Viel bin ich in der Welt umhergekommen, viel habe ich gesehen und erlebt, doch nur sehr wenig war so seltsam wie das, was mir in der Grafschaft Werrentheim widerfuhr. Aus diesem Grunde denke ich auch oft daran zurück, besonders wenn ich allein bin und Angst mich überkommen will.
Die Grafschaft Werrentheim lag damals östlich des Rheins. Fast jeden Winkel der deutschen Lande habe ich zu Fuß erwandert, selten reichte das Geld für eine Kutschfahrt und hoch zu Ross saß ich nicht einmal. Langweilig war mir nie, denn stets gab es genug zu sehen und auch ein Buch hatte ich immer in meiner Rocktasche.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, im Gehen zu lesen ohne zu fallen oder vom Wege abzukommen. So hielt ich eines Tages auch Tacitus in den Händen. Anfangs fiel mir das Lesen schwer, doch mit jeder Seite erwachten die Erinnerungen an meinen Lateinunterricht. Viel hat sich seit den Zeiten des alten Römers
verändert, doch nicht so viel, wie es wünschenswert wäre. Bildung, Wissen und Kultur ist immer noch linksrheinisch zuhause. Dort spricht man sogar französisch wie eine Nachtigall singt. Rechtsrheinische sagt man "Missiö", hält sich darum für gebildet und doch sind die Herren so dumm wie die Bauern, denen Zeitlebens jeglicher Schulbesuch versagt bleibt. Dort wächst die Dummheit, was nicht verwunderlich ist.
Bei Koblenz, nicht weit der Stelle, wo die Mosel in den Rhein mündet, ging ich über den mächtigen Fluss. Mittelrhein nennt man ihn dort und stundenlang könnte ich ihm nur beim Fließen zusehen. Genau das tat ich, doch zu lange saß ich auf einem Stein. Das war ein Fehler, was ich wusste, doch die Folgen vermochte ich nicht abzusehen. Ich musste mich sputen, um ein mir bekanntes Gasthaus noch zu erreichen. Eigentlich hatte ich anderes im Kopf gehabt. Erst kurz vor Mitternacht
erreichte ich mein Ziel. Der Wirt hätte zu so später Stunde bestimmt die Tür nicht geöffnet, geschweige denn noch ein Essen bereitet, doch mein Gesicht war ihm von anderen Reisen noch gut bekannt, also ließ er mich ein und eine warme Suppe hatte er auch noch für mich.
"Wo soll es denn hingehen?" fragte er mich kein bisschen müde, worauf ich ihm antwortete: "Ein festes Ziel habe ich nicht. Nach Osten oder nach Südosten, wohin es mich auch treibt."
Da lachte der Wirt. "Oder vielleicht nach Nordosten, was?"
Ich nickte vergnügt und stimmte in sein Gelächter ein. "Doch möchte ich ungern alleine reisen. Wer weiß schon, wie sicher die Straßen heutzutage sind. Ich hatte gehofft, einen Reisegefährten bei Euch zu finden und mich mit ihm, wenigstens für einen Teil des Weges, zusammenzutun."
"Nun, da habt Ihr nicht viel Glück oder doch. Außer Euch habe ich nur einen Gast. Wohin er
will, das sagte er nicht, doch kommt er aus Lothringen und spricht sogar ein ausgezeichnetes Deutsch. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, es zieht ihn nach Osten."
"Vortrefflich! Wenn Ihr ihn morgen früh vor mir seht, so bittet Ihn doch zu warten, auf das wir uns besprechen und, wenn es beiden genehm ist, eine Fahrtgemeinschaft bilden."
"Das will ich gerne für Euch tun."
Zufrieden löffelte ich meinen Teller leer. Tief im meinem Inneren hatte ich mich bereits entschieden, denn jeder Mitreisender war mir lieber als gar keiner. Ich hätte mir meinem zukünftigen Kameraden vorher beschauen sollen.
Mein Bett war hart, genauso wie ich es mochte und auch wenn die Nacht nur kurz war, erwachte ich am nächsten Morgen doch ausgeruht und bereit für neue Taten. Die wenigen Dinge, die ich bei mir trug waren schnell eingepackt. In der Stube nickte der Wirt mir zu und zeigte auf einen Tisch in der Ecke.
Dort saß ein Mann und verzehrte Brote als Frühstück.
"Einen schönen guten Morgen", wünschte ich ihm und stellte mich vor.
"Auch Euch einen guten Morgen", erwiderte der Mann, bot mir den Platz neben sich an und kaute vergnügt weiter. "Der Wirt hat mir euren Vorschlag unterbreitet. Ich muss euch sagen, dass ich nicht abgeneigt bin. Nur weiß man nicht, wem man heute noch trauen kann. Doch der Herr Wirt hat Euch als vertrauenswürdige Person beschrieben und er kennt euch ganz offensichtlich schon fast ebenso lang, wie ich mit ihm bekannt bin. Mein Weg führt mich nach Nürnberg."
Der Mann war kräftig gebaut, hatte eine rosige Gesichtsfarbe und einen Rock mit - wie ich glaubte - vergoldeten Knöpfen. Sein Gesicht lachte mich die ganze Zeit an, während er sprach. Das tat er gerne und viel und selbst wenn ich wollte, ich könnte gar nicht all das
wiedergeben, was er von nun an den lieben langen Tag von sich gab, denn das Meiste ist mir entfallen, was nicht so schlimm ist, denn es tut nichts zur Sache.
"Bis nach Nürnberg wird unsere Fahrtgemeinschaft nicht halten, denn dort bin ich schon oft gewesen", antwortete ich in einer der wenigen Pausen, die mein Gegenüber machte. "Doch die Richtung stimmt. So lasst uns eine Teil des Weges gemeinsam gehen, so als wären wir alte Freunde."
Ich hatte einen Reisegefährten.
Der Wirt brachte auch mir einen Imbiss und während ich schweigend aß, wurde ich aufs köstlichste unterhalten. Anekdote folgte auf Geschichte und manchmal streute mein fröhlicher Freund noch einen Witz ein. Dann war es Zeit zum Aufbruch. Ich beglich meine Rechnung. Der Wirt kam mir mit dem Preis sehr entgegen - meinem Gefährten nahm er für die gleichen Leistungen fast das Doppelte ab - was
mir sehr genehm war, mich ein wenig verwunderte, war der andere ihm doch auch gut bekannt.
"Ich weiß doch, dass euer Geldbeutel schmal ist", zwinkerte er mir zu. "Kommt einfach recht bald wieder."
Das konnte ich ohne Lüge versprechen.
