Wenn man Zeit hat, sehr viel Zeit und dann auch noch solche, die man nicht ausreichend nutzen kann, gehen einem die seltsamsten Dinge durch das Oberstübchen. Die kognitive Möblierung befasste sich nach der Ausrechnung der flächenmäßigen Anzahl von grauen Wandkacheln mit der strukturierten Einrichtung einer Liste, welche Wartezimmer die schlimmsten waren. Bis vor wenigen Stunden war Sarah der Ansicht gewesen, ein Zahnarztwartezimmer mit dem Damoklesschwert der zweifachen
Wurzelbehandlung, wäre die reinste Hölle. Allerdings wurde dieser Glaube mit einer Abrissbirne nicht nur erschüttert, sondern gleich pulverisiert. Das Sitzen in einem dunkelgrau gestrichenen Raum mit einem großen Spiegel an der gegenüberliegenden Seite zur Tür stellte alles in den Schatten, was die Barkeeperin jemals Nerven gekostet hatte. „Und du meinst, sie wird kommen?“ Selbst wenn Levi für Sarah in dieser misslichen Lage eine ausgesprochen gute Gesellschaft war, so war er es, welcher das Fundament für den Abriss von ihrer und seiner Zukunft vor nicht all zu geraumer Zeit gelegt
hatte. Das Schicksal der Bar „Black and White“ war wohl besiegelt gewesen, nach dem Freitod einer Kollegin. Denn die Type, welche Sarahs Chef eingestellt hatte, brachte sie zu einer weiteren langwierigen Überlegung. Sie malte sich seit Beginn des Arbeitsverhältnisses die schlimmste Bezeichnung für einen Mann aus, die es je geben konnte. Leider war sie rhetorisch nicht sehr gut und so antwortete die Barkeeperin ziemlich schnippisch auf die Frage ihres Brötchengebers: „Ich hoffe, es wirklich, sonst werden wir hier noch eingebuchtet. Der Typ will Feierabend machen und sucht sich die schnellste
Lösung.“ Aus reiner Liebe zu seiner Gesundheit schwieg der Chef. Er war heute schon einmal darauf aufmerksam gemacht worden, dass er nichts sagen musste, dass ihn belasten konnte. Ihm war schon klar gewesen, dass Vincent Hesse nicht die feinste Wahl für seine Angestellten gewesen war. Zu den Gästen war er zuvorkommend und sehr akkurat. Selbst in der größten Hektik brachte er einen Drink nach dem andern sorgfältig und auf den Eichstrich genau über den Tresen. Bei den Frauen war der Mann extrem gut angekommen. Bei den männlichen Begleitern schon etwas weniger, aber der Umgang mit den
Kollegen war grauenhaft gewesen. Wenn der Hammer fiel, verwandelte sich Vincent Hesse in den „Hasse ich“. So jedenfalls die unschöne, leider passende Formulierung der beiden verbleibenden Angestellten des „Black and White“. Levi hatte versucht, das Verhältnis der Kollegen mit einer Kneipentour durch das Frankfurter Bahnhofsviertel, in der er seine Lehrzeit verbracht hatte, zu kitten. Dieser Versuch war erst in einem handfest Streit zwischen Ricardo, dem zweiten Barmann und Vincent geendet und zum Schluss war Vincent in einem schwarzen Leichensack in einer schmucklosen Aluminiumwanne vom U-Bahnbahnhof abtransportiert
worden. Weil Sarah mit dem Blut der Leiche besudelt war, dieser hatte man nämlich passenderweise einen Eispickel von rechts unten in die Milz und durch das Zwerchfell gejagt und weil Ricardo sich mit dem Opfer geprügelt hatte, waren sie nun die Hauptverdächtigen. Levi hatten die Beamten auch nicht übersehen, denn er hatte die Mordwaffe „gefunden“ und dabei Lederhandschuhe getragen. Anfang Oktober um zwei Uhr morgens jetzt nichts Ungewöhnliches. Die Polizei hatte also ihre drei Hauptverdächtigen schnell ausfindig gemacht. Und nun zog sich das Verhör schon in den Morgen hinein. Ricardo war
