spuren im schnee
Ben und Oliver waren zu sehr außer Atem und voller Adrenalin, um die Situation sofort richtig begreifen zu können. Die massige Gestalt vor Ihnen kniete noch immer mit gesenktem Kopf. Aus dem Unterholz erschienen immer mehr unscharfe Schatten und Gestalten. Es klapperte und schepperte leise. Die Personen mussten viele metallische Elemente tragen, welche bei jeder Bewegung aufeinanderschlugen, und das typische Geräusch erzeugten. Auch die Fackel trat wieder ins Blickfeld der Brüder. Sie schwebte geschmeidig
zwischen den Baumstämmen in den Vordergrund und beleuchtete den bewegungslosen, knienden Mann mit geheimnisvollen Schatten.
Ben fand seine Stimme noch nicht ganz wieder und räusperte sich als Signal, dass er gerne Kontakt aufnehmen möchte. Oliver zuckte kurz zusammen. Anscheinend war er gedanklich gerade ziemlich weit weg gewesen. Der Mann am Boden hob langsam und bedächtig seinen großen Kopf. Seine Kleidung entsprach am ehesten einer ledernen Schutz- beziehungsweise Kampfkleidung. Im Mittelalter und im
Römischen Reich wurde vielfach Leder als Panzerung verwendet. Dünne Felle von irgendeinem struppigen Tier quollen zwischen den ledernen Trageriemen um Schulter und Brust hindurch. Ben registrierte erst jetzt, dass sein Atem kleine Wölkchen erzeugte. Es war kalt. Es war sogar sehr kalt. Oliver trat einen kleinen Schritt näher an Ben heran und Ben tat es ihm gleich. Es war eine unbewusste Handlung der beiden. Sie ignorierten, dass sie bereits begonnen haben zu zittern, denn der Mann vor ihnen erhob sich von den Knien.
‚Willkommen, Erben.‘ Er hatte eine tiefe und raue Stimme. Sein Tonus war
leise und kontrolliert. Ein Anführer. Ein Mann des Feldes. Er hielt den Blick leicht gesenkt und verhielt sich eher zurückhaltend und vorsichtig. Ben fand das Verhalten merkwürdig und faszinierend zugleich. Woher kam die Unsicherheit dieses Mannes, der offensichtlich der Anführer der Schar im Unterholz zu sein scheint. Worauf begründet sich dieser Respekt ihnen gegenüber? Er schien sie erwartet zu haben. Bens Kopf wurde schwer und kreiste wie eine Spindel. Er hatte zu viele Fragen und bekam selber noch kein einziges Wort heraus. Der Mann fuhr fort.
‚Ich bitte um Entschuldigung für den unfreundlichen und hektischen Empfang. Wir mussten aus der Situation heraus reagieren. Ich werde es Euch bei nächster Gelegenheit genauer erklären. Nun lasst mich aber den ersten Schlechten Eindruck den ihr von uns haben müsst etwas egalisieren. Es ist unhöflich so viel zu reden und den anderen im Ungewissen zu lassen, mit wem er es zu tun hat. Wir sind Euch im Vorteil, wir wissen wer ihr seid. Wessen Erben ihr seid.‘ Bens Katalog an Fragen wuchs exponentiell zu jedem Wort, welches der Unbekannte von sich gab. Oliver schüttelte unablässig in kleinen
Bewegungen mit dem Kopf. Von beiden Brüdern fand auch er als erster seine eigenen Worte wieder.
‚Krass! Voll Krass!‘ Ben beobachtete, wie Olivers Augen immer größer wurden und sogar ein leichtes Lächeln seinen Mund umspielte. Ben richtete seine ersten Worte an den Mann mit dem Lederharnisch.
‚Du hast jetzt mehrfach erwähnt, uns aufklären zu wollen. Nur hast du uns mit keinem Wort irgendwas erklärt. Wir gehen wieder. Das hier ist dürfte nicht existieren und ich habe schon einmal ein „das dürfte nicht existieren“ erlebt. Danke und Auf Wiedersehen. Los Olli,
wir gehen zurück zum Hotel.‘ Mit diesen Worten drehte Ben sich um und machte die ersten Schritte zurück in das dunkle Unterholz. Er vermisste jedoch das Knacken von Ästen durch die Schritte seines Bruders. So blieb Ben stehen und drehte sich nach Oliver um.