Der Weg führte uns zunächst direkt nach Osten. So früh am Morgen waren noch nicht viele Menschen unterwegs - die Bauern waren, schon bevor ich aufstand, auf ihre Felder gegangen - und wir hatten die Straße zunächst für uns allein. Mein Gefährte kam tatsächlich aus Lothringen und er sprach ein gutes Deutsch aus dem einfachen Grund, weil er es von klein auf gelernt hatte. Gebürtig aus Soest in Westfalen wollte er sich nicht auf den fruchtbaren Böden der Soester Börde abrackern und so hatte es ihn schon in jungen Jahren nach Brüssel verschlagen. Das geschäftige Treiben in dieser reichen Tuchhändlerstadt gefiel ihm gut
und nachdem er sich kurz und erfolglos als Leichtmatrose auf einem Schoner verdingt hatte, war er Gehilfe eines umtriebigen flämischen Kaufmannes geworden. Beredsam wie er war, hatte er schnell das Vertrauen seines Lohnherren gewonnen, der ihn gerne mit Aufträgen fortschickte. Wenn die Zeit es erlaubte, ging er zu Fuß und sparte so etwas von dem Geld, das er für die Reise bekommen hatte, denn übriggebliebene Reste durfte er in der Regel für sich verwenden. So kam es, dass seine Gewänder zwar einfach wirkten, doch wer genau hinschaute, erkannte die hervorragende Qualität von Hose und Jacke. Meine durchgelaufenen Stiefel - ein Erbstück meine Großonkels - wirkten schäbig neben den seinen, doch noch erfüllten sie ihren Zweck. Gerne erzählte mein Gefährte von seine Reisen, reihte dabei aber zunächst nur eine Erzählung eines guten Geschäftes an die andere und das ermüdete mich recht bald. Ich selbst habe nicht
wenig von der Welt gesehen, wenn ich auch noch nie in London oder Nowgorod gewesen bin, doch bildete ich mir ein, dabei weit mehr gesehen zu haben, als mein geschäftiger Reisegefährte.
Langsam füllte sich die Straße und immer öfters mussten wir Kutschen und Fuhrwerken aus dem Weg gehen, die uns, mal langsam, mal schnell, überholte. Doch das machte uns nichts aus. Tatsächlich lachten wir über die Eile der anderen und nun zeigte sich, dass mein Begleiter nicht nur an Taler und Gulden dachte. Manch seltsame Anekdote über fremde Länder und die Gebräuche der Menschen dort wusste er nun endlich zu erzählen und zum ersten Mal an diesem Tag redete auch ich viele Sätze hintereinander, denn seltsame Dinge waren auch mir schon an anderen Orten widerfahren. Jedoch war nichts mit dem vergleichbar, was noch vor mir lag.
Gegen Mittag oder nach einer Woche bogen wir
auf eine weniger belebte Straße ab, die nach Südosten führte. Mehrere Hügel galt es nun zu erklimmen, doch mein Gefährte schritt ebenso aus wie ich. Das hatte ich ihm kaum zugetraut, war er doch ein wenig füllig, aber seine Füße waren an lange Märsche gewöhnt. Auch mussten wir nun öfters dunkle Wälder durchqueren, doch das jagte uns keine Angst ein, denn schließlich war es helllichter Tag und wir waren zu zweit. Nach einer ganzen Weile juchzte mein Reisegefährte vergnügt, wusste er doch genau, wo wir waren und das nicht weit entfernt ein Wirtshaus am Wegesrand lag. Dort kehrten wir ein. Der Imbiss war einfach, aber herzhaft und auf Kosten meines Gefährten trank ich Rheinwein. Ich hätte mir höchstens ein Bier bestellt, wahrscheinlich aber mit Wasser Vorlieb genommen. Die Sonne schien durch das offene Fenster und der leichter Wind trieb einen würzigen Geruch in die Gaststube. Darum saßen wir beide wohl eine ganze Zeit
still beisammen und erfreuten uns unseres Lebens. Das hätten wir nicht tun sollen. Nachdem wir ein kurzes Stück gegangen waren und die Geschwindigkeit des anderen kannten, hatten wir uns darauf geeinigt, am Abend in Werrentheim einzukehren. Kein kurzes Stück Weg hatten wir uns da vorgenommen, aber dennoch war es schaffen. Eine kurze Pause war da mit eingerechnet, doch viel zu lange machten wir Rast. Als wir das bemerkten, war es bereits Nachmittag. Kurz besprachen wir uns, verwarfen jedoch den Gedanken, hier zu übernachten, auf mein Betreiben hin, soviel sei gesagt. Letztlich sollten wir bis Werrentheim kommen, doch unterwegs geschahen seltsame Dinge.
Wir kauften uns bei den Wirtsleuten noch ein Paket mit Würsten, Äpfeln und Birnen und machten uns dann auf den Weg. Es dauerte gar nicht lange und der Himmel, der bis dahin noch strahlend blau gewesen war, zog sich zu und
dunkle Wolken hingen über uns zwei hastigen Wanderern. Der Wind war eingeschlafen und so konnte sie niemand vertreiben. Wenn ich zurückdenke, waren es seltsame Wolken, mehr schwarz als dunkelblau und einmal glaubte ich sogar ein böses Gesicht in ihnen zu sehen. Ich würde das nicht erzählen, wenn nicht just in diesem Moment auch mein Gefährte verstört in die Luft geschaut hätte. Doch womöglich spielt mir da auch meine Erinnerung einen Streich. Wie vieles deucht uns im Nachhinein seltsam, je länger wir darüber nachsinnen.
Mit der Zeit wurde mein Gefährte ganz still. Auch die Würste, Äpfel und Birnen vermochten seine Stimmung nicht zu heben. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich sein fröhliches Geplapper vermisste. Ich kannte ihn erst einen Tag lang, doch schon waren er und seine ganze Art mir ans Herzen gewachsen.
Vielleicht war es aber auch nur die Anstrengung, denn wir hatten zwei recht steile
Berge zu meistern. Auf der Spitze des letzten der beiden angelangt, erkannten wir mehrerlei. In der Ferne lag Werrentheim, das Ziel unser heutigen Etappe und zu unser rechten machte sich die Sonne im noch wolkenlosen Westen ans Untergehen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit würden wir die Stadt erreichen, soviel war klar, und zwischen uns und einer Übernachtungsmöglichkeit lag ein ausgedehnter Wald.
"Da erwartet uns ja noch einiges", sagte mein Gefährte ein wenig beklommen.
"Es ist nur ein Wald", versuchte ich ihn aufzumuntern und sprach sehr viel fröhlicher, als ich mich fühlte. "Bäume, die nebeneinander stehen. Die haben noch niemandem etwas böses getan und das, seit es Menschen gibt. Dieser Wald ist nicht anders als jene, durch die wir heute bereits gelgangen sind."
"Er ist sehr viel größer. Seht ihr das nicht? Er reicht mit seine Ausläufern fast bis an die Stadt
heran, umkreist sie und zieht sich dann bis zu dem Schlossberg hinauf."
"Er umkreist die Stadt nicht", verbesserte ich ihn. "Im Süden und Osten sehe ich freies Land, Äcker und Felder. Und die wenigen Bäume auf dem Schlossberg gehören bestimmt zu einem Park, glaubt mir, und ein Gärtner beschneidet sie sorgsam, damit sie nicht in den Himmel wachsen."
