7. Kapitel
Es war ein ständiges Auf und Ab. Und es war das eingetreten, was ich bei unserer ersten Begegnung schon gespürt hatte. Ich hatte mich Hals über Kopf in Amelie verliebt. Mit dem Wissen, dass sie verheiratet ist, mit einem aggressiven alkoholkranken Mann, der die wildesten Drohungen gegen seine Frau und auch mich ausgesprochen hatte, bekam ich meine tiefen Gefühle für diese Frau dennoch nicht in den Griff. Ich hirnverbrannter Trottel wollte sie an meiner Seite haben, wusste zu der Zeit schon, dass sie die Eine war, auf die ich die ganzen Jahre gewartet hatte.
Oft darüber gelacht, hatte ich nun am eigenen Leib erfahren, wie das mit der Liebe auf den ersten Blick war. Ich wünschte mir ein Leben mit Amelie. Ein ganz normales Leben, mit gemeinsamem Frühstück, mit Lieben, Vermissen und Streiten, mit zusammen einschlafen und aufwachen und mit einer handvoll Kindern. Lieben wollte ich sie, ehren und auf Händen tragen, vor allem aber wollte ich sie aus ihrer persönlichen Hölle befreien. In meinen Träumen gab es Amelie und Josef nicht mehr, in meinen Träumen gab es Nacht für Nacht nur noch sie und mich, in einer wunderschönen Seifenblase, die sich Leben nannte. Unzählige Male habe ich
sie in meinen nächtlichen Phantasien angebetet und verwöhnt, um dann allein und enttäuscht in meinem Bett aufzuwachen.
Das Schlimmste an der Sache war jedoch, dass Amelie meine Gefühle erwiderte. Sie erwiderte sie, wenn auch hoffnungslos und verhaltener als ich, denn auch sie spürte diese ganz spezielle Verbundenheit, welche schon auf dem Parkplatz wie von magischer Hand geknüpft worden war. Auch Amelie hatte sich in mich verliebt aber für sie waren diese eigentlich schönen Gefühle traurigerweise kompliziert und angsteinflößend.
Gestanden hatten wir unsere Gefühle
füreinander, als wir uns wieder einmal in ihrem Garten trafen. Seit einigen Wochen sahen wir uns inzwischen jedes Mal, wenn sie ihren Vater besuchte. Ich war vogelfrei, es waren Ferien und auch das Football-Training war in die Sommerpause gegangen, so dass ich immer Zeit hatte, wenn Amelie in Beaverton war. Ihr Vater erkannte mich inzwischen, wenn ich ihn begrüßte und so manches Mal habe ich bereits begonnen, mich um den Garten zu kümmern, weil Amelie noch nicht eingetroffen war. Es waren immer wieder schöne Minuten, dort im Grünen zu arbeiten, ich bemühte mich ganz besonders darum, alles genauso liebevoll
zu erledigen, wie es die Hausherrin tat und ich hatte Spaß daran. Das waren die Augenblicke, die mich den Schatten vergessen ließen, der über unserer problematischen Beziehung lag. Wenn ich davon überzeugt war, dass Amelie ihren Ehemann besser heut als morgen verlassen sollte, war sie es, die trotz allem an ihrer Ehe festhielt. Mehr als ein Mal beteuerte sie, was Josef in ihrer Anfangszeit für ein guter Mann gewesen sei, dass sie sich gegenseitig versprochen wären und dass auch die schlechten Zeiten dazugehören würden. Erst viel später erzählte sie mir von ihrer Angst, die sie neben den Gefühlen verspürte. Genau wie mir, hat er ihr
nachdrücklich und sehr anschaulich angedroht, ihr Leben zu zerstören, wenn sie ihn verlassen würde. Sie war davon überzeugt, dass er diese Drohung sehr ernst nahm und doch konnte auch sie vor ihren Gefühlen für mich nicht davonlaufen.
Wir hatten im Garten, in der Nähe der Schaukel eine kleine gemütliche Ecke eingerichtet, wo wir uns ungestört und ungehört unterhalten konnten, ungesehen Tränen fließen durften und wir auch zum ersten Mal ganz behutsam Zärtlichkeiten austauschten. Ich hielt es schon seit Tagen nicht mehr aus, wollte ihr endlich die Wahrheit sagen, wie es um mich stand, obwohl ich davon
ausging, dass sie es längst wusste.
