kellvian, Jiy und Janis und Quinn… das war seine Familie, dachte er auch wenn er ihnen das niemals sagen würde oder könnte. Nicht mehr. Er war der Hochgeneral, sie die Herrscher und Quinn Meister der Magier.
,, Ich fürchte, dass wir nicht standhalten werden, Herr. Ja ich gebe zu ich denke darüber nach ob s nicht besser wäre, meinen Posten zu verlassen, selber nach
Vara zu gehen. Jeden Tag. Wenn wir uns hier nicht halten können… ich würde es mir nicht verzeihen dann wenigstens nicht bei ihnen gewesen zu sein, versteht ihr? Und doch wenn ich das tuen würde… ich würde mich für den Rest meines Lebens fragen ob es nicht einen Unterschied gemacht hätte, wenn ich hier gewesen wäre. Mein Verstand gehört dem Kaiser, aber mein Herz… “
Syle verstand nur zu gut. ,, Euer Herz gehört euch. Kein Mann kann mehr von euch verlangen. Ich kenne das Gefühl. Und ich kann euch sagen es wird nicht besser werden falls wir verlieren und die nächsten Tage überleben.“ Nein… Er war nicht da gewesen um Janis zu schützen,
er war nicht da gewesen um Lucien zu retten. Dieses Mal nicht. Sein Dilemma war das gleiche wie das des Hauptmanns. Wie hieß es doch? Behandle deine Soldaten wie deine Söhne und sie werden dir bis in den Tod folgen. Vielleicht war das genau sein Fehler, dachte Syle. Das er sonst keine Familie hatte. Jeder dieser Männer die er in den Tod schicken musste war ein Kind für ihn… ,, Egal was ihr tut… beides ist falsch. Und beides richtig.“
Und doch würde er bleiben, das konnte Syle ihm ansehen, noch bevor er kurz vor ihm salutierte.
,, Nein Herr… mein Herz will dorthin, mein Verstand woanders hin. Aber
mein Körper bleibt genau hier, in dieser Stadt. Und ich fürchte für immer.“ Diese Männer waren Loyal, egal was sie dabei verloren.
Syle verabschiedete sich von dem Mann und trat von der Plattform des Turms hinab. Eine Öffnung im Boden bildete den Zugang zu einer langen, gewundenen Treppe, die über Erkerfenster und Balkone hinab in die Räume des eigentlichen Palastes führte. Die Verteidigung der Stadt stand bereit. Sonst gab es nichts mehr zu tun für ihn, außer zu warten. Und so machte er sich schließlich auf den Weg
In Richtung Thronsaal in der Hoffnung Kellvian dort zu finden.
Die große Halle lag verlassen und Still da, als er sie fand. Nur das leise, kaum wahrnehmbare Summen der Kristalle erfüllte den Raum zusammen mit dem Echo seiner eigenen Schritte. Der Bernsteinthron war verweist, das Licht das den Raum durchflutete brach sich an tausenden von Staubfocken die darin wie Gold glitzerten. Syle sah auf zum Gemälde des Abendhimmels an der Decke und fand es selten so passend wie in diesem Augenblick. Sie standen in der Abenddämmerung des Kaiserreichs. Die bevorstehende Schlacht würde ihr aller Schicksal entscheiden. Syle wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden, als er
doch ein Geräusch hörte. Ein Stück Papier, das scheinbar aus dem Nichts hinter dem Thron hervorflog und über den Boden rollte. Der Bär blinzelte einen Moment irritiert, bevor er näher trat.
Kellvian Belfare saß auf dem Boden hinter dem Thron an die Rückenwand des Marmorsockels gelehnt, welche die Konstruktion hielt. Tine und Feder standen neben ihm auf dem Boden und auf dem Schoß hatte er einen ganzen Stapel leeres Papier. Nachdenklich tippte er mit der Feder gegen die untere Ecke eines der Papierbögen und zeichnete dabei eine Linie aus dünnen Tintenpunkten. Ein paar Zeilen waren
bereits am oberen Ende entstanden, doch kaum genug für einen Brief.
