11. Verflucht
( Überarbeitete Version )
Die beiden Brüder brauchten keine Worte. Gegenseitig kannten sie sich so gut, also wieso sollten sie dann miteinander reden? Aus diesem Grund war es auch erstaunlich, als Kais Stimme in der Stille des Gartens ertönte: „Ich vermisse Opa. Seit zwei Jahren ist er nicht mehr da, und von zu Hause weg. Ich mache mir Sorgen um Oma.“
Unweigerlich musste Rooster darüber lächeln. Ja, sein kleiner Bruder Kai…
Was hast du
Kai?
Sein Gesicht blieb der Gestaltwandlerin verborgen, denn er konnte einfach nicht aufschauen. Ihre Schritte glichen wie die einer Katze, grazil und tonlos. Gäbe es nicht ihre Gestalt, man hätte Mia überhaupt nicht bemerkt.
„Gabriel?“, fragte sie, und legte den Kopf nur einen Hauch zur Seite. Jetzt begriff Rooster was sie wollte und um sie zu ihm zu lassen, rückte der Angesprochene beiseite. Ganz sanft glitt Mia hinunter in den Rasen. Langsam wanderte ihre Hand zu Kais Kinn heran, und zog es achtsam hoch. Das tiefe Grün seiner Augen begegnete dem Mädchen wie so oft still und
stumm.
Es ist egal.
Was?
Nein, er ist nicht weg. Kai, dieser Mensch stirbt nur, wenn er vergessen wird. Außerdem lässt er dich nicht alleine. Jemanden wie dich lässt man nicht alleine.
Eine von Mias zierlichen Händen legte sich einfühlsam auf Kais Herz. Ab diesem Augenblick fiel es dem Jungen schwer nicht rot zu werden.
Glaub mir Kai. Meine Brüder sind selbst nach so langer Zeit noch bei mir. Lass’ Lukas doch reden. Dumm ist er. So wie du bist, ist es gut.
Dass die beiden etwas miteinander
verband dachte sich Rooster schon, aber das hätte er von den zwei beiden nie gedacht. Nun befürchtete er Zeuge eines Kusses zu werden, denn Mia näherte sich ohne Zwang und Scham Kais Gesicht.
Macht mal halblang ihr beide! Oh Mann, ich bin doch kein Spanner.
Dieser Moment sah für den verrückten Vogel auf unnatürliche Art und Weise intim aus.
Mit beiden Händen hielt Mia Kais Kopf, sodass er sich nicht rühren konnte. Behutsam berührte die Schwarzhaarige die Wange, als wollte sie ihm etwas wegnehmen.
Mia.
Jetzt schreckte er zurück. Damit rechnete
er wirklich nicht. In seinem Gesicht spürte er die Wärme aufsteigen und seine Ohren kitzelten fast schon, weil er ordentlich rot wurde. An seinen Wangen konnte er den leichten Atem des Mädchens spüren und ihre Hände... sie hielten nur sein Gesicht fest, und trotzdem glaubte Kai, diese kleine Person würde seinen Körper und seine Seele halten.
Pscht, Kai, nicht weinen.
Ich weine nicht. Siehst du etwa Tränen?
Nicht dein Gesicht weint, sondern deine Seele.
Vorsichtig fuhren ihre Hände um Kai herum, zu einer leichten Umarmung. Vorsichtig strichen Mias Lippen ganz
sachte über seine Wange, als ob sie Tränen damit wegwischen wollte. Dabei war sie jetzt so nah bei ihm, dass er glaubte ihr Herz schlagen zu hören, ruhig und gleichmäßig.
Pscht, ist gut, ist schon gut.
„Mia“, raunte der Junge verträumt. Seine Hand wanderte nun um den Mädchenkörper. So etwas machte er noch nie, nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht. Diese Besonderheit der Nähe jemanden bei sich zu haben, der auch eine Form des Schutzes bot, war unglaublich befreiend und verlockend. Schlussendlich vergaß Kai seinen Anstand und ging auf Tuchfühlung.
PLATSCH!
-
„Was hast du denn gemacht?“, fragte Rooster völlig blauäugig bei dem Gesichtsausdruck seines kleinen Bruders, nachdem Mia in den Wintergarten stolperte.
„Sie hat mir eine Backpfeife verpasst, oder besser hat es versucht“, meinte Kai perplex, während er versuchte seinen Geist zurechtzubiegen. Für einen Moment wusste der Alexis nicht wo er war, oder besser wer er war.
„Tut's weh?“, grinste der Andere und lehnte sich völlig entspannt mit seinem Rücken an den des Kleineren.
„Mia hat nicht viel Kraft“, nuschelte
Kai, aber sein Gesicht war Feuerrot. Dem Rest seines Körpers erging es nicht viel besser.
Zum Herz erweichen schnaufte Rooster: „Mann, hast du es gut. Luca zieht immer voll durch wenn ich vergesse, dass sie mit plötzlichen Liebkosungen Probleme hat.“
Im Grunde hätte Kai genauso einen Faustschlag benötigt. Wegen seiner Dummheit war Mia verletzt worden und wegen seinem Versagen machte sich dieses Mädchen mehr Sorgen um ihn als um ihre eigne Gesundheit.
„Luca, wie sie leibt und lebt... Sag mal... LUCA!“ Erst jetzt dämmerte Kai langsam, was sein Bruderherz so ganz
nebenbei losließ. Ruckartig sprang er in die Hocke und wandte sich zu dem Rotschopf um. Dieser musste ebenso ruckartig seine Position vom Sitzen in die Rückenlage verändern.
„Dei... dei...deine Verlobte ist Luca-Sabriel Astron?“, stotterte Kai.
„Falsch“, erwiderte Rooster trocken, „sie heißt Sabriel-Luca und nicht Luca-Sabriel.“
„Rooster, das-ist-doch-egal! Hallo-ho, sollte sie nicht in die Familie Balthasar einheiraten? Was geht in Falkenstein ab, wenn ich nicht da bin?“
Die vorübergehende rothaarige Schildkröte grinste darüber ausgedehnt, wie ein
Breitmaulfrosch.
Nervös kratzte sich Kai am Hinterkopf. Was für ein Schlag mitten ins Gesicht.
„Die Verlobung haben Großvater und die Balthasars organisiert nachdem ihr Vater umgekommen ist, damit sie nicht bei den Astron leben musste."
„Ich war damals zu klein, um das alles zu verstehen“, verteidigte sich Kai halbherzig, „ihre Mutter, die Hohepriesterin, leidet sie nicht an Multiple Sklerose?"
Darauf brummte Rooster, während er eine menschliche Körperhaltung einnahm: "Fluch und ein Gendefekt in einer der größten Magierfamilien Eurasiens. Fragt sich, wer hier verflucht
ist. Meine Verlobte, oder doch der glorreiche Feuerclan."
"Sie kam doch damals zu den Balthasar, weil deren Bannkreise die plötzliche Feuersbrunst in ihrem Körper bannen konnten?", fragte der kleine Bruder vorsichtig nach, denn eines war klar, an diesem Fluch starben schon sehr viele Passanten.
"Mach’ dir keinen Kopf. Zu jeder heißen Braut gibt es einen coolen Bräutigam."
Seit langem nahm sich Kai die Zeit sich seinen Bruder genauer zu betrachten. Mit seinen dichten wenig zu bändigen roten Haaren und dem schmalen Gesicht wirkte Rooster schon immer gut auf das weibliche Geschlecht. Mit diesen
dunklen grünen Augen konnte der junge Mann genau wie sein Vater so ziemlich jede Frau bezirzen. Sein Lachen konnte Wildheit und Lebensfreude vermitteln, selbst wenn sein Leben eher aus einem stumpfen Elternhaus und dem strickten Regelwerk der Feuermagier bestand. Außerhalb der Alexis hatte Rooster nur als Schwerenöter etwas zu lachen. Sich das Gesicht und die Statur von Sabriel ins Gedächtnis zu rufen viel Kai schwer. Im Kindesalter hatte er immer etwas Angst gegenüber des angeblichen Astron-Jungen empfunden. Die junge Frau in Männergestalt war alles andere als das Beuteschema seines Bruder.
Es war deutlich in Roosters Augen zu
sehen, wie ungern er jetzt genauer in die Materie des Astron Fluchs eintauchen wollte.
Das jetzige Thema veranlasste Kai dazu, den Blickkontakt zu Mia zu suchen.
Hinter einem Hibiskus winkte sie ihm zaghaft zu. Ganz unbewusst, berührten währenddessen seine Finger seine Lippen, und er dachte zerstreut an das Küsschen, das er ihr auf die Wange gab und die innige Umarmung. Zwar berührte sie ihn auch, aber empfand es wohl anders.
Während Kai mit seinen Gedanken abschweifte, versuchte der Rothaarige dies zu verhindern und fing damit an mit seiner Hand vor Kais Gesicht
herumzufuchteln. Was mit Erfolg gekrönt war: „Na, wieder unter den Lebenden? Hier, ich habe etwas für dich. Ein Brief von Julian.“
Schon reichte er ihm einen braunen Umschlag herüber, den er zuvor aus der Tasche zog. Es handelte sich um ein dickes, und völlig zerbeultes Kuvert. Nicht nur wegen des Transportes, sondern weil sich ein harter Gegenstand mit im Umschlag befand. Die gepolsterte Brieftasche enthielt einen lieben Gruß an seine Oma von ihrem Sohn. Anschließend erkannte Kai die Handschrift seines Onkels Julian, und was danach kam sollte sich als e