Ich hatte meinen Reisegefährten nicht überzeugt, ihm aber dennoch ein wenig Mut eingeflößt. So machten wir uns an den Abstieg. Recht bald kamen wir an einem von Flechten überwachsenem Grenzstein vorbei. Wir betraten die Grafschaft Werrentheim.
Bergab geht es sich immer leichter und so besserte sich unsere Stimmung. Mit einer Anekdote versuchte mein Gefährte den dunklen Wolken und der untergehenden Sonne zu trotzen. Doch die Erzählung war lang und am Fuß des Berges war er noch nicht zum Ende
gekommen. Nun lag der Wald vor uns und es war ein finsterer Wald. Ich gebe es zu, wir blieben stehen und schauten uns an, denn wir fürchteten uns beide ein wenig. Doch wo wir waren, konnten wir nicht bleiben, also gingen wir weiter. Wäre ich allein gewesen, ich wäre umgekehrt. Das Licht des Tages war bereits vergangen. Nur direkt über uns lichteten sich die Kronen der Bäume und schwaches Sternenfunkeln beschien den Weg. Ständig schauten wir auf unsere Füße, um nicht zu fallen und in den Himmel, um nicht vom Wege abzukommen. Mein Gefährte klapperte mit den Zähnen und ich berührte ihn kurz an der Schulter. Es war nicht so, dass er mehr Angst hatte als ich, er zeigte sie nur offen. Ich biss auf die Zähne und war mutig für uns beide. Zumindest tat ich so.
"Huuu, huuu!" hallte ein Ruf von irgendwo her.
"Wer war das?" Mein Gefährte erschrak aufs Heftigste. "Ein Todesvogel! Ein Todesvogel!"
rief er.
"Nun reißt Euch doch zusammen. Das war doch nur der Ruf eines Kauzes."
"Der Ruf eines was?"
"Eines Kauzes." Wie zur Bestätigung flatterte irgendwo in der Dunkelheit etwas an uns vorbei. Hören konnte ich es nicht, doch ich glaubte zu spüren, wie die Spitze eines Flügels meinen Kopf schnell berührte. Ich riss die Augen auf und blieb wie angewurzelt stehen. Das erste sah mein Weggefährte nicht und das zweite fiel ihm nicht weiter auf, denn er stand ja bereits. Es dauerte eine Zeit, bis ich meine Sprache wiederfand.
"Ein Kauz. Eine kleine Waldeule. Ein Vogel, der nur in der Nacht auf Beutejagd geht. Mäuse frisst er gern. Für Menschen ist er ungefährlich. In der Tat ist er sogar recht nützlich, ein solcher Kauz."
"Seit Ihr sicher?" Noch immer fühlte mein Gefährte sich unwohl.
"Ganz bestimmt. Ich habe schon viele in meinem Leben gesehen", sagte ich in Erinnerung an die einzige Eule, die ich je zu Gesicht bekommen hatte.
"Wenn Ihr das sagt, will ich es glauben. Dann geht es mir schon ein bisschen besser."
Ich hielt das zunächst nicht für wahr, doch mein Gefährte log nicht. Als wir nun weitergingen, war sein Schritt auf einmal sehr viel fester und es dauerte gar nicht lange und er begann wieder zu erzählen. Jedoch tat er das vielleicht auch nur, um so die viele Geräusche nicht hören zu müssen, die in einem Walde sind, das Knacken und Rascheln, das Heulen und Stöhnen, das Knarren und Krachen, das Pfeifen und Quietschen und all die anderen Töne, die Bäume und Tiere mit Vorliebe Nachts von sich geben und die der Mensch nicht zu deuten vermag. Wie angenehm und vertraut ist einem da doch die eigene Stimme, oder die eines Freundes. Mir selbst war das nicht unangenehm,
jedoch hörte ich kaum, was er sagte, denn ich musste auf den Weg achten. Er tat das nicht und so manches Mal musste ich meinen Gefährten aus einem Graben ziehen.
Plötzlich erschienen in einiger Entfernung Lichter auf dem Weg. Sie kamen von Fackeln.
"Da muss jemand aus dem Wald getreten sein", sagte mein Gefährte wenig betrübt. "Lasst uns zu diesen Leuten gehen." Wir gingen.
Noch heute mag man mich dafür einen Narr heißen. Wie konnte ich nur so dumm sein. Mein Begleiter war der Gehilfe eines Kaufmanns, doch ich war ein studierter Mann. Es gibt tausend Gründe, warum auf ein Mal hundert Schritte vor einem nächtens in einem Wald Menschen mit Fackeln zwischen den Bäumen hervortreten, doch kaum einer davon ist ehrenwert. Im besten Fall suchen sie Ärger, doch zumeist sind es Wegelagerer. Das vor uns waren Wegelagerer. Noch wäre Zeit gewesen, Reißaus zu nehmen. Doch als ich das erkannte,
waren sie bereits bis auf wenige Schritte an meine Begleiter heran, der ein Stückchen vor mir ging. Es war ein Haufen von knapp einem Dutzend Männern und zwei Weiber waren auch dabei, wie ich im flackernden Schein der Fackeln erkannte. Die meisten waren mit Forken und Dreschflegeln bewaffnet, doch zwei trugen Piken und einer, der ihr Chef war, denn nur er redete später, hatte ein Schwert in der Hand. Kurz überlegte ich, mich in die Büsche zu schlagen. Doch ich konnte meinen Kameraden nicht im Stich lassen. Als ich zu ihm aufgeschlossen hatte, ruhte die Spitze des Schwertes bereits auf seiner Brust. Ich musste nicht in seine Augen schauen, um seine Angst zu spüren, denn mir ging es nicht anders.
"Ei, wen haben wir den da? Zwei müde Wanderer, will ich meinen", höhnte der Chef der Bande. Ihn fehlte ein Schneidezahn und darum begleitete ein leises, unregelmäßiges Pfeifen jedes seiner Worte. Seine Spießgesellen lachten
böse. Besonders schrill war das Gelächter der Weibsbilder.
"Wir wollen euch nichts tun", erwiderte mein Gefährte zitternd.
"Oh, ihr wollt uns nichts tun? Da sag ich aber: Vielen Dank." Der Chef verneigte sich spöttisch. "Das ist eine gute Nachricht. Viel Gesindel treib sich in diesen Wäldern herum. Als wir euch kommen sahen, dachten wir schon: Sieh an, zwei Räuber. Aber ihr wollt uns nichts tun. Das beruhigt uns doch sehr." Das Gelächter der anderen wurde immer lauter und der Chef sonnte sich in diesem Beifall.
"Was wollt ihr von uns?" Gerne würde ich behaupten, ich hätte diese Worte mit fester Stimme gesprochen, doch das vermag ich nicht mehr zu sagen. Wenn ich an das Gesicht des Bandenchef zurückdenke, ist es eher wahrscheinlich, dass ich piepst wie eine Maus.