‚Hey, Oliver. Auf, wir gehen. Was machst du da noch?‘ Es dauerte einen Moment und Ben konnte nur beobachten, wie Oliver scheinbar den Mann betrachtete. Mal legte der den Kopf leicht nach rechts, mal leicht nach links. Dann ging er einen Schritt zurück und nickte. Seine Antwort an Ben glich einem flüsternden Ruf.
‚Erkennst du ihn wirklich nicht? Ben, wir müssen hier bleiben und ihn anhören.‘ Ben kannte seinen Bruder gut genug, um heraushören zu können, dass er es ernst meinte. Oliver schien auch im Gegensatz zu ihm kein Problem mit „dürfte nicht existieren“ zu haben. Im Gegenteil, er lief nun sogar langsam um den großen Mann herum und fasste ihn immer wieder prüfend an. Der große Mann signalisierte den Schatten hinter dem Fackelfeuer nichts dagegen zu unternehmen. Ben fühlte sich mit der gesamten Situation nicht wirklich wohl. Dieser Mann wusste etwas über sie und er hatte ein Gefolge, welches darauf
trainiert gewesen ist, ihn zu beschützen. Sonst hätte er diese Geste nicht machen müssen. Ben war alarmiert. Dummerweise stand Oliver direkt bei dem Mann und in direkter, greifbarer Nähe des Gefolges. Ben blieb nichts anderes übrig, als wieder zurück zu gehen, wenn er Oliver da herausbekommen wollte.
‚Ok, Oli. Was geht hier vor? Wer ist das? Was weißt du, was ich nicht weiß?‘
‚Ben, ich weiß nicht mehr als du. Vielleicht hast du es nur vergessen oder verdrängt. Mir kam es auch gerade erst wieder zurück in meine Erinnerung. Opas
Bücher. Opas Geschichten- und Märchenbücher. Erinnerst du dich daran? Er hatte die Geschichten selber ausgedacht und sogar, wie es für Märchenbücher üblich ist, Bilder dazu gemalt.‘ Oliver blickte Ben lange und intensiv in die Augen.
‚Ben, das hier ist eine der Geschichten. Die fliegende Fackel, der Soldat hier und die Wälder. Alles das hat Opa uns wieder und wieder vorgelesen. Erinnerst du dich?‘ Ben wurde blass und schwach in den Beinen. Wie konnte das sein? Es waren Geschichten. Märchen. Ja, Ben erinnerte sich auf einen Schlag wieder an einige
der Geschichten. Er hatte auch die Bilder wieder vor Augen. Es passte alles zusammen. Aber es durfte einfach nicht sein.
‚Wie…wie ist das möglich?‘
Der große Mann hatte bislang geschwiegen und die Szene einfach nur beobachtet. Jetzt sah er seine Chance sich geschickt in das Geschehen wieder einbringen zu können. Noch während er seine Lippen öffnete, um das Gespräch aufzunehmen weiteten sich seine Augen und er richtete sich mit angsterfülltem Gesicht zu seiner vollen Größe auf. Seine Konzentration verlagerte sich von
den beiden Brüdern auf irgendetwas, hinter ihnen. Im Wald hinter ihnen. Im Wald zwischen ihnen und dem Hotel, wo sie eigentlich wieder hingehen sollten.
Der große Mann flüsterte ein paar Befehle in die Gefolgschaft und löschte die Fackel, indem er einen Ledersack darüberstülpte. Mit dem nächsten Befehl wurden Ben und Oliver von den Füßen gerissen. Stinkende klebrige Hände pressten sich auf Ihre Gesichter und verhinderten, dass sie laut schrien. Die beiden Männer wehrten sich nach allen Kräften, aber sie hatten keine Chance gegen die Schraubstockartigen Griffe der
Angreifer. Noch während sie hochgehoben wurden, bewegten sie sich auch schon beängstigend schnell in den Wald hinein. Weg vom Hotel. Weg von der Lichtung. Weg vom roten, gellen Licht, welches gerade durch die Bäume brach und sich über die Lichtung hermachte, auf welcher sie gerade noch gestanden haben. Bens Kopf schlug gegen einen Baum und er war auf einen Schlag bewusstlos.