9. Kapitel
Sie würde in einer Stunde alles geben müssen und dass, obwohl sie nicht gut war im Verstellen und Schauspielern.
Vor wenigen Minuten hatte sie sich von Jim verabschiedet und bereitete sich darauf vor, nach Hause zu fahren. Nach Hause - wie sich das anhörte. Zu Hause war sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hier. Hier in ihrem Haus, mit ihrem Dad und sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, mit Jim.
Der Abschied war traurig, weil sie beide nicht wollten, dass die vier Tage schon vorüber waren und weil sie wussten, dass sich so eine Gelegenheit nicht bald
wieder bieten würde. Träumend lehnte Amelie am Türrahmen, schaute auf ihren schlafenden Dad und war im Gedanken doch ganz bei Jim.
Sie hatte sich längst eingestanden, dass auch sie ihn liebte. Irgendwann in den letzten Wochen war es passiert. Langsam hatte er sich in ihr Herz geschlichen und es erobert und nun musste sie damit leben, dass sie, neben ihren Ehemann, einen anderen Mann liebte. Warum war Jim nur wie er war? Alles machte er richtig, ob es die Auswahl der Frühstücks-Croissants war, die Art, wie er mit ihrem Daddy sprach, sein Augenkontakt, auch wenn die Themen noch so heikel wurden oder
seine Umarmungen, einfach so zwischendurch. Immer war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort, hatte immer die passenden Worte auf den Lippen und seine Nähe fühlte sich einfach gut und richtig an. Und trotzdem durfte das nicht geschehen. In einer Stunde war sie wieder dort, wo ihr Platz war. Josef hatte es ihr oft genug und sehr deutlich zu verstehen gegeben. Sie hoffte, dass sein Kongress erfolgreich war und sie nicht sofort wieder Schwierigkeiten bekommen würde. Zum Glück war sie wenigstens standhaft geblieben und hatte ihrem Wunsch nicht nachgegeben, mit Jim zu schlafen. Kurz davor waren sie beide an diesem Morgen
gewesen und doch war sie froh, jetzt mit dem Gewissen zu Josef fahren zu können, dass nichts passiert war. Sie wusste nicht, wie das alles weitergehen würde, die Kostprobe von einem glücklichen Leben hatte sehr gut geschmeckt und doch ahnte sie, dass es eine Kostprobe bleiben würde.
Langsam fuhr sie nach Portland, versuchte die Zeit hinauszuzögern, weil mit jedem Kilometer der Druck auf ihre Brust zunahm. Sie hatte Angst! Diese konnte ihr auch Matthew nicht nehmen, als sie neben ihm stehen blieb und die Scheibe herabließ. Mit Sorgenfalten auf der Stirn schaute er sie bekümmert an
und augenblicklich nahm ihr die Vorahnung fast die Luft zum Atmen.
„Was ist?“, fragte sie, ohne die üblichen Freundlickeitsfloskeln, die sie beide gern austauschten.
„Ich weiß es nicht, Mrs. Baker, aber Mr. Bartons Stimmung ist heute nicht die beste.“
Das genügte als Auskunft, um das gefürchtete Gefühl der Bedrohung auszulösen und trotzdem war sie froh, dass Josef schon hier war. Noch schlimmer wäre es, wenn er erst spät am Abend betrunken heimkommen würde.
„Josef, da bist Du ja schon. Wie war Dein Kongress und wie war die Unterbringung? Hast Du Hunger, soll ich
uns etwas kochen oder wollen wir bestellen?“ So munter, wie Amelie es schaffte, plauderte sie drauf los, als er langsam, wie eine Raubkatze auf sie zukam.
Keine Verstellung - keine gekünstelte Freundlichkeit! Mit einer schallenden Ohrfeige empfing er sie, schaute sie düster und zornig an und brüllte sogleich los. „Ihr denkt wohl, ich bin total bescheuert, Du und Dein blöder Bastard! Genauso habe ich mir das vorgestellt!“ Laut und aggressiv war seine Stimme und der Geruch nach Alkohol drang in ihre Nase. Noch besaß sie in diesem Moment genug Mut um zu kontern, wenn sie auch wusste, dass
dieser sie bald verlassen würde.
„Du warst also nicht in Denver und hast mir stattdessen hinterher spioniert?“ Kalt und trotzig war Amelies Stimme - noch.
