Mit einem leisen quitschen hielt Leos Wagen am Parkplatz. Er holte tief Luft, schloss seine Augen und lehnte sich mit seiner Stirn gegen das Lenkrad. Mit seiner Hand fasst er sich an die Brust. Er spürte seinen starken und nervösen Herzschlag.
Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Er wäre auch nie wieder hier her zurückgekommen, wenn es nicht der Wunsch von Susanne gewesen wäre. Er atmete auf. Vor zwei Wochen traf er sie ganz überraschend in einer Bar. Sie redeten über alte Zeiten und über ihre Arbeit. Der Abend war lang und als Susanne sich bei Leo verabschiedete sagte sie noch zum ihm: „Geh sie bitte
mal besuchen. Sie würden sich bestimmt sehr darüber freuen.“
Leo öffnete die Augen. „Geh sie bitte mal besuchen.“ Diese Worte gingen Leo seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt, haben sich fest gehängt und ließen sich nicht mehr abschütteln. Egal was er versuchte, er konnte sie nicht vergessen. So das er zum Schlussendlich doch vor ihnen kapitulierte.
Nun war er hier, hier um sie zu Besuchen. Er griff nach dem Blumenstrauß der auf dem Beifahrersitz lag, stieg aus und schloss seinen Wagen ab. Er stand nun auf dem Parkplatz. Dem leeren Parkplatz. Kein einziges Auto
stand hier und er sah weit und breit keine Menschen. Und es war still, sehr still. Es war diese eine, besondere stille. Diese stille wie man sie vom Theater kennt, wenn der Künstler die Bühne betritt und das Publikum gespannt auf den Beginn des Stücks wartet. Leo kannte das Stück in dem er die Hauptrolle spielte, die Rolle die er nie spielen wollte. Aber er musste es tun. Er stand nun hier, hier auf der Bühne. Er konnte nicht zurück. Er spürte, dass das Publikum auf ihn wartete, auf seinen Auftritt wartete, denn sie warteten schon lange darauf, sehr lange auf sein erscheinen.
Mit einem lauten quietschen öffnete sich
das kleine eiserne Tor. Unter seinen Füßen knirschen der Kies des Weges den er entlang ging. Immer wieder kam ihn Susannes Worte in den Sinn. „Geh sie bitte mal besuchen.“ Dieser Satz wiederholte sich immer mehr in seinem Kopf. Wie bei einer kaputten CD hing sich genau hier seine Gedanken auf. „Geh sie bitte mal besuchen.“, sprach er nun auch selbst leise mit während er unter den Kiefern den Weg folgte. Er wollte nie wieder hier her zurückkommen, wollte dieses Stück niemals spielen aber Leo wusste, es muss ende, er konnte nicht mehr weglaufen. Er blieb stehen. Er stand. Stand vor drei Tafeln aus Marmor. Er laß die Namen
von der Tafel. Es waren jene Namen derer Personen denen Leo am meisten vertrauten, mit denen er schönste Zeit seines Lebens hatte und für deren Tod er verantwortlich war.
Zehn Jahre lang versuchte er zu vergessen was damals geschehen war. Er ballte eine Faust und biss sich auf die Lippe. „Wäre ich damals nicht so blöd gewesen, dann würden alle drei noch leben.“, dachte er sich während ihm die Tränen kamen. Er begann sich nun wieder an das zu erinnern was über all die Jahre versucht hatte zu verdrängen.
Vor zehn Jahren fuhr er mit seinen Freunden von einer Feier nach Hause. Leo fuhr damals den Wagen. Alles vier
waren sehr stark betrunken. Leo verlor in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen und so geschah es, dass das Auto gegen einen Baum fuhr. Leo erinnerte sich an das klirren der Scheiben und das brechen des Blechs seines Autos während es sich zusammen mit den Insassen um den Baum wickelte, danach war es dunkel. Leo erwachte eine Woche später aus seinem Koma. Nie wird er das Gefühl vergessen das ihn damals durchfuhr als ihn die Ärzte sagten das seine drei Freunde bei dem Unfall umkamen den er verursachte.
Als Leo den Blumenstrauß auf niederlegte erinnerte er sich an das letzte Mal als er hier war. Die
fassungslosen und traurigen Gesichter der Familienmitglieder und Freunde die er auf der Beerdigung sah, verfolgten ewig in seinen Träumen. Er wollte das nie. Er wollte nicht, dass das passiert. Er versuchte das alles über die Jahre zu vergessen, versuchte wegzulaufen aber sie fand ihm. Die Schuld. Die Schuld, dass er für den Tod seiner Freunde verantwortlich war. Sie verfolgte ihn. Egal wo er war sie war bei, nahm ihn gefangen. Leo wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief ein. Diesmal jedoch war er geblieben, war nicht davongelaufen, stellte sich seiner Schuld.
Während er den Kiesweg zurück zum Tor
ging drehte er sich nicht um. Er wusste das er die Vergangenheit nicht ändern kann aber er wusste er musste weiter seinen Weg gehe . Als sich das Tor hinter ihm schloss spürte er wie ihm eine Last vor der Schulter viel. Dieser Besuch musste sein.