,, Was tut ihr da, mein Herr ?“ Er musste Syle wohl schon bemerkt haben, den weder zeigte er sich überrascht noch versuchte er irgendwie sei Werk zu verbergen. Ohne aufzusehen überflog er die wenigen eilen die er bereits geschrieben hatte. Ein Dutzend weitere Papierknäule, ähnlich dem das er zuvor fortgeworfen hatte lagen bereits um ihn herum auf dem Boden verstreut.
,, Schreiben. Und einmal in meinem Leben werde ich das keinem Schreiber anvertrauen, mein Freund… Nein… Und hier hat mich bisher niemand gefunden. Außer
euch.“
Syle verstand langsam, an wen diese Worte gerichtet sein würden. Jiy. Natürlich Jiy. ,, Verzeiht, Herr, aber das ist nicht sehr kaiserlich von euch.“
Kellvian lächelte dünn. Wie er so am Boden saß, beide Beine von sich gestreckt, erinnerte er Syle wieder an den Jungen den er einst durch die halben Herzlande gejagt hatte. Ein naiverer, jüngerer… aber wohl auch glücklicherer Kellvian.
,, Und wer wäre hier um es zu sehen ? Nur ihr.“ , meinte er, während er die Feder wieder ins Tintenfass tauchte und dem Brief noch ein paar Zeilen hinzu fügte. Syle wagte nicht sie sich näher
anzusehen. Dieser Brief war nicht für ihn oder sonst jemanden bestimmt. Er wusste durchaus was Kellvian da schrieb und wie es gemeint war. Seine letzten Worte, ein Testament… aber nur für die Augen der einzigen Person bestimmt, die er je geliebt hatte… Und er hatte sie fortgeschickt. Genau wie der Hauptmann. ,, Ich kenne euch seit meiner Kindheit Syle. Wenn ich nicht vor euch ein Mensch sein kann, vor wem dann? Die Leute da draußen glauben, ich sei ein Gott oder so etwas. Jemand der die Macht hätte, sie noch zu schützen. Aber das bin ich nicht, nicht wahr?“ Er faltete das Blatt Papier zusammen und ließ etwas Wachs aus einer kleinen
Kanne auf die Faltung tropfen, bevor er das Siegel hinein drückte. ,, Ich bezweifle allerdings ohnehin, das dieser Brief je sein Ziel erreicht. Wir sind jetzt nicht mehr weit vom Ende entfernt.“
,, Nein, Herr…“ Syle räusperte sich. ,, Kellvian. Es war eine Ehre…“
In diesem Moment flogen die Türen des Thronsaals erneut auf und ein Mann in der Kleidung eines Boten der kaiserlichen Garde stolperte in den Raum. Seine Kleidung war verschwitzt und die Haare fielen ihm feucht und wirr ins Gesicht.
,, Hochgeneral, Syle, Herr… sie sind hier. Soeben sind unsere Späher auf die ersten Ausläufer der Armee des Herrn
der Ordnung gestoßen. Sie haben sich zur Stadt zurückgezogen, aber der Feind ist direkt hinter ihnen. Wir müssen den Kaiser informieren…“
,, Der Kaiser ist genau hier.“ , rief Kellvian hinter dem Thron hervor. ,, Geht, ruft alle Männer zusammen , sie sollen sich am der Armee zugewandten Ende der fliegenden Stadt sammeln.“
Der Bote zögerte einen Moment, wohl verwirrt darüber, warum er seinen Herrscher nicht einmal zu sehen bekam, zuckte dann jedoch nur mit den Schultern und machte auf dem Absatz kehrt. Syle sah ihm einen Moment nach, während Kellvian gegen die Rückenlehne des Throns
sackte.
,, So viel also dazu.“ , meinte er und drehte den versiegelten Brief einen Moment in der Hand. Er würde unterwegs einen Boten finden müssen oder jemanden, der eine Brieftaube losschicken konnte. Und dann sah er zu Syle auf. ,, Helft mir auf und dann… bringen wir das hier zu Ende.“
Syle nickte und ergriff seine Hand als Kellvian sie ihm entgegen streckte. Mit einem Ruck zog er seinen Kaiser auf die Füße.
,, Wir kommen hier nicht mehr raus.“ , meinte er. ,, Und sie kommen irgendwann hier hoch.“
,, Und wir werden sie erwarten. Ich habe
unserem Feind einen Sturm versprochen, Syle. Was meint ihr, wollen wir dieses Versprechen einlösen?“