"Was wir von euch wollen? Nehmt es bitte nicht persönlich, mit jedem andern würden wir
auf die gleiche Weise verfahren, aber wir wollen euch etwas antun!" Die letzten Worte brüllte er. „Her mit euerm Geld! Wir sind Räuber!"
Ich lachte ihm ins Gesicht. Sein Schwert zuckte in meine Richtung, aber ich konnte in dieser Nacht nicht aufhören, ein Narr zu sein.
"Her mit eurem Geld!", versuchte ich seine lächerliche Sprechweise nachzuahmen. Der Chef der Bande wurde wütend auf den Narr. "Sehe ich so aus, als würde ich Geld mit mir herumtragen? Seht mich an. Das Leder meiner Stiefel ist eingerissen, die Sohlen durchgelaufen, meine Hose hatte Löcher an den Knien und mein Wams ist älter, als ich es bin. Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass Ihr oder einer eurer Gesellen so schäbig aussieht wie ich."
Das war nicht ganz die Wahrheit, denn jedes Loch, dass sich in Hose oder Wams zeigte, stopfte ich unverzüglich. So konnte jeder sogleich den armen, aber stolzen Mann
erkennen.
Der Chef der Band beäugte mich. Er knirschte mit den Zähnen, denn es gefiel ihm nicht, was er sah. "Ihr habt schon recht. Seid ein rechter Lump, arm wie eine Kirchenmaus, das sieht man sogleich." Dann wandte er sich meinem Gefährten zu. „Aber euer Freund hier scheint ganz gut im Futter zu stehen. Und er hat Knöpfe aus Gold." Seine Augen leuchteten.
Ich musste das Spiel weiterspielen, auch wenn ich nicht wusste, was am Ende dabei herauskommen würde.
"Knöpfe aus Gold, das ich nicht lache! Habt ihr was auf den Augen? Noch nicht einmal vergoldet sind die. Erkennt Ihr Messing nicht, wenn Ihr es seht? Wir beide kennen uns schon seit Jahren, ziehen gemeinsam durch die Lande, helfen hier aus, suchen dort eine Arbeit. Unser letzter Herr konnte nur einen von uns bezahlen, darum schenkte er meinem Freund diesen Rock. Er sieht neu aus, doch das ist nichts als gute
Pflege. In einem Monat ist er ein so elendes Stück Stoff wie meine Jacke. Und das letzte Geld haben wir gestern Mittag für einen Laib Brot gegeben. Seit dem knurrt mein Magen und seiner nicht weniger. Wir wollen nach Werrentheim der Arbeit wegen."
Sehr überzeugt, aber nicht höhnisch klingend sprach ich diese Worte, denn ich wollte diese Räuber davon überzeugen, dass wir zwei ganz arme Schlucker waren und sie nicht reizen. Für einen Augenblick, so schien es, war mir das auch gelungen. Der Chef legte die Stirn in Falten. Doch dann grinste er und eh ich mich versah, stieß er mit dem Schwert nach meinem Gefährten. Die Klinge traf eine Rippe und glitt ab, doch er war verwundet. Stöhnend brach mein Begleiter zusammen. Blut tropfte auf den Weg, vom Schein der Fackeln entsetzlich beschienen. Doch der Chef der Bande hatte sein Ziel erreicht. Er bückte sich und hielt einen Knopf in der Hand. Lange betrachtete er in,
dann biss er hinein.
"Ha!", rief er laut aus. "Für dumm verkaufen wollt Ihr mich! Messing!" Dieser Knopf ist aus purem Gold!" Das überraschte mich wirklich.
"Euer Freund ist ein rechter Geldsack! Ihn lassen wir zuerst über die Klinge springen!"
Keiner von uns hatte den Hufschlag des Pferdes gehört. Wie aus dem Nicht preschte ein Reiter heran und sprengte die Räuber auseinander. Dabei hieb er mit einem Säbel, wie ihn Husaren zu tragen pflegen, auf die Unholde ein. Um mich und meinen verwundeten Gefährten machte er eine eleganten Bogen. Dann wendete er sein Pferd auf der Stelle und kam zurück. Ich bin mir ganz sicher, dass er dem Chef der Bande die Hand mit den Schwert vom Arm trennte. Unter wildem Gebrüll, angsterfüllt und voller Schmerzen, flüchteten die Räuber in den Wald. Der Reiter zügelte sein Pferd. Ich beugte mich zu meinem Gefährten hinab. Er jammerte leise vor sich hin, doch er
war am Leben. Dann ergriff ich eine der Fackeln, welche das Gesindel auf seiner Flucht fallen gelassen hatte und beleuchtete den Reiter. Sein Pferd war großer Rappe, dessen schwarzes Fell im Schein der Fackel glänzte. Das Tier schwitzte, doch es schien ihm nichts auszumachen. Den Mann will ich näher beschreiben. Er trug eine bunte Hose, die viel gebraucht, aber noch gut in Schuss war. Die Füße steckten in blitzblanken Stulpenstiefeln. Ich wusste, was solches Schuhwerk kostete. Allein von dem Preis für das Leder würde ich ein ganzes Jahr lang gut leben können. Über einer schwarzen, fein geschnittenen Jacke trug er einen Harnisch, der die Brust des Reiters schütze. Das Metall war hauchdünn, doch es war stark und widerstandfähig. Ein erfahrener Plattner musste dieses Stück getrieben haben. Das Schwert war, wie ich jetzt sah, doch keine leichte, sondern eine schwere Waffe. Am mächtigen Heft reichlich verziert und glänzte sie
silbern und ich hatte keinen Zweifel, dass sie - wenigstens in Teilen - auch aus Silber gemacht war. Die Klinge war breit und nur vom Ansehen konnte einem Mann Angst und Bange werden. Das Gesicht des Mannes war fein geschnitten. Er hatte kleine Augen und schmale Lippen. Bei allen anderen Menschen hätte ich von einer Hackennase gesprochen, doch diese erinnerte eher an den Schnabel eines Adlers. Kantige Wangenknochen vervollständigten den Eindruck eines entschlossenen Mannes. Am Ende einer hohen Stirn waren die Haare nach hinten gekämmt und im Nacken von einem Knoten gezähmt. Das war heute gar nicht mehr in Mode.
"Wie geht es eurem Gefährten?" wollte der Mann wissen. Er sprach in einem befehlsgewohnten Ton.
Erneut beugte ich mich zu meinem Gefährten hinab. Der schaffte es sogar mich anzulächeln. "Ich glaube, das Schwert ist an einer Rippe abgeglitten. Die Verwundung scheint nicht
schwer. Er hat Glück gehabt."
"Ja. Glück gehabt, das kann man wohl sagen. Ich komme nicht oft hier vorbei."
"Habt vielen Dank, mein Herr. Ich dachte schon, unser letztes Stündchen hat geschlagen." Das auszusprechen fiel mir nicht schwer, denn ich war dankbar.