Amelie war an diesem Tag relativ gelöst, ihr Mann hatte sie schon seit Tagen in Ruhe gelassen und inzwischen verwunderlicher Weise auch keine lästigen Fragen mehr nach mir gestellt. Und trotzdem konnte sie wieder nicht wirklich entspannen, als wir uns auf die Decken setzten, die auf der Wiese lagen. Wie ein scheues Reh, sah sie sich immer wieder erschreckt um, fuhr sich mehrfach durch die Haare und seufzte immer wieder unruhig. Ich hatte mich auf den Rücken gelegt, nahm einen Grashalm in den Mund und kaute eine Weile darauf herum, schaute sie an und wunderte mich in diesem Moment, dass
sie mir derartig vertraut war. Es fühlte sich an, als ob wir seit der Kindheit nie getrennt gewesen waren, als ob es keine Fragen zwischen uns gab, weil stillschweigend Vertrautheit herrschte. Ein wunderschönes Gefühl, wenn da nicht die Sorgen im Hintergrund gewesen wären. Ich wusste in diesem Augenblick nicht, was in Amelie vorging, wie so oft, ließ sie mich nicht in ihr Innerstes blicken. Vorsichtig zog ich an ihrer Hand, bis sie nachgab und sich Seite an Seite zu mir auf die Decke legte. Wir hatten uns inzwischen schon häufig berührt, aber mehr als einige vorsichtige und unverbindliche Küsse zur Begrüßung und Verabschiedung oder
eine Umarmung hin und wieder, war bis jetzt nichts passiert. Dieses Mal hielt ich ihre Hand fest in meiner und sie entzog sich mir auch nicht. Immer noch mit dem Halm im Mundwinkel und den Blick in den blauen Himmel gerichtet, träumte ich laut vor mich hin. „Ich stelle mir gerade vor, dass Du alles hinter Dir lässt und hier in Deinem Haus einen Neuanfang wagst. Jeden Tag könntest Du auf der kleinen Terrasse im Sommer frühstücken, ganz in Ruhe. Im Winter würdest Du Deinen Kindern dabei zuschauen, wie sie hier unter den Apfelbäumen einen Schneemann bauen. Im Herbst würdet Ihr hinten auf dem Feld einen Drachen steigen lassen und im
Frühling, die Schmetterlinge bei ihren ersten Flugversuchen in der Sonne beobachten.“
„Mmmm“, seufzte Amelie einen wohligen und dennoch traurigen Laut. „Neuanfang in diesem Haus klingt gut, Deine Betrachtung des Jahres klingt gut und Kinder klingen noch besser. Aber Du weißt, dass das alles Illusionen bleiben werden.“
„Ich wäre für Dich da, von Anfang an. In diesem Traum ist auch Platz für mich. Ich würde Dir das Frühstück bringen, ich würde dem Schneemann den Hut aufsetzen, den Drachen mit den Kids bauen und ich wüsste die Namen der Schmetterlinge, denn ich wäre der Daddy
Deiner Kinder … weil Du meine Frau wärst.“ Langsam drehte ich mich zu ihr um, nahm ihre Hand hoch und küsste ihre Fingerspitzen. Amelie versuchte noch einen Atemzug lang, meinen Augen auszuweichen, gab dann aber doch nach und erwiderte meinen Blick. Sehnsuchtsvoll und unendlich traurig schaute sie mich an.
„Was für eine wunderschöne Vorstellung. Bestimmt wären es ein Junge und ein Mädchen und Du der beste Daddy auf der Welt.“ Sie träumte mit! Wärme durchflutete mich und ließ mich in dieser Minute tatsächlich glauben, dass wir stark genug sein könnten, diesen Traum zu verwirklichen.
Ich war nicht verliebt in diese Frau, ich liebte sie und wollte, dass sie mich auch liebt. Meine Hand hatte ich von ihrer gelöst und streichelte inzwischen ihr Gesicht und ihr Haar, erkundete jeden Zentimeter ihrer zarten Haut und ließ immer wieder einzelne Strähnen ihres duftenden Haares durch meine Finger gleiten. Glücklich genoss ich diese Nähe, zumal mir Amelie nicht auswich. Ihre Augen schauten mich gebannt an und vergessen waren in diesem Augenblick alle Lasten, Josef und die Drohung, die wie ein Damoklesschwert über uns schwebte. Ganz langsam näherten sich unsere Gesichter, der Augenkontakt wurde nur unterbrochen,
wenn einer von uns beiden sehnsüchtig auf die Lippen des anderen schaute. Und dann war die Distanz auf nur wenige Millimeter geschrumpft, jeder spürte warm den Atem des anderen im Gesicht und die knisternde Energie, die zwischen uns funkelte. Als erster nachgebend, senkte ich meine Lippen ganz vorsichtig auf ihre. Was für ein Gefühl! Sie schmeckten nach Honig, nach Erdbeeren, nach Schokoladeneis und sie waren so unsagbar zart und weich. Ich aalte mich in diesem Kuss, genoss jede Sekunde und ein seliges Glücksgefühl durchschoss mich, als Amelie ihn erwiderte. Sie schob sich noch dichter an meinen Körper, öffnete
meine Lippen und spielte mit mir. Mit meinen Händen antwortete ich auf dieses Spiel, streichelte über ihren Rücken und griff wieder in ihr Haar, um sie noch dichter an mich zu ziehen. Beide spürten wir diese tiefe Sehnsucht aufeinander, die wie aus dem Nichts erwachte, von uns Besitz ergriff und den Kuss schnell leidenschaftlich werden ließ.