„Natürlich war ich in Denver. Einer muss ja das Scheißgeld verdienen, das Du zum Fenster raus pfefferst. Und zum Dank betrügst Du mich mit diesem Mistkerl. Ich habe Euch beide gewarnt, habt ihr das vergessen? Ich - habe - Euch - gewarnt!“, betonte er jedes Wort und stand inzwischen dicht vor ihr, zog heftig an ihren Haaren, um sie so zu zwingen, in sein Gesicht zu schauen. Die Ohrfeige brannte, ihre Kopfhaut schmerzte und sie wusste, dass sie
verloren hatte. Josef zog einige Blätter aus der Tasche seine Jacketts und hielt ihr diese dicht unter die Nase. Sie zeigten Fotos, mindesten fünfzehn Stück und auf jedem war Jims Auto zu sehen. Auf jedem dieser Fotos stand es an der gleichen Stelle vor ihrem Haus und auf jedem war dick das Datum und die Uhrzeit aufgedruckt. Auf dem ersten stieg Jim aus und auf dem letzten, vom Mittag, stieg er ein. Josef hatte jemanden beauftragt, vor dem Haus auf der Lauer zu liegen und diese Bilder zu machen. Gegen eine solche Beweislast gab es keine Argumente und sie probierte gar nicht erst, etwas zu antworten. Tränen liefen ihr längst über
das Gesicht und sie versuchte nur, Abstand zwischen sich und ihren, vor Wut schäumenden Ehemann zu bekommen. „Jetzt sagst Du nichts mehr, Du Flittchen, was?“ Heftig griff er in ihre Oberarme, um sie zum Bleiben zu zwingen und sie zuckte unter dem Schmerz der groben Hände zusammen. „Habt Ihr über mich gelacht, als Ihr es miteinander getrieben habt? Sag? Habt Ihr Euch köstlich amüsiert über den Trottel, der arbeitet, während ihr im Bett rummacht?“ Wütend stieß er sie von sich und nur die Wand hinter ihr, hinderte sie vorm Fallen. Dumpf schlug sie mit dem Hinterkopf an die Mauer, aber inzwischen spürte sie keinen
Schmerz mehr. Wie so oft vorher, hatte sie ihre Empfindungen vom Körper getrennt und hoffte nur, dass es schnell vorbei sein würde.
„Wir haben nicht miteinander geschlafen“, murmelte sie mit gesenktem Kopf, wohlwissend, dass Josef ihr sowieso nicht glauben würde.
„Und im Himmel ist Jahrmarkt!“, brüllt er noch einmal, stapfte zum Eingang und verließ das Haus mit lautem Türknallen. Es würde also noch schlimmer werden!
Kraftlos und ausgelaugt rutschte sie an der Wand hinunter, blieb zusammengekauert am Boden sitzen und langsam kehrten auch die Schmerzen zurück. Wie konnten sie nur denken, dass
ihre Treffen mit Jim unentdeckt bleiben würden? Sie hätte ahnen müssen, dass Josef das Feld nicht kampflos zurücklässt. Eine Weile blieb sie in unveränderter Haltung am Boden sitzen, gab sich ihrem Leid hin und weinte stumme Tränen. Viel später, nachdem sie mit einer heißen Dusche versucht hatte, ihren Körper zu beruhigen, rollte sie sich auf einem Sessel zusammen und erst zu diesem Zeitpunkt setzte ihr Verstand wieder ein.
Alles in ihr schrie nach Jim, nach seiner Nähe, seinem Schutz, seinen Worten und seinen Händen. Aber wie sollte sie diesen Käfig verlassen? Sie wusste, dass Josef seine Drohung wahr machen und
sie finden würde, egal auf welchem Kontinent sie sich verstecken würden. Das wäre das Ende für sie alle. Oder er beendete sein eigenes Leben, wie er es oft genug angekündigt hatte. Wie könnte sie damit leben? Ihr wurde einmal mehr bewusst, dass es keine Chance gab, nicht für sie und Jim, denn Josefs Einfluss war viel zu weitreichend, um ihn zu unterschätzen. Ihr blieb also nur der Funken Hoffnung, dass Josef sich irgendwann ändern würde und sie ihr altes Leben wiederbekämen. In guten, wie in schlechten Zeiten - meldete sich ihr Gewissen beharrlich. Sie musste Jim schützen, wenigstens er sollte glücklich werden.
„Jim …“, versuchte sie das Gespräch zu beginnen, brachte aber kein weiteres Wort heraus, da sie die Tränen wie ein Kloß am Sprechen hinderten. Nach dem ersten Klingeln, war er ans Handy gegangen und hatte sich erfreut gemeldet, weil er ihre Nummer erkannt hatte. Sofort bemerkte er ihre Stimmung und spürte trotz der Entfernung offensichtlich, was passiert war.
Noch einmal setzte sie an und presst den Satz hervor, der alles verändern würde. „Er weiß alles, wir dürfen uns nicht mehr sehen.“ Tränen liefen über ihr Gesicht und weil er nicht sofort antwortete, wurden es immer mehr. Ihm hatte es anscheinend die Sprache
verschlagen, denn sie hörte nur sein Keuchen am Ohr. Sofort folgte jedoch die Diskussion, der sie gern aus dem Weg gegangen wäre. Kraftlos musste sie sich seine Fragen anhören. Warum sie nicht auf der Stelle zu ihm käme, warum sie ihren Mann nicht anzeigte, wie lange sie das noch aushalten wolle und unzählige ähnliche mehr.
„Weil ich Angst habe! Es ist vorbei, Jim. Such Dein Glück woanders, bei mir findest Du es nicht.“
„Amelie, Du bist mein Glück! Ich liebe Dich! Lass mich Dich dort abholen, gemeinsam schaffen wir das, glaub mir! Oder geh allein, Hauptsache … Du gehst!“ Jims Stimme wurde immer leiser
und sie fürchtete sich mehr und mehr, vor dem, was sie wahrnahm. Auch er weinte und das nahm ihr die letzte Kraft. Augenscheinlich begriff auch Jim langsam, in welcher aussichtslosen Lage sie sich beide befanden.