"Da habt Ihr wohl recht. Dies Gesindel macht schon viel zu lange diesen Wald unsicher. Leider kann ich mich nicht das ganze Jahr darum kümmern. Um so mehr erfreulicher ist es, das ich diesmal etwas Gutes tun konnte."
"Das habt Ihr in der Tat."
"Könnt ihr alleine weiter? Nach weniger als einer Meile kommt auf der rechten Seite ein Herberge. Dort wird man sich eurer annehmen."
Es war ein wenig mühsam, meinem Reisegefährten aufzuhelfen. Er stöhnte immer noch, doch glaube ich, dass es mehr dem Schrecken als dem Schmerz gezollt war. Vorsichtig legte ich seinen Arm um meine
Schulter. Dankbar lächelte er mich an.
"Ich denke, das werden wir schaffen."
"Dann ist es gut. Denn ich werde diese Räuber verfolgen. Hofft mit mir, dass ich sie noch in dieser Nacht zur Strecke bringe."
Er wollte seinen Rappen schon antreiben da rief ich: "Herr, verratet mir noch euren Namen."
Über diese Frage schien der Reiter sehr glücklich. Das ernste Gesicht lächelte uns freundlich an. "Ich bin Hrimbold von Werrentheim. Wenn Euch jemand fragt, dann sagt, Hrimbold von Werrentheim habe euch gerettet, er habe etwas Gutes getan."
"Habt keine Sorge, Herr. Einem jedem, der diese Geschichte hören will, werde ich sie erzählen und den anderen auch. Lebt wohl, Hrimbold von Werrentheim!"
Der Reiter trieb sein Pferd an. Sobald er den Schein der Fackel verlassen hatte, war es, als habe der Erdboden ihn verschluckt.
Ich musste mich um meinen Gefährten kümmern. Tatsächlich war die Herberge nicht weit, doch es kostete mich weit mehr Kraft, als ich gedacht hatte, ihn dorthin zu bringen. Vor der Tür rief ich laut und sofort wurde uns geöffnet. Als man sah, in welchem Zustand wir waren, führten uns helfende Hände sofort in die Schankstube. Der Wirt schickte nach dem Wundarzt, der glücklicherweise nur weniger Häuser entfernt wohnte. Bald kam ein ältlicher, aber energischer Mann herbei und untersuchte meinen Gefährten. Tatsächlich war sein Zustand nicht besorgniserregend, doch er hatte Blut verloren. Die Wunde wurde gereinigt, dann brachten die Mägde unter den strengen Augen des Arztes den Kranken auf ein Zimmer. Auch mir riet man, mich hinzulegen, doch ich war viel zu aufgeregt um an Schlaf zu denken. Der Wirt und nach ihm noch viel andere spendierten mir ein Bier und ich erzählte unsere Geschichte. Ich endete mit den Worten: "Ich denke, der Graf von
Werrentheim hat uns gerettet."
Da brach heiteres Gelächter aus. Das überraschte mich und ich war auch ein wenig verärgert, denn das war nicht die Ehre, die unserm Retter eigentlich zukam.
"Wieso wird hier gelacht?" wollte ich wissen.
"Nun", meinte ein dicker Mann, der nur der Pfarrer seinen konnte. "Wir lachen, weil der Graf siebenundachtzig Jahre alt ist und das Schloss seit mehrere Jahren nicht mehr verlassen hat. Die Gicht, heißt es, doch es könnte auch was anderes Sein. Der Herr mag ihn noch lange am Leben erhalten, denn unser Graf Heinrich ist nicht der schlechteste Fürst, den diese Grafschaft je gesehen hat."
"Sein Sohn, vielleicht ..." begann ich, wurde jedoch sofort von einem anderen Mann, einem Kaufmann der Kleidung nach zu urteilen, unterbrochen.
"Das ist ja das Unglück. Drei Frauen hat er gehabt. Alle sind im Kindbett gestorben. Und
immer waren es Mädchen. Zwei von ihnen haben die ersten Jahre nicht überstanden. So haben wir nur eine Brunhild von Werrentheim."
"Ihr Mann?"
Wieder brach lautes Gelächter los. "Brunhild von Werrentheim ist nicht gerade eine Frau, die ein Mann heiraten will. Schön ist sie, ohne Frage, doch auch ein böses, zänkisches Weib. Hat ihren Vater doch tatsächlich solange genötigt, bis er sie auf eine Universität geschickt hat. Und natürlich musste es Paris sein. Das ist ganz schön ins Geld gegangen. Für Männer hat sie aber scheinbar nichts übrig. Viele haben ihr den Hof gemacht. Unsere Grafschaft mag zwar klein sein, aber hier ist man nicht unvermögend." Der Kaufmann reckte das Kinn.
"Waren ihr alle aber nicht gut genug", nahm der Pfarrer die Erzählung wieder auf. "Fein angezogene Männer aus alten Familien waren dabei. Und alle hatten so gute Manieren. Aber
für Frau Brunhild" - er sprach den Namen ohne eine Hauch von Anerkennung aus - "war keiner gut genug. Sie ging lieber ihrem Gewerbe nach."
"Ihr Gewerbe?" fragte ich.
Einige Männer kicherten
"Oh, sie hat in Paris Medizin studiert. Habe ich das nicht gesagt? Wenn unser Wundarzt nicht aufpasst, macht sie ihm noch den Platz streitig!"
Nun brach dröhnendes Gelächter in der Schankstube aus. Ich nahm einen langen Schluck und verbarg so mein Gesicht hinter dem Bierkrug. Sonderlich sympathisch waren mir diese Leute nicht. Ich wollte nur noch austrinken, nach meinem Gefährten sehen und mich dann zur Ruhe begeben. ’Diesen Dummbeutel’, dachte ich, da sagte ein kleines verhutzeltes Männlein, dass ganz in schwarz gekleidet bisher im Hintergrund gesessen hatte: "Nur gut, das Ihr Räubern über den Weg gelaufen seid."
"Wie bitte? Mit dem Schwert wurde nach meinem Gefährten gestochen."
"Pah, was ist schon ein Schwerthieb, wenn nur eine kleine Wunde dabei herauskommt."
Es wurde still in der Schankstube. Ich war zu erbost, um gleich etwas zu erwidern.
"Was ist schon ein Schwerthieb, wenn nur eine kleine Wunde dabei herauskommt", wiederholte das schwarze Männlein genussvoll, "gegen den Fluch des Reiters!"
Da überkam es mich. Ich vermag bis heute nicht zu sagen, was es war, das mir einen solchen Schock versetzte. Vielleicht war es das laute Schweigen der Männer um mich herum, die bis eben noch fröhlich geplappert hatten oder die boshaft erscheinende Zufriedenheit des schwarzen Männlein. Mir kamen die bedrohlichen Wolken in den Sinn - Unheilsboten, das erkannte ich nun - und ich dachte an den finsteren Wald am Fuße des Berges. Hatten die Bäume nicht schon aus der
Ferne gerufen?
