Das abstruse Objekt ihrer Begierde
»Wünschen Sie gegen einen moderaten Aufpreis einen bewaffneten Agenten, der Sie wieder sicher nach Hause geleitet?«
Ich verneinte und bedeutete dem Manager, dass ich selber Manns genug sei, das Problem allein zu bewältigen zu können. »Ganz wie Sie meinen, behaupten Sie aber hinterher bitte nicht, wir hätten Ihnen unser umfangreiches Sicherheits-Service-Paket nicht angeboten. Zu Ihrem Verständnis und unserer Sicherheit fasse ich alle relevanten Aspekte unseres gemeinsamen Deals bezüglich dieses nicht näher genannten Objektes noch einmal kurz zusammen und erläutere Ihnen in aller Deutlichkeit noch
einmal die rechtlichen Grundlagen.
Erstens, alles was Sie hier tun, ist definitiv illegal und fällt damit unter den Paragraphen der schweren Kriminalität, gleichwohl wie ihn das Gesetzt kennt. Das betrifft selbst jenes Geschäft, welches wir gerade gemeinsam getätigt haben. Zweitens, sollten Sie jemals von den Behörden entdeckt werden und unser Deal auffliegen, womöglich sogar strafrechtlich relevant aktenkundig werden, tragen Sie allein die volle juristische Konsequenz dafür. Zudem würden wir Sie ab diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr kennen. And last but not least, würden wir quasi im selben Atemzug alle zu uns führenden Spuren sach- und fachkundig von unseren Elite-Spezialisten akribisch eliminieren lassen. Verlassen Sie sich besser
darauf, denn wir verfügen selbst in einen solch gravierenden Fall über eine langjährige und völlig ausreichende Erfahrung. Alle unsere Agenten sind hochkarätig versiert und zudem erstklassig ausgebildet. Andererseits werden wir Sie im Falle eines offenen, oder versteckten Verrates vor einem ebenfalls illegalen Gericht verklagen und glauben Sie mir, das von diesem Gericht verhängte Strafmaß für Geheimnisverrat, das wollen Sie gar nicht wirklich wissen…«
Ich winkte ab,
»Das ist mir alles bestens bekannt, Herr…«
»Keine Namen, werter Herr Kunde 3593. Sie wissen doch, in unserer Welt haben überall alle Wände Ohren. Und aus den bereits vorgenannten Sicherheitsgründen nenne ich
auch nach wie vor nur die letzten vier Ziffern Ihrer ansonsten geheimen Kundennummer…«
Ich nickte, denn ich wusste bei diesem ohnehin extrem gefährlichen Deal trotz alledem sehr genau, worauf ich mich da eingelassen hatte. Auch wenn es das erste Mal war, dass ich überhaupt davon Gebrauch gemacht habe. Aber irgendwann ist es bekanntlich ja immer das erste Mal, auch wenn ich bis dato immer ein loyaler und gesetzestreuer Staatsbürger war, der definitiv überhaupt nichts zu verbergen hatte. Ich war stets eine mustergültige gläserne Person für den Staat und alle seine Instanzen. Ich habe mich mein Leben lang weder um Politik geschert, noch habe ich jemals eine andere, als die regierende Partei gewählt.
Jedenfalls bis heute…
Allerdings war ich ab dem jetzigen Zeitpunkt nach geltendem Recht ein Geächteter und würde die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, wenn mich die Ordnungshüter, oder gar einer der unzähligen Geheimdienstleute auf frischer Tat stellten und festnehmen würden. Aber wie ein Junkie seinen Drogenhändler aufsucht, um etwas ganz Spezielles von ihm zu bekommen, so habe ich dieses illegale Institut höchst konspirativ über dubiose Mittelsmänner im Darknet kontaktiert und mich mit den Betreibern dieser Institution auf einen höchst illegalen Deal eingelassen. Auch diesen obskuren Vertrag geschlossen, von dem ich mir eine goldene Zukunft mit der Dame
meines Herzens versprach, wenn ich ihr diesen langgehegten Wunsch erfüllen könnte. Denn einen solchen Deal abzuschließen war geradezu gleichbedeutend mit einem Ritterschlag im Mittelalter und galt mittlerweile sogar in meinen Kreisen als ein geachtetes Statussymbol unserer gutbürgerlichen Gesellschaft...
Man würde mir nach einer ausschließlich anonymen Barzahlung das geheimnisvolle Objekt gut verpackt mit auf den Weg geben und mich verpflichten, alle die in einem erlesenen Schnellbesohlungskurs angelernten Regeln konspirativen Verhaltens strikt einzuhalten. Andernfalls wäre ein solcher Vertrag auch niemals wirklich zustande gekommen und man hätte mich sehr
wahrscheinlich umgehend geflasht, damit ich schnell alles wieder vergessen würde. Bedauerlicherweise geht einem allerdings bei dieser sicherheitsorientierten Praxis oftmals sehr viel mehr an gesammeltem Wissen und persönlichen Erfahrungen verloren, als jenes ohnehin nur kurzzeitige Wissen über dieses illegales Institut und diesen ausgehandelten Deal.
»…Hallo, Herr Kunde 3593, hier spielt die Musik, wenn Sie mir nicht zuhören, werden Sie es nicht einmal bis zur nächsten Bushaltestelle schaffen, denn man wird Sie bereits vorher schon ergriffen und dingfest gemacht haben«, riss mich die mahnende Stimme des Managers aus meinen bisweilen abschweifenden Gedankengängen. »Oder
sind Sie womöglich bis hierher sogar mit dem eigenen Wagen vorgefahren?«, lautete nun die im drohenden Unterton gestellte Anfrage des Managers.
»Nein, natürlich nicht…«, versicherte ich ausdrücklich. »Ich besitze gar kein Auto«, erwiderte ich und wandte mich wieder den umfangreichen Erklärungen des Managers zu.
»Schön, dass ich jetzt wieder Ihre volle Aufmerksamkeit besitze, werter Kunde 3593. Wenn Sie nun so freundlich wären, hier zu unterzeichnen. Damit wäre unser Geschäft dann rechtskräftig und mit Ihrer Barzahlung definitiv auch abgeschlossen.«
Er legte mir ein hauchdünnes, aber festes pergamentenes A4-Blatt vor, vollgeschrieben mit einer winzig kleinen Schrift und wies mit
seinem Zeigefinger auf das noch leere Unterschriftsfeld. Nun erst bemerkte ich, dass sich der Manager zuvor ein Paar dünne, weiße Linnenhandschuhe übergestreift hatte, bevor er das Papier aus seinem geöffneten Tresor entnommen hatte. Auf meinen fragenden Blick meinte er mit einem hintergründigen Lächeln,
»Es dient nur unserer eigenen Sicherheit, wenn auf dem sterilen Pergament eigener Produktion aus unserem Reinstraum keinerlei Fingerabdrücke nachzuweisen sind.«
»Und wie bitteschön, sollte ich dann diesen Vertrag unterschreiben?«, bemerkte ich etwas nervös und zückte meinen kostbaren Tintenfüllfederhalter mit Goldfeder aus der Innentasche meines Jacketts.
»Nichts leichter als das, werter Kunde 3593…«, meinte der Manager und stach mir mit einer kaum sichtbaren Nadelspitze blitzschnell in die Kuppe meines rechten Zeigefingers, dass ich sogleich erschrocken zurückzuckte. Mit beiden abwehrenden Händen gebot er mir ruhig zu bleiben und meinte lakonisch, »…Damit…«, und wies grinsend auf den winzigen Tropfen Blut der sich inzwischen auf meiner Fingerkuppe versammelt hatte. »Mit Ihrer DNA… Das ist immer noch fälschungssicherer als jede Unterschrift, glauben Sie mir. Blut ist in jedem Fall immer noch dicker als Tinte…«
Ich schüttelte missbilligend den Kopf und ließ aber dennoch diesen kleinen Blutstropfen auf das freie Unterschriftsfeld klecksen. Mit einer
eleganten Bewegung zog mir der Manager das Blatt Papier unter meiner Hand weg und wedelte es in der Luft wie ein gerade frisch abgelichtetes Polaroid-Foto aus dem letzten Jahrhundert, damit das Blut auf dem Pergament noch etwas schneller abtrocknete. Mit der anderen reichte er mir dagegen ein winziges Desinfektions-Pflaster, welches ich aber dankend ablehnte.
»Ganz wie Sie wollen…, meinte er grinsend, es wäre zum Einen nur gut gegen eine mögliche Infektion und natürlich auch, dass damit einem wie auch immer ablaufenden Missbrauch vorgebeugt würde, der womöglich mit dem unbemerkten Verlust eines weiteren Tropfen Blutes mit Ihrer überaus kostbaren DNA einhergehