Beschreibung
Ist schon eine Weile her, daß ich diese Geschichte geschrieben habe, aber sie scheint mir nicht minder aktuell.
Hans im Glück 2001
Hans hob das Glas.
„Prosit 2000“, grölte er. Er war gelinde gesagt sternhagelvoll. Überall begann es zu zischen und zu krachen. Ein Feuerwerkskörper nach dem anderen schoß in den fast taghell erleuchteten Himmel. Obwohl er damit gerechnet hatte, zuckte er zusammen. In seinem Kopf heulten Sirenen.
Die Erinnerungen an den Krieg holten ihn immer wieder ein. An diesem Abend war es besonders schlimm. Er dachte an sein Auto, für das er so lange gespart hatte. Es war im Kugelhagel in Flammen aufgegangen. Er dachte an das Dorf, in dem er gelebt hatte, und wieder sah er die Häuser brennen, hörte die Frauen schreien, Kinder weinen und Männer fluchen.
In Windeseile hatte er die wichtigsten Habseligkeiten in einen Rucksack gestopft und er war gerannt, einfach gerannt, bis er nicht mehr konnte. Den Lärm des Gefechts hatte er hinter sich gelassen. In diesem Moment war er froh, daß er keine Familie mehr hatte und deshalb nicht allzu viel hinter sich lassen mußte. Tatsächlich hatte er es geschafft, sich bis Österreich durchzuschlagen. Entfernte Verwandte, die schon lange als Gastarbeiter da lebten, halfen ihm weiter. Mit viel Glück bekam er einen schlecht bezahlten Job in einem drittklassigen Gasthaus. Sein winziges Zimmer lag gleich über der Gaststube.
Hans war froh, daß er an diesem Silvesterabend nicht arbeiten mußte. Er hatte an den Weihnachtsfeiertagen durchgearbeitet und deshalb auf seinen Wunsch hin zur Jahreswende frei bekommen. Jetzt saß er oben in seinem Zimmer. Das spärliche Licht der Lampe paßte viel besser zu seiner Stimmung als das ausgelassene Lachen, daß aus der Gaststube zu ihm herauf drang. Er war froh, daß es nicht mit den andern feiern und gute Laune vortäuschen mußte.
Stattdessen saß er auf seinem einzigen Stuhl bei seinem winzigkleinen Tisch. Eigentlich hatte er ein paar Gedanken aufschreiben wollen, so wie er es früher öfter getan hatte, aber er hatte sich in Erinnerungen verloren, und während er unschlüssig seinen Bleistift zwischen den Fingern drehte, bis er zerbrach, hatte er ein Glas Wein nach dem anderen hinunter gekippt. Leider hatte auch der Alkohol den Krieg in seinem Kopf nicht vertreiben können. Fast reute es ihn schon, daß er es abgelehnt hatte, zu arbeiten, denn er fühlte sich entsetzlich einsam. Nicht einmal eine kleine Fliege brummte durchs Zimmer an diesem kalten Wintertag.
Hans erhob sich vom Stuhl und ließ sich samt seiner Kleidung aufs Bett fallen, tastete schwerfällig nach dem Schalter und löschte das Licht. Der Schein der Straßenlaterne malte einen schmalen Streifen an die Wand, quer über das kleine Kreuz, das er von zu Hause mitgebracht und an der Wand befestigt hatte. Unverwandt starrte er es an und fragte sich, warum er überhaupt noch am Leben war. Zumindest in diesem Moment konnte er absolut keinen Sinn mehr darin erkennen. Er starrte weiter auf das Kreuz. In seinem Kopf drehte sich der Wein und zuletzt glaubte er gar, die Figur hätte sich bewegt. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Erschrocken sprang er hoch. Er rannte aus dem Zimmer und hinunter auf die Straße. Er taumelte und wäre fast gefallen, aber die ausgebreiteten Arme einer erschrockenen Frau fingen ihn auf. „Da haben sie aber Glück gehabt“, meinte sie, als er sie verwirrt ansah. „Sie wären auf die Gehsteigkante gefallen, wenn ich nicht zufällig gerade da entlang gegangen wäre.“
Hans hebt wieder das Glas.
„Prosit 2001!“ flüstert er zärtlich. Seit einem Jahr ist er nicht mehr allein.