Schnee am Strand
"Konrad!"
Die Stimme seiner Mutter schallte durch das gesamte Haus. Nichts war unangenehmer und störender als die schrillen Rufe von Margarete Fechter. Immer, wenn sich ihr Sohn mit den wichtigen Dingen in seinem Leben beschäftigte funkte sie dazwischen und Konrad konnte die Stimme seiner Mutter nicht mehr hören.
"Konrad, das Essen ist fertig! Kommst du runter und bringst deinen Vater mit? Der schläft bestimmt noch."
Mit was hatte er sich das nur verdient? Kopfschüttelnd folgte er den
Anweisungen seiner Mutter und nur widerwillig stapfte er in das Zimmer seines Vaters. Wie so oft war er eingeschlafen, als er sich alte Platten anhörte und wie so oft hatte er miese Laune, als Konrad ihn zu wecken versuchte.
"Was willst du schon wieder Konrad?"
"Mama hat mich geschickt. Das Essen ist fertig."
Ein Seufzen drang aus dem Munde seines Vaters.
"Sag deiner Mutter, das ich gleich kommen werde."
Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern verschwand der Junge wieder aus dem Zimmer und ging langsam die
Treppe hinab. An der linken Seite des Treppenhauses hingen einige Bilder aus früheren Zeiten. Sie zeigten die kleine Familie auf Urlaubsbildern in Spanien, Italien oder Kroatien. Als er sich selbst auf einem Bild entdeckte, auf dem er in die Kamera grinste, setzte er selbst ein verkrampftes Lächeln auf. Er wollte nie mit in den Urlaub fahren. Die Strände und Städte hatten ihn stets gelangweilt, denn es war nie jemand in seinem Alter dabei gewesen. Seine Geschwister waren deutlich älter als er und schon längst außer Haus. An die wenigen Reisen mit ihnen konnte er sich kaum erinnern. Nun sehnte er sich nach diesen Zeiten. Konrad würde so gerne wieder mit seinen
Eltern in den Süden fahren und zwei Wochen mit ihnen zelten. Er würde so gerne wieder zu einem Bauern nach England fahren und dort eine Woche auf dessen Hof verbringen. Der Junge würde alles hergeben für einen Urlaub wie damals.
"Konrad, kommst du endlich? Und hast du deinem Vater Bescheid gegeben?"
"Ja, habe ich Mama. Komme ja schon."
Der Geruch von Kartoffelgratin stieg Konrad in die Nase. Nicht gerade sein Lieblingsessen, aber wenigstens gab es einen leckeren Salat dazu. Margarete befüllte den Teller ihres Sohnes und auch den ihres Mannes. Zu letzt legte sie
noch ein paar Kartoffeln auf ihren eigenen Teller.
"Was hast du denn heute alles getrieben?"
"Ich war mit Freunden unterwegs."
"Und? Hat es Spaß gemacht?"
Konrad nickte. Solange sein Vater noch nicht da war, musste er sich diese elend lange Fragerei über sich ergehen lassen.
"Was habt ihr denn gemacht?"
"Waren unterwegs."
"Wo wart ihr denn?"
"Draußen halt."
"Waren Stefan und Micha dabei?"
"Mhm."
Konrad starrte auf seinen Teller und nahm einen Bissen nach dem anderen. In
einer kleinen Redepause entschloss sich seine Mutter ebenfalls dazu eine Gabel des Salates zu nehmen.
"Hast du deinem Vater auch wirklich Bescheid gegeben?"
"Ja, Mama, hab ich doch gesagt."
"Wo bleibt er dann? Er weiß doch, das wir pünktlich essen."
Inzwischen war Konrad mit seinem ersten Teller fertig geworden. Er zögerte einen Moment, bevor er um eine zweite Portion bat. Hunger hatte er, aber er wollte auch nicht zu lange dem Kreuzverhör seiner Mutter ausgeliefert sein.
"Schreibt ihr nicht morgen eine Klassenarbeit?"
"Ja."
"Welches Fach denn?
"Deutsch."
"Und? Hast du dich darauf vorbereitet? Hast du gelernt?"
"Was soll ich denn auf Deutsch lernen?"
"Achja. Was weis ich. Hast du nicht zuletzt von der einen aus deiner Klasse erzählt? Wie hieß sie noch? Lara? Hast du dich mal mit ihr getroffen?"
Von ihr hatte Konrad tatsächlich mal erzählt. Vor einigen Wochen hatten die beiden sich zu einem Eis verabredet und anschließend öfters etwas miteinander unternommen. In seiner Fantasie waren sie schon längst ein Paar und er hätte seinen ersten Kuss erhalten.
"Nein, wir sind halt in einer Klasse. Sie hat mir zuletzt dieses Zeug in Mathe erklärt. Nix wichtiges."
Margarete nahm sich eine zweite Gabel des Salates und schob ihn sich zwischen die Zähne.
"Schmeckt dir das Essen Konrad? Möchtest du noch einmal einen Teller?"
"Nein danke. Ich bin satt. Ich geh wieder hoch."
Der Junge stand unvermittelt auf und ließ seine Mutter alleine am Tisch zurück. Auf dem Weg in sein Zimmer kam er wieder an den Bildern vorbei, die von weitaus besseren Tagen zeugten. Auf einem Bild entdeckte er sich selbst mit einem Spielzeugschwert in der Hand
und seinen lachenden Eltern im Hintergrund. Von weitem konnte er das Schnarchen seines Vaters hören und der Junge verschwand wieder in seinem Zimmer. Während er sich an die Strandurlaube zurückerinnerte, begann es draußen zu schneien. Der Winter hielt Einzug und Konrad wusste, dass es niemals so sein würde, wie es einmal war.