irgendwann in seinem Rausch unleidlich geworden und er durfte sich in einer Einzelzelle erst einmal ausschlafen. Der Beamte, Marke pflichtbewusst, aber auch leidenden an der Unterbesetzung des Staatsdienstes, hatte ja noch den Chef und die großbrüstige Angestellte. Ausdauer hatte der Kerl, das mussten die Beschuldigten zugeben. Auch der Kaffee schmeckte unerwartete gut. Nur wie kamen sie heil aus dieser Situation heraus? Die Beamten setzten vor allem Levi stark zu, indem sie immer wieder den Ruf des „Black and White“ mit ins Spiel brachten. Sie hatten sehr schnell den Todesfall der verstorben Kollegin hervorgekramt und marterten den sonst
so unerschütterlichen Barchef mit unangenehmen Wahrheiten und wilden Spekulationen. Bei Sarah hatten sie es schon schwerer. Seit ihrem letzten Telefonat hatte sie sehr beharrlich und extrem misslaunig geschwiegen. Lediglich einmal hatte sie dem Polizeibeamten mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gedroht, sollte er ihrem Ausschnitt noch einmal zu nahe kommen. Es musste so gegen sechs in der Frühe gewesen sein, als die Tür zum Verhörraum geschmeidig aufging und ein wahres Großkaliber von Frau die Anwesenden
dominierte. Ihre Figur war schlank und durch ihre hohen Wangenknochen wirkte sie etwas zu dünn. Auch die leichte, ovale Brille sowie der Haardutt unterstrichen diesen Anschein. Sie trug ein unverschämt teures Markenkostüm in einem Saphierblau. Der halblange Rock zeigte die langen Beine, so dass der Anblick zum Daniederknien war. „Aufstehen, wir sind hier fertig. Es gibt keinen Grund hierzubleiben.“ So ganz war es nicht ersichtlich, ob die Schärfe der Frau oder ihre Stimme den Beamten ins Schwanken brachte, jedenfalls stammelte er seine Beschwerde mehr, als dass diese
Autorität versprühte. Eine unauffällige, braune Akte wechselte die Hände. „Sie haben damit eine vollständig ausgearbeitete Akte des Falles von mir erhalten. Sollten Sie dennoch weitere Fragen an meine Mandanten haben, werden sie diese schriftlich vorladen müssen.“ Mit einer bestimmenden Geste scheuchte die Anwältin Sarah und Levi von ihren Stühlen auf. „Herrn Cappelletti, werden Sie nach dem Ausnüchtern anstandslos frei lassen.“ Der Beamte fühlte sich in seiner Amtsehre gekränkt, was bei einem solch
resoluten Auftreten nicht verwunderlich war. Vielleicht wäre der Herr noch mit einem blauen Auge davonkommen, wenn er sich einfach nur über dieses ungebührliches Verhalten der Dame in Blau beschwert hätte, jedoch überschritt er die Grenze des Beschwerens, indem er nach ihrem Arm, beziehungsweise ihrem schwarzen Mantel griff, welcher über ihrem linken Arm lag. Blicke aus reinem Eis trafen den Mann. Selbst Sarah und Levi gefror das Blut in den Adern. „Anstatt hier unschuldige Leute festzuhalten, sollten Sie besser erst Ihr Opfer überprüfen. Vincent Hesse ist vielleicht niemals angeklagt worden,
jedoch tritt sein Name in verschiedenen Fällen auf, welche mit dem einschlägigen Drogenhandel zu tun haben. Seine letzte Arbeitsstelle, wesentlich schlechter bezahlt als die vorangegangenen Arbeitsverhältnisse, wird er wahrscheinlich angenommen haben, um aus der einschlägigen Barszene auszusteigen. Seine Kontoführung zeigt deutlich, dass er eine weitere unseriöse Einnahmequelle gehabt haben muss. Und diese hat sich seiner entledigt, indem er die neue Arbeitsstelle als Sündenbock dastehen lässt. Dass der Herr ein Schwein war, brauche ich Ihnen ja wohl nicht mehr zu erklären. Oder haben Sie das in Ihrer