"Bleibt fort, wenn euch euer Leben lieb ist!"
Und mir war es, als erlebte ich die Unruhe meines Reisegefährten noch einmal. Denn sie hatte nun mich ergriffen. Mein rechtes Bein begann, auf und nieder zu wippen. Eine bedrohliche Kälte kletterte über meinen Rücken. Die Furcht, bis zu diesem Zeitpunkt vom Behauptungswillen in die Schranken verwiesen, brach sich ihre Bahn. In meinem Kopf nahm das Gesicht des Chefs der Wegelagerer Gestalt an. Ich hatte Angst. Ich hatte Angst.
"Wir haben heute die Nacht vom 22. auf den 23. Juli, wie Ihr sicher wisst", begann das schwarze Männlein seine Erzählung, nur um dann genüsslich zu wiederholen: "Der Fluch des Reiters!
Damit erreicht es, was er wollte. Alle um mich herum wurden noch ein wenig stiller, sofern dies überhaupt möglich war. Einer rückte näher
an den andern und ich merkte, wie ich selbst die Schultern ein Stück nach oben schob, wie in Erwartung eines heftigen Gewitterregens.
"Vor vielen, vielen Jahren war die Grafschaft Werrentheim nicht sehr viel größer, als sie es heute ist, doch ärmer. Arm wie Kirchenmäuse waren die Leutchen. Alle, bis auf einen. Der Graf von Werrentheim war ein wohlhabender Mann, ja, man sagte, er habe genug Gulden, um die ganze Grafschaft, seinen Besitz eingeschlossen, noch einmal zu erwerben. Doch warum sollte er kaufen, was ihm bereits gehörte? Ein jeder Mann, jedes Weib, Greise und Kinder, sie alle waren nicht nur Untertanen, sondern auch abhängig in ihrem Wohl und Weh vom Grafen. Nun kann Macht den Menschen verführen und Geld ihn irreleiten, doch beides auf einmal verdirbt den Charakter, soviel ist einmal sicher."
Das schwarze Männlein schaute auf den Pfarrer und es lag nicht wenig Häme auf seinen
verhutzelten Zügen, denn der Geistliche hielt seinem Blick nicht stand und drehte schamhaft das Gesicht zur Seite.
"So kann es nicht verwundern, dass der Graf sich bald aufführte, als wäre er der Aufseher und die Menschen der Grafschaft das unterjochte Volk des Mose. Das meiste zu ertragen hatten aber seine Bediensteten in Haus und Hof. Wenn der Zorn den Grafen überwältigte, soll er sich des öfteren der Peitsche bedient haben."
"Das hätte Gott niemals zugelassen!", ereiferte sich der Pfarrer nun, redete dabei aber mit so brüchiger Stimme, dass er eine Gegenrede geradezu herausforderte.
"Gott hat damals sehr viel zugelassen!" Das schwarze Männlein hatte seine Stimme erhoben. Es sprach überraschend laut. "Vielleicht hat er damals ja Urlaub gemacht." Zu meiner Linken kippte ein Krug vom Tisch und weit hinten in der Schankstube verlosch eine Kerze. "Doch ich
will die Geschichte weitererzählen, denn der Fremde kennt sie ja nicht." Nun schaute er mir in die Augen. Kälte durchfloss mich, ohne das die Tür oder ein Fenster geöffnet worden war.
"Ihr versteht nun sicherlich, dass der Graf ein finsterer Gesell war. Angst und Schrecken verbreitete er alleine schon, wenn die Menschen an ihn dachten. An vielen Frauen soll er sich vergangen haben, doch keine hat sich je beschwert. So erzählte man damals zumindest. Dann kam der Sommer. Ein junger Wildhüter stand in den Diensten des Grafen und zu seinen Aufgaben gehörte es, sich um die Forellenteiche zu kümmern. Tüchtig war er und verrichtete seine Aufgaben stets mit Bedacht. Am Abend des 21. Juli kam der Graf zu den Teichen geritten, denn er hatte ein Auge auf den Wildhüter. Die beiden Männer gerieten in Streit und zuletzt lag der Wildhüter ersoffen in einem der Teiche. Der Graf beteuerte, dass dieser traurige Unfall sich ereignet haben musste,
nachdem er fortgeritten war. Doch niemand mochte ihm glauben, auch weil ein Bauernjunge erzählte, er habe gesehen, wie der Graf den Wildhüter mit seinem Schwert ins Wasser getrieben habe. Dass der Graf sich verteidigte, niemand habe gar nichts sehen können, weil ungewöhnlicherweise ein dichter Nebel über den Forellenteichen gelegen hatte, machte die Sache nicht besser. Groß war die Wut der Menschen, doch was sollten sie tun? Er war der Graf und damit auch der Gerichtsherr. Niemals wird ein Mann gegen sich selbst Klage führen."
"Am nächsten Tage galt es, die Forellen zu versorgen. Der Graf drohte seinen Bediensteten die härtesten Strafen an, doch keiner wollte zu den Teichen gehen, sei es, weil sie sich vor dem Ort, an dem jemand gestorben war, oder vor einem wiederkehrenden Zorn des Grafen fürchteten. So musste dieser selbst dorthin reiten. Gegen Abend tat er das. Die Nacht war bereits hereingebrochen, da kam sein Pferd allein
in die Stallungen zurück. Zuerst getraute sich niemand etwas zu unternehmen, doch kurz vor Mitternacht brach doch endlich ein Suchtrupp, ausgerüstet mir Fackeln, Knüppeln und Piken, auf, um den vermissten Grafen zu suchen. Man fand ihn bei den Forellenteichen. Er lag tot im Wasser, an genau derselben Stelle, an der man den Wildhüter einen Tag zuvor gefunden hatte. Sie zogen den Grafen heraus. Das Gesicht war weiß und seine Augen starrten ihnen feindselig entgegen. Drei Tage später beerdigte man den Wildhüter. Alles Volk aus der Grafschaft kam, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Man legte ihn in ein einfaches Grab und auf dem Holzkreuz stand nur sein Name. Zwei Tage später sollte der Graf bestattet werden. Außer dem Pfarrer und einer entfernten Tante stand keine Seele an seinem Grab. Die Leute blieben Zuhause, nicht wenige trafen sich in den umliegenden Schenken und ließen sich das Bier schmecken, ohne auch nur einmal an den Toten
zu denken. Zwei Monate später kam ein Verwandter des Verstorbenen und er wurde der neue Graf. Nach dem was die Menschen erlebt hatten, waren sie misstrauisch, doch ihr neuer Landesherr war ein kluger und gütiger Mann und bald schon waren alle froh.
So verging ein Jahr.