„Du darfst nicht hierherkommen, versprich mir das. Du darfst mich nie wieder treffen, schütze Dich selbst, solange Du es noch kannst. Und - Ich liebe Dich auch!“ Damit beendetet sie das Gespräch und gab sich ihrem gesamten Leid hin, nicht ahnend, dass sie noch lange nicht am Ende angekommen war.
Zum Glück ließ Josef sie in Ruhe, als er
spät in der Nacht zu ihr ins Bett kam. Entweder er war zu betrunken oder ihm hatte sein Ausbruch am Nachmittag genügt. Erleichtert drehte sie sich auf die Seite, nachdem sie minutenlang, atemlos seinen Geräuschen zugehört hatte und endlich wahrnahm, dass er eingeschlafen war. Selbst hatte sie bis dahin keinen Schlaf gefunden. Tiefe Traurigkeit, weil sie Jim nicht wiedersehen durfte, mischte sich mit den Gedanken an ihren Ehemann. War sie zu weit gegangen? Hatte sie eigentlich schon einmal versucht, ihm wirklich zu helfen? Vielleicht fehlten ihm nur die Erinnerungen an die schönen Zeiten, die sie damals hatten.
Während sie sich herumwälzte, zwang sich Amelie, selbst an diese zu denken. Kennengelernt hatte sie Josef beim Tanzunterricht. Sie hatte von ihren Freundinnen den Gutschein zum Geburtstag bekommen und sich schon während der ersten Unterrichtsstunde in Josef verliebt. Von Anfang an, war er an ihrer Seite und machte keinem anderen Tanzpartner Platz. Es war ein schönes Gefühl, von diesem gut aussehenden Mann, um den sie alle beneideten, sicher auf der Tanzfläche herumgewirbelt zu werden. Sie war die Einzige, die zu Beginn jeder weiteren Stunde eine Rose bekam und sie blieb auch die Einzige, die am Ende der letzten eine
Liebeserklärung erhielt. Damals war alles so einfach. Sie hatte gerade ihre Ausbildung als Bibliothekarin abgeschlossen und Josef begann bereits zu der Zeit, auf der Karriereleiter empor zu steigen Sie waren wirklich beneidenswert verliebt und wollten ihr Glück bald mit einem Kind besiegeln. Haus, Hochzeit, Flitterwochen, alles war perfekt, wenn nicht irgendwann, wie aus dem Nichts, sein Problem erwacht wäre.
Vor dem nächsten Morgen fürchtete sie sich, blieb extra lange im Bett, in der Hoffnung, Josef würde bald zur Arbeit fahren. Nachdem sie ihn jedoch immer noch im Haus rumoren hörte, musste sie sich der Situation stellen. Unten
angekommen traute sie ihren Augen nicht. Träumte sie noch von den guten Zeiten oder war sie dabei durchzudrehen? Der Tisch war wunderschön gedeckt, ein großer Rosenstrauß stand in der Mitte und Kaffeeduft zog durch das Esszimmer. Sofort fühlte sie sich gewarnt und blieb am Treppenabsatz stehen, wie ein Tier, das sich den Fluchtweg offen hält. Es passierte aber nichts. Als Josef sie bemerkte, der ohne Anzug und Krawatte, Zeitung lesend am Tisch saß, stand er auf und ging zögernd einige Schritte auf sie zu. Sein Lächeln wirkte ehrlich, nicht aufgesetzt und sehr schuldbewusst. Was passierte hier gerade? Immer noch
stand Amelie auf der letzten Stufe, registrierte die Sonnenstrahlen vor dem Fenster, das reichhaltige Frühstücksmenü und ihren Ehemann in Jeans und Pulli. Jim tauchte mit trauriger Miene ganz kurz vor ihren Augen auf, verschwand aber sofort wieder, zu sehr verwirrte sie das alles.
„Amelie, darf ich etwas sagen? Hörst Du mir zu?“ Josefs Worte waren leise und vorsichtig gewählt und sie traute diesem Frieden immer noch nicht. Trotzdem nickt sie ganz leicht.
„Ich weiß, dass ich es nie wieder gutmachen kann, was ich Dir immer wieder angetan habe. Aber ich will Dich nicht verlieren, Du bist meine Frau, Du
gehörst mir. Ich werde nie wieder trinken, das verspreche ich Dir, von jetzt ab komme ich jeden Tag nach der Arbeit nach Hause. Du musst mir verzeihen. Wenn Du willst, können wir auch ein Baby bekommen, wir müssen nicht noch länger warten. Kannst Du mir vergeben?“
Seine Worte hörte sie, aber sie wusste nicht, was diese zu bedeuten hatten. Waren sie ehrlich gemeint? Wollte auch er einen Neuanfang? War er endlich aufgewacht? Wortlos setzte sie sich an den gedeckten Frühstückstisch und sah nicht, dass hinter ihrem Rücken seine Maske fiel.
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