eilig erstellen Aufnahme der Geschehnisse auch übersehen?“ Auch wenn ihre Stimme dem Eispickel glich, welcher Vincent Hesse das Lebenslicht ausgeknipst hatte, eine gewisse Sympathie sprach ihr Sarah innerlich zu. Der Polizeibeamte fand Stolz und Sprache wieder. „Und wie kommen Sie darauf, dass es sich um eine andere Person als eine aus dem „Black and White“ handeln muss?“ Die eisige Schneeballschlacht ging in die zweite Runde und Sarah packte ihre Sympathie für die Icelady in einen Zentner schweren mit Streusalz gefüllten
Eimer. „Nutzen Sie Ihren Kaffee zum Arbeiten oder damit die Zeit schneller vergeht, bis ich Ihre frühzeitige Pension veranlasst habe?“ Als Wiedergutmachung für die Berührung ihres Mantels zog sie dem Beamten die Akte aus den Händen und benötigte keine zwei Sekunden, um verschiedene Standbilder von den Überwachungskameras in der U-Bahn hervor zu holen. „Dieser Mann steht im Zusammenhang mit den örtlichen Bars, welche sich auf leichte Partydrogen spezialisiert haben. Jeder zweitklassige Chemiestudent kann dieses Zeug zusammenbrauen. Drei
schwarze Mäntel, die im Gedränge dicht beieinanderstehen. Wenn man von der vierten fremden Person ausgeht, kann man sehr leicht rekonstruieren, wie es dazu kam, dass meine Mandantin einiges an Blut abbekam, denn der Tote landete in ihren Armen. Die Tatwaffe landete vor den Füßen meines Mandanten und man kann sehen, dass er sich erst nach dem Aufheben der Tatwaffe zu dem Opfer hinuntergebeugt hat. Dieser Herr, wie Sie sehen trägt er auch einen schwarzen Mantel, hat zwar als erster die Bahn verlassen, entledigt sich jedoch an der ersten Mülltonne seines Abendessens. Der Einzige, der sich sorgfältig aus dem Staub macht, ist die
Person, welche für den Moment der Einfahrt in den Bahnhof dicht an der linken Seite des Opfers stand, sich an meiner Mandantin vorbeistahl. Herrn Cappelletti benötigt hierbei keine weitere Erwähnung.“ Die verbale Lawine verfehlte nicht einmal im Ansatz ihre Wirkung. Der Beamte hatte dieser Frau absolut nichts entgegenzusetzen. Missmutig, jedoch höflich entließ er seine Verdächtigen aus den Klauen von Justiziar. Vor der Tür, an kalter, frischer Luft recken Sarah und Levi ihre Glieder. „Danke, Frau Mathieu. “ Der Chef des „Black and Wihte“ erleichterte sich um
einen guten Kubikmeter Sauerstoff. Jedem hatte die Kälte heute Nacht zugesetzt. Dem einen, weil der Abend eine Berg- und Talfahrt der Emotionen gewesen war und anderen, weil sie einem weiblichen Väterchen Frost begegnet waren. „Nicht nötig. Sie werden im Laufe dieses Quartals meine Rechnung erhalten. Überstunden dieser Art sind teuer.“ Kaum erhob sich die Euphorie der Freilassung, da begrub sie schon die Frau in Blau unter einer gefühlten Tonne Eis. Ihre Verabschiedung blieb genauso kühl und geschäftig. Sie verschwand, damit ebenso schnell, wie sie aufgetaucht
war, nur hinterließ sie einen Hauch von Kälte auf der Haut. Etwas, das sich wie ein ungutes Gefühl auf die Seele legte, nachdem man von einem Altraum aus der Nachtruhe gerissen worden war.
Levi, ein Mann guten Geschmacks und guter Manieren, stand wie erstarrt vor der Frankfurter Hauptwache und starrte in den dunklen Morgen hinein.
„Levi, hast du allen Ernstes geglaubt, dass so eine Frau kostenlos arbeitet?“, hakte Sarah trocken nach und klopfe ihrem Chef und gutem Freund ordentlich auf die Schulter.
„Uff. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder geschockt sein soll. Und diese Dame war wirklich Luisas Mutter?“
AngiePfeiffer Ein interessanter Krimi, der mich echt gefesselt hat. LG Angie |