Kurzgeschichte
Ausgeräumt - Randbeitrag zum FB 53

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"Ausgeräumt - Randbeitrag zum FB 53"
Veröffentlicht am 08. September 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Meistens bin ich ruhig. Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands. Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann. Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben. Ergänzung: Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste ...
Ausgeräumt - Randbeitrag zum FB 53

Ausgeräumt - Randbeitrag zum FB 53

Ausgeräumt Henning war der Einzige, der lauthals über seinen Astronautenwitz lachte. Wie schon oft zuvor während der letzten Tage bemerkte er nicht, dass ihr nicht zum Lachen zumute war. Waren sie immer schon so verschieden? Still schaute sie den ihr fremd gewordenen Mann an, der mit ihr gemeinsam vor dem geöffneten Bettkasten saß. Er war immer noch sehr attraktiv für sein Alter, groß schlank und braun gebrannt. Anders als sie. Aber das waren schließlich nur Äußerlichkeiten. Wahrscheinlich hätten sie sich in den nächsten Jahren nicht getroffen, wenn sie

nicht eindringlich auf seine Anwesenheit bestanden hätte. Nur deswegen war er nun hier. Schon seit langer Zeit lebte er auf La Palma, hatte dem Leben in Deutschland den Rücken gekehrt, nachdem seine Frau als Folge seiner unzähligen Romanzen die Scheidung eingereicht hatte. Durch den Verkauf der Eigentumswohnung, lebte er nun wie Gott in Frankreich oder eben wie ein Krösus auf La Palma und genoss sein irlichterndes Leben mit allen Sinnen. Als sie ihn so versunken betrachtete, nicht mehr auf seine Witzergüsse achtend, fiel ihr wieder ein, warum sie beide hier auf dem Boden hockten. Die Wohnung ihrer Eltern musste ausgeräumt

werden und das dick angestrichene Datum im Kalender machte deutlich, dass sie bereits zum nächsten Ersten wieder vergeben war. Was sie traurig stimmte, schien ihren Bruder zu erheitern. Jedes in die Hand genommene Teil amüsierte ihn und langsam fragte sie sich, ob er überhaupt begriff, was sie beide hier taten. Rings um sie herum standen dunkelblaue Müllsäcke, in denen Stück für Stück das Leben ihrer Eltern versenkt wurde. Sie griff wahllos in das Durcheinander des Bettkastens und hielt Magentabletten, Kontoauszüge und neuverpackte Herrenunterhosen in der Hand. Henning zog zeitgleich unter einer völlig verschlissenen

Wolldecke ein paar Tupperdosen hervor, in denen Weihnachtsplätzchen - wohl aus der Vorkriegszeit - aufbewahrt waren. Verheißungsvoll roch er an einer geöffneten Dose und warf sie mit schmerzverzogenem Grinsen in den Müllsack für „Verschiedenes“. Der Zustand dieses Bettkastens spiegelte sich in der gesamten Wohnung wieder und sie fragte sich bedrückt, wann sie verpasst hatte, diese Umstände zu bemerken. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht, war sie doch in regelmäßigen und recht kurzen Abständen zu Besuch gekommen. Und doch hatte sie nicht gesehen, dass sich das geordnete Leben ihrer Eltern in dieses Chaos verwandelt

hatte. Viele Erinnerungen waren in den letzen Tagen wieder aufgelebt, schöne Erinnerungen aus ihrer Kinderzeit, in der ihr großer Bruder noch ihr Ein und Alles war. Ihr Beschützer und Held in allen Lebenslagen. Der Bruder, der sie nachts, unentdeckt von den Eltern weckte, und mit zu heimlichen Treffen in die nahegelegenen Kiesgrube nahm, wo sie mit seinen Freunden Lagerfeuer machten und Karten spielten. Auch Erinnerungen an Wochenendausflüge mit den Eltern, ohne Geld, aber mit viel Spaß, an Urlaube, Spieleabende, an so vieles. Es war alles so einfach und unbeschwert. Auf unzähligen Fotos, die wahllos in Schubläden und Schrankfächern

lagen, war es zu sehen. Inzwischen haben sie beide längst eigene Erinnerungen und ein eigenes Leben, losgelöst von den Eltern. Und doch bleiben sie für immer ein Bestandteil von ihnen und ihrer Existenz. Wehmütig schaut sie auf ein paar Topflappen, die sie als Zehnjährige im Handarbeitsunterricht gehäkelt hatte. Zum Einsatz kamen sie nie, aber sie haben die vier Umzüge überstanden. Es fühlt sich nicht richtig an, das Leben der Eltern aufzulösen. Sie weiß nicht, was ihnen wichtig wäre zum Aufbewahren und wovon sie sich längst hätten trennen wollen. Nun müssen sie und ihr Bruder entscheiden, welches Puzzleteil in welchem Müllsack landet und welches im