Im nächsten Sommer kamen einige Gesellen spät des Nachts aus einem Nachbardorf, wo sie gefeiert und mit den Mädchen getanzt hatten. Sie wollten zurück nach Werrentheim. Sie kamen auf dem selben Weg daher, den ihr gegangen seid. Sie kamen durch den selben Wald. Sie waren gerade dort, wo die Bäume am dichtesten beieinander stehen, da hörten sie hinter sich den Hufschlag eines Pferdes. Sie drehten sich um und aus der Dunkelheit kam ein Reiter auf sie zu, schwertschwingend und Verfluchungen ausstoßend. Die Gesellen liefen los. Sieben von ihnen waren auf der einen Seite in den Wald hineingegangen und nur drei kamen
auf der anderen wieder hinaus. Am nächsten Morgen schickte der Graf einen schwer bewaffneten Suchtrupp los. Die Männer fanden die vier Gesellen. Arme und Beine waren ihnen vom Rumpf getrennt worden. Auf ihren Zügen erkannten die Männer noch den Schrecken der letzten Nacht. In großer Furcht waren sie gestorben. Dies geschah im Sommer, in der Nacht vom 22 auf den 23. Juli. Im nächsten Jahr fand man in dem Wald um die gleiche Zeit die Leiche eines fahrenden Händlers, auch ihm fehlten Arme und Beine. Im Jahr drauf meuchelte der Reiter zwei Mönche. So ging es immer weiter. Nicht einmal vor den Schwestern der Heiligen Clara machte der Reiter halt. Wer für all das Morden verantwortlich war, wusste jeder. Es war der Geist des toten Grafen. Ein so lasterhaftes Leben hatte er geführt, dass ihm der Zugang ins Paradiese verweigert wurde. Stattdessen war er gezwungen, immer in der selben Nacht im Jahr unstet umherzugehen, der
Nacht des Endes seines irdischen Lebens. Dabei wütete er im Tode gegen die Menschen, wie er es im Leben getan hatte. Auch rächte er sich, weil Unzählige ihm damals die letzte Ehre verweigerten. Viele sind ihm seit diesem Tage zum Opfer gefallen. Und das ist der Fluch des Reiters!"
Ich kann hier nur von der Geschichte berichten, die das schwarze Männlein in dieser Nacht erzählte. Jedoch vermag ich nicht wiederzugeben, wie es das tat. Ständig hob und senkte es seine Stimme, dehnte die Worte, bis es schmerzte oder sprach sie so schnell aus, dass sie brannten auf der Haut. Keiner hatte gewagt, auch nur einen Mucks von sich zu geben, während es sprach. Und obwohl alle außer mir diese Geschichte kennen mussten, hatten alle aufmerksam gelauscht. Schließlich lachte des schwarze Männlein.
"Nun versteht Ihr sicherlich, Fremder, warum
Ihr und euer Freund gut davongekommen seid in dieser Nacht. Eine Schwertwunde ist nicht zu verachten, wenn man doch auch Arme und Beine verlieren könnte. Der Reiter hat es gut mit euch gemeint. Oder Ihr habt uns nur ein Ammenmärchen aufgetischt, seid Halunken und euer Freund hat die Wunde redlich verdient."
Jetzt lachten wieder alle. Ich lachte nicht und konnte darum nicht wenige zweifelnde Blicke beobachten. Ich begann mich unwohl zu fühlen. Wäre ich nur für mich verantwortlich gewesen, ich wäre noch in dieser Nacht weitergezogen. Doch ich musste an meinen Reisegefährten denken. Er war verwundet und was hätte er wohl von mir gedacht, wäre ich am nächsten Morgen einfach fort gewesen. Also musste ich mit diesen Menschen auskommen. Zumindest für diese Nacht und den nächsten Tag. Außerdem hatte sich in der Zwischenzeit der Pfarrer neben mich gesetzt, so das ich nicht aufstehen konnte, ohne unhöflich zu sein.
Langsam verflog die düstere Stimmung und es herrschte wieder jenes Treiben, das jeder aus einer Schänke kennt. Belanglosigkeiten wechselte ich mit meinem Nachbarn und sein Gerede war nicht weniger gehaltlos. Nur zwei Dinge die er sagte, ließen mich aufhorchen.
"Sein Verwandter hat für den Grafen eine Büste in der Kirche aufstellen lassen."
Das war nicht weiter verwunderlich. Viele hohe Herren ließen sich in einem Gotteshaus verewigen, unabhängig davon, wie ihr Leben gewesen war. Darum redet man auch heute noch selbst von denen, die es nicht verdient haben.
"Er war wirklich kein guter Christenmensch, der Herr Hrimbold von Werrentheim."
Selten habe ich mich so beherrscht. Niemand sah mir etwas an, was wohl daran lag, dass ich einen halben Humpen auf eine Zug leertrank. Der Pfarrer neben mir schwätzte schon wieder. Ich hörte ihm nicht zu. Gedanken schossen durch meinen Kopf und sie ergaben keinen Sinn.
Ich nickte, wenn es mir angemessen erschien, doch wie ich dem Gesichtsausdruck meines Nachbarn entnehmen konnte, war es nicht immer angemessen. Schließlich hielt mich nichts mehr auf meinem Platz. Ich entschuldigte mich mit den Worten, ich wolle nach meinem Reisegefährten sehen. Beim Herausgehen sah ich, wie der Kaufmann meinen Platz einnahm und bevor die Tür sich hinter mir schloss hörte ich ihn sagen: "Seine Freund mag er gestützt haben, doch für mich ist der ein Spitzbube." Da dacht ich so bei mir, dass üble Nachrede hier wohl gerne Zuhause ist.
Ich trat auf die Straße. Eine warme Sommernacht empfing mich. Ich will zugeben, dass ich zuerst nach dem Wald schielte, doch dafür schalt ich mich sogleich einen Narren. Werrentheim war damals bereits eine Stadt, jedoch keine besonders große. Schnell lief ich durch die Straßen und es dauerte nicht lang, da öffnete sich der Markplatz vor mir. Die
Pfarrkirche Sankt Augustinus war eher ein zweckmäßiger, denn ein schöner Bau. Keinem Menschen war ich begegnet und auch ein Nachtwächter war nicht in Sicht. Mit wenigen Schritten war ich bei einer Türe der Kirche. Ich hatte Glück, sie war nicht verschlossen. Vorsichtig schlüpfte ich hinein. Irgendwelche Kerzen brennen an solchen Orten immer, soviel wusste ich noch, denn um ehrlich zu sein, hatte ich schon seit sehr langer Zeit keine Kirche betreten. Bei all dem Elend in der Welt scheint es mir Zeitverschwendung zu sein, der herablassende Selbstgerechtigkeit so mancher Gottesdiener zu lauschen. Das ich den Rechtschaffenden unter ihnen Unrecht tue, ist mir bewusst, aber egal. Ich durchquerte das Kirchenschiff und nahm eine große Kerze von ihrem Ständer. Dann begann ich meine Suche. Das Licht der Fackeln der Räuber war um einiges heller gewesen und so brauchte ich eine ganze Zeit. Vorsichtig tastete ich mich durch den
Innenraum, aber nicht selten stieß ich gegen Bänke oder Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung hatte, welche Aufgabe sie erfüllten. Nach einer Viertelstunde, so glaube ich, wurde ich fündig. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass diese Nische auch am helllichten Tage im Schatten lag und darum wohl kaum Beachtung fand. Auf dem nackten Steinboden stand eine einfache Säule in die eine kleine Platte aus Kupfer eingelassen war, auf der zu lesen stand:
"Hier ruht Hrimbold von Werrentheim, Er war nicht einer der Frommen. Und wäre es nur das gewesen, Betet und lasst Messen lesen. Doch wie soll er in den Himmel kommen?"
