Ausgeräumt
Henning war der Einzige, der lauthals über seinen Astronautenwitz lachte. Wie schon oft zuvor während der letzten Tage bemerkte er nicht, dass ihr nicht zum Lachen zumute war.
Waren sie immer schon so verschieden? Still schaute sie den ihr fremd gewordenen Mann an, der mit ihr gemeinsam vor dem geöffneten Bettkasten saß. Er war immer noch sehr attraktiv für sein Alter, groß schlank und braun gebrannt. Anders als sie. Aber das waren schließlich nur Äußerlichkeiten.
Wahrscheinlich hätten sie sich in den nächsten Jahren nicht getroffen, wenn sie
nicht eindringlich auf seine Anwesenheit bestanden hätte. Nur deswegen war er nun hier.
Schon seit langer Zeit lebte er auf La Palma, hatte dem Leben in Deutschland den Rücken gekehrt, nachdem seine Frau als Folge seiner unzähligen Romanzen die Scheidung eingereicht hatte. Durch den Verkauf der Eigentumswohnung, lebte er nun wie Gott in Frankreich oder eben wie ein Krösus auf La Palma und genoss sein irlichterndes Leben mit allen Sinnen.
Als sie ihn so versunken betrachtete, nicht mehr auf seine Witzergüsse achtend, fiel ihr wieder ein, warum sie beide hier auf dem Boden hockten.
Die Wohnung ihrer Eltern musste ausgeräumt
werden und das dick angestrichene Datum im Kalender machte deutlich, dass sie bereits zum nächsten Ersten wieder vergeben war.
Was sie traurig stimmte, schien ihren Bruder zu erheitern. Jedes in die Hand genommene Teil amüsierte ihn und langsam fragte sie sich, ob er überhaupt begriff, was sie beide hier taten.
Rings um sie herum standen dunkelblaue Müllsäcke, in denen Stück für Stück das Leben ihrer Eltern versenkt wurde.
Sie griff wahllos in das Durcheinander des Bettkastens und hielt Magentabletten, Kontoauszüge und neuverpackte Herrenunterhosen in der Hand. Henning zog zeitgleich unter einer völlig verschlissenen
Wolldecke ein paar Tupperdosen hervor, in denen Weihnachtsplätzchen - wohl aus der Vorkriegszeit - aufbewahrt waren. Verheißungsvoll roch er an einer geöffneten Dose und warf sie mit schmerzverzogenem Grinsen in den Müllsack für „Verschiedenes“.
Der Zustand dieses Bettkastens spiegelte sich in der gesamten Wohnung wieder und sie fragte sich bedrückt, wann sie verpasst hatte, diese Umstände zu bemerken. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht, war sie doch in regelmäßigen und recht kurzen Abständen zu Besuch gekommen. Und doch hatte sie nicht gesehen, dass sich das geordnete Leben ihrer Eltern in dieses Chaos verwandelt
hatte.
Viele Erinnerungen waren in den letzen Tagen wieder aufgelebt, schöne Erinnerungen aus ihrer Kinderzeit, in der ihr großer Bruder noch ihr Ein und Alles war. Ihr Beschützer und Held in allen Lebenslagen. Der Bruder, der sie nachts, unentdeckt von den Eltern weckte, und mit zu heimlichen Treffen in die nahegelegenen Kiesgrube nahm, wo sie mit seinen Freunden Lagerfeuer machten und Karten spielten. Auch Erinnerungen an Wochenendausflüge mit den Eltern, ohne Geld, aber mit viel Spaß, an Urlaube, Spieleabende, an so vieles. Es war alles so einfach und unbeschwert. Auf unzähligen Fotos, die wahllos in Schubläden und Schrankfächern
lagen, war es zu sehen.
Inzwischen haben sie beide längst eigene Erinnerungen und ein eigenes Leben, losgelöst von den Eltern. Und doch bleiben sie für immer ein Bestandteil von ihnen und ihrer Existenz.
Wehmütig schaut sie auf ein paar Topflappen, die sie als Zehnjährige im Handarbeitsunterricht gehäkelt hatte. Zum Einsatz kamen sie nie, aber sie haben die vier Umzüge überstanden. Es fühlt sich nicht richtig an, das Leben der Eltern aufzulösen. Sie weiß nicht, was ihnen wichtig wäre zum Aufbewahren und wovon sie sich längst hätten trennen wollen. Nun müssen sie und ihr Bruder entscheiden, welches Puzzleteil in welchem Müllsack landet und welches im
„Aufheben“-Pappkarton.
Als Hennings Handy klingelt und er sich kurz danach verabschiedet, bemerkt sie es gar nicht richtig. Irgendwelche alten Freunde von früher laden zum September-Weizen in eine Kneipe ein. Noch ein Abschied.
Lange an diesem Tag geht sie von Zimmer zu Zimmer, öffnet Schränke und Schubladen. Immer wieder verharrt sie im Gedanken an früher und mit jedem Stück in ihrer Hand wächst die Traurigkeit. Sie fühlt sich allein und weiß doch, dass sie es ihren Eltern schuldig ist.
Wie wird es sein, wenn sie selbst alt ist? Zu alt, um ihren Haushalt zu führen? Wer wird sich um ihren Bruder kümmern, wenn sein Lotterleben in die Jahre kommt? Schnell
verdrängt sie die Gedanken, sie sind unbequem.
Als sie nach Stunden leise die Wohnungstür zuzieht, hat sie die Topflappen in der Tasche. Nach so vielen Jahren bewältigen sie auch noch einen fünften Umzug. Morgen Vormittag wird sie ihre Eltern besuchen, vielleicht erinnern sie sich ja. Wenn sie lächeln, wäre das ein gutes Zeichen.
Hoffentlich kommt Henning auch vorbei.
(© Memory Aug. 2016)