Ich wünschte mir, dass diese zärtliche Begegnung unserer Lippen nie enden würde aber abrupt riss sich Amelie los. Heftig atmend starrte sie mich entsetzt an und augenblicklich war der Zauber verschwunden, der uns kurz zuvor noch einhüllte. „Wir dürfen das nicht tun! Du
darfst so etwas nicht mit mir machen!“, räusperte sie sich hastig.
„He he, beruhige Dich. Ich wollte nichts mit Dir machen.“ Auch wenn ich mich nach diesem Kuss erst sammeln musste, schaffte ich es, sie anzulächeln.
„Du weißt, wie ich das meine. Das hier ist falsch, wir dürfen nicht … „
„Komm her!“, zog ich sie wieder in meine Armen. „Wir wollten das hier beide und es fühlte sich verdammt noch mal überhaupt nicht falsch an.“
„Aber es ist falsch. Ich habe einen Ehemann. Jim, ich bin verheiratet!“, erinnerte sie mich mit schuldbewusster Stimme an die Tatsache, die ich minutenlang so hervorragend verdrängt
hatte.
„Verlass ihn!“, murmelte ich und näherte mich erneut ihrem Mund. Noch einmal küsste ich sie, leckte ganz leicht über ihre Lippen und Amelie erwiderte erneut diese Liebkosung. Es war so gut und so richtig. Unsere Lippen passten hervorragend zueinander und im Überschwang meiner Gefühle fragte ich mich ganz kurz, an welchen Stellen wir außerdem gut zueinanderpassen würden. Ich prägte mir jede Geste ein, versuchte, ihren Geschmack zu konservieren, das Gefühl ihrer Zungenspitze an meiner. Ihren leidenschaftlichen Blick bannte ich in meinem Kopf und das Kribbeln, welches über meinen Körper zog, wollte
ich von nun ab ständig spüren. Einige Frauen hatten meinen Weg gekreuzt und mit den meisten von ihnen hatte ich nicht nur Küsse ausgetauscht. Und trotzdem konnte ich behaupten, diese Empfindungen, die ich bei unserem Kuss spürte, stellten den besten Sex in den Schatten, den ich bis dahin erlebt hatte.
„Verlass ihn!“, forderte ich abermals. Stirn an Stirn lagen wir ganz dicht beieinander, schauten uns tief in die Augen und immer wieder berührten sich unsere Lippen zärtlich. „Ihr liebt Euch nicht mehr. Er ist brutal und grob zu Dir und er verdient Dich nicht. Fang noch einmal von vorn an, mit mir oder auch allein, aber bleib nicht bei diesem
gewalttätigen Schnösel.“
„So einfach ist das nicht.“ Amelie rollte sich auf den Rücken und ich tat es ihr gleich. Nun lagen wir wieder nebeneinander und schauten Hand in Hand in den Himmel. Schäfchenwolken zogen weit über uns vorüber und ich wünschte mir, dass sie unsere Probleme einfach mitnehmen würden. Warum muss man jedes Problem immer selbst lösen, warum gibt es keinen bezahlbaren Problemlöser oder jemanden, der einem sagt, was richtig ist und was falsch? Das hier mit Amelie und mir konnte nicht falsch sein, daran zweifelte ich nicht. Es ging nicht darum, wo wir herkamen, entscheidend war doch, wo wir hin
wollten.
„Josef ist krank. Weißt Du, dass es als anerkannte Krankheit gilt, wenn jemand Alkoholiker ist? Ich muss bei ihm bleiben, ich würde ihn ja auch nicht verlassen, wenn er Krebs hätte.“
„Mag sein, dass er krank ist, aber keine Krankheit rechtfertigt Misshandlungen. Er bedroht Dich, Amelie, er tut Dir weh!“
„Ich habe Angst. Vor ihm und vor der Zukunft. Wenn er uns jetzt hier sehen würde …“
Ein Schauer lief über meinen Rücken, weil ich sie verstehen konnte und ich trotzdem alles zu tun bereit war, um sie aus dieser Hölle zu befreien. „Und wenn
wir weggehen von hier? Wenn wir woanders ein neues Leben aufbauen? Du und ich? Solange wir zusammen sind, ist es egal, wo wir leben.“ Krampfhaft klammerte ich mich an jeden Strohhalm aber Amelies Gesicht verriet mir, dass es nicht einfach werden würde.
Alles in mir krampfte sich zusammen, als ich daran dachte, dass sie in zwei Stunden wieder zu Josef fahren musste. Ich hasste diesen Mann, der solch eine Macht auf seine Frau ausübte, der zu jeder Zeit bereit war, sie zu verletzen und ich war nicht fähig, Mitleid mit ihm zu empfinden. Was hatte ich für Möglichkeiten, solange sich Amelie nicht helfen lassen wollte?
Immer und immer wieder hielten wir an diesem Nachmittag in unserer Arbeit inne, kamen uns nah, mal sanft, mal leidenschaftlich, mal hingebungsvoll und kosteten in unserer Phantasie den verbotenen Wunsch nach einer glücklichen Zukunft.
© Memory