Das passte zu dem, was man mir in der Schänke erzählt hatte, aber stimmte es auch mit dem überein, was ich erlebt hatte? Keiner von uns
weiß mit Bestimmtheit, was später auf seinem Grab zu lesen steht. Die Tafel hing ungefähr auf Höhe meines Bauches. Nun erhob ich mich und das spärliche Licht der Kerze beschien die Büste. Mit stockendem Atem blickte ich in das Antlitz des Verstorbenen. Das Gesicht war fein geschnitten. Er hatte kleine Augen und schmale Lippen. Bei allen anderen Menschen hätte ich von einer Hackennase gesprochen, doch diese erinnerte eher an den Schnabel eines Adlers. Kantige Wangenknochen vervollständigten den Eindruck eines entschlossenen Mannes. Am Ende einer hohen Stirn waren die Haare nach hinten gekämmt und im Nacken von einem Knoten gezähmt. So stellte der Bildhauer ihn dar. Das war der Mann, der mich und meinen Reisegefährten vor dem Wüten der Wegelagerern bewahrt hatte! Ich wich zurück, stieß im Rücken gegen kalten Stein und vor lauter Schreck ließ ich die Kerze fallen. Da hielt mich nichts mehr und ich eilte so schnell ich konnte
aus der Kirche. Dabei fiel ich zwei Mal und stieß mich noch öfter an allerlei Ding. Doch der Schmerz macht mir nicht aus. Ich wollte nur raus aus dieser Kirche. Mit aller Kraft drückte ich die Tür hinter mir zu. Schwer atmend schlich ich über den Markplatz.
"Kann ich euch helfen?"
Ich hatte den andern gar nicht bemerkt. Bestimmt hatte er sich nicht an mich angeschlichen, doch das Blut rauschte mir in den Ohren und so hörte ich nichts als meinen eigenen Herzschlag. Er trug den Mantel eines Mannes, der die Nacht draußen verbringt und auch in einer warmen Sommernacht auskühlen würde, hätte er ihn nicht. Außerdem führte er eine Laterne mit sich. Er hielt sie zwischen uns, auf Höhe unserer Köpfe. Nicht den geringsten Argwohn konnte ich im Gesicht des Nachtwächters lesen.
"Nein. Habt Dank für eure Sorge", keuchte ich.
"Ich bin fremd in eurer Stadt. In einer Herberge
bin ich für die Nacht. Wollte noch einen kleinen Spaziergang machen und da dacht ich, ich hätte mich verlaufen. Doch wenn ich mir diese Straße genau besehe, kenne ich den Weg wieder."
Der Nachtwächter nickte. "Gut. Aber seht zu, dass ihr eilig wieder zu eurer Herberge kommt, denn wir haben die Nacht vom 22. auf den 23. Juli." Erst jetzt sah ich das Schwert an seiner Seite. "Dies ist nicht die Zeit, um Spaziergänge zu machen."
Auch er dachte nicht anders. Ich verabschiedete mich von dem Mann und ging den Weg, den ich gekommen war, zurück. Langsam schritt ich einher, denn ich wollte nachdenken. Dabei kamen mir die Worte des Reiters in den Sinn. Was war, wenn es die Geschichte, die das schwarze Männlein erzählt hatte und die in Werrentheim scheinbar jeder kannte, nicht der Wahrheit entsprach? Was war, wenn man umgekehrt denken musste. Immerhin waren ich und mein Reisegefährte noch am
Leben. Ich beschleunigte meinen Schritt und hatte die Herberge bald erreicht. Ich ging jedoch nicht auf mein Zimmer, sondern betrat die Schankstube. Diese hatte sich inzwischen zwar ein wenig geleert, doch es waren noch genug Menschen da. Das schwarze Männlein war fort. Seine Zeit schien gekommen. Ich versammelte alle Anwesenden um mich - das ist einfach, wenn man jedem einen Humpen Bier spendiert, was ich tat, auch wenn es mich meinen letzten Heller kostete - und erzählte ihnen noch einmal die Geschichte unserer wundersamen Rettung vor den Wegelagerern, unserer Rettung durch den Grafen Hrimbold von Werrentheim.
Anmerkungen: Diese Erzählung sollte der Prolog eines Romans werden. Dazu hätte ich allerdings einige Änderungen vornehmen müssen. Den Roman gibt es nicht, den Prolog schon. Dies ist seine ursprüngliche Form.
Die Idee für diese Erzählung war: Üble Nachrede und was sie bewirkt.
Inspiriert und angeregt wurde diese Geschichte durch die Erzählung "Draculas Gast" von Bram Stoker. Arn von Reinhard
currywurschT Die Erzählung gefällt mir sehr gut. Sehr schön geschrieben und mir lief ab und an selbst ein kleiner Schauer über den Rücken. Schade, dass es den Roman zu dem Prolog nicht gibt, denn ich würde ihn gerne lesen ;) Nicht zuletzt um heraufzufinden, was wirklich passiert ist. |
ArnVonReinhard Nun ja, eigentlich ist sie zu Ende. Als der Protagonist die Wahrheit herausgefunden hat - dass der Graf zu den Guten gehörte, auch als Geist -, war die Zeit des kleinen verhutzelten Männleins gekommen. Es musst halt nur jemand gegen die (allgemein anerkannten) Lügengeschichten aufstehen. LG AvR P.S.: In dem Roman hätte diese Erzählung auch die Aufgabe gehabt, den Kaufmann, den Reisegefährten des Protagonisten, nach Werrentheim zu bringen, so dass dieser später eine Grund gehabt hätte, dorthin zurückzukommen. |
Wolkenstill Auf dem Handy war es nur in Langform lesbar ...aber das tat dem Buch(ich kannte es zudem ja schon)keinen Abbruch. Schön, dass Du es in KOMPLETT eingestellt hast. LG von hier |
ArnVonReinhard Nun, bei dieser Geschichte bot sich das ja auch wirklich an, weil sie in-einem-Rutsch geschrieben und erzählt wurde/wird. Habe mich nur zu spät daran erinnert, darum hat es etwas gedauert. LG AvR |
Wolkenstill Ohhhh, na dann kram mal weiter in Deinen Erinnerungen und schenk Lesestoff :-) |
ArnVonReinhard Diesen Monat wird es noch eine längere und eine lange Geschichte geben, ganz bestimmt. |
Wolkenstill Prima |