„Aufheben“-Pappkarton. Als Hennings Handy klingelt und er sich kurz danach verabschiedet, bemerkt sie es gar nicht richtig. Irgendwelche alten Freunde von früher laden zum September-Weizen in eine Kneipe ein. Noch ein Abschied. Lange an diesem Tag geht sie von Zimmer zu Zimmer, öffnet Schränke und Schubladen. Immer wieder verharrt sie im Gedanken an früher und mit jedem Stück in ihrer Hand wächst die Traurigkeit. Sie fühlt sich allein und weiß doch, dass sie es ihren Eltern schuldig ist. Wie wird es sein, wenn sie selbst alt ist? Zu alt, um ihren Haushalt zu führen? Wer wird sich um ihren Bruder kümmern, wenn sein Lotterleben in die Jahre kommt? Schnell

verdrängt sie die Gedanken, sie sind unbequem. Als sie nach Stunden leise die Wohnungstür zuzieht, hat sie die Topflappen in der Tasche. Nach so vielen Jahren bewältigen sie auch noch einen fünften Umzug. Morgen Vormittag wird sie ihre Eltern besuchen, vielleicht erinnern sie sich ja. Wenn sie lächeln, wäre das ein gutes Zeichen. Hoffentlich kommt Henning auch vorbei. (© Memory Aug. 2016)

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Memory
Meistens bin ich ruhig.
Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands.
Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann.
Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben.
Ergänzung:
Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste meinen Mann, meine große Liebe, ziehen lassen. Seit dem steht die Welt still.

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Wolkenstill Beeindruckend
lädt Deine Geschichte ein zum Nachdenken

Wolkenstille Grüße aus dem Turm ♥
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Es ist und bleibt ein nachdenkliches Thema und nicht das schönste des Lebens.
Danke dir auch hier.
Liebe Grüße noch einmal
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
erato 
Deine Erinnerungen und Gefühle
sind mir nicht unbekannt - es gibt
viele andere persönliche Erlebnisse,
die erfreulicher sind.


Ganz herzliche Grüße
Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Leider eine Erinnerung, der sehr viele "Kinder" nicht entkommen können.
Es gibt wirklich erfreulichere, da hast du völlig Recht.
Vielen Dank auch hier und ganz lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks Feine Geschichte, die sensibel umgeht mit dem heiklen Thema. Die Pointe hat mich besonders berührt. Danke.
LG Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Danke, lieber Klecks.
Freue mich, dass du mal wieder "on" bist.
Dieses Thema ist wohl allgemein berührend ... wen lässt das schon kalt.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Relikte eines Lebens, scheinbar zusammengewürfelt, waren sie einmal von Bedeutung, hatten eine Bestimmung und gehörten zu einem Ganzen, waren verborgen, vielleicht absichtlich. Auch Eltern haben ein Recht auf Geheimnisse, selbst wenn sie diese eines Tages vergessen. Den privatesten Bereich eines nahestehenden Menschen bei einer Wohnungsauflösung kennenzulernen kann schmerzlich sein, kann uns verwundern, uns amüsieren oder uns nachdenklich stimmen.
Ohne Pathos hast Du eine Begebenheit, als Folge eines Verlustes im weitesten Sinne, in einer sensibel gestalteten Geschichte festgehalten.
Gefällt mir sehr, liebe Sabine!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Vielen Dank, liebe Kara, für deinen wertvollen Kommentar.
Du hast völlig Recht.
Ich finde es fast nicht richtig, auf diese Art und Weise mit der Vergangenheit vertrauter Menschen umzugehen. Aber es bleibt ja kein anderer - besserer - Weg.
Dass dann bei jeder betroffenen Person andere Gefühle entstehen ist natürlich nicht verwunderlich.
Lieben Gruß zu dir und danke auch für den Favo.
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Liebe Sabine,
bei dieser, mit soviel Herz und Einfühlungsvermögen geschriebenen
Geschichte, bekam ich direkt einen Kloß im Hals ... Denn es erinnere
mich so sehr an die Tage, an denen mein Bruder und ich die Wohnung
unserer Mutti - die damals bereits seit zwei Monaten in einem Pflege-
heim lebte) ausgeräumt hatten ... es war eine Tragödie ...
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Danke dir, liebe Gertraud, für deine Worte.
Ich denke schon, dass die eine oder andere Erinnerung geweckt wird oder der Schein einer Vorstellung davon entsteht.
Hoffentlich konntest du dieine Erinnerung schnell wieder vergessen.
Lieben Gruß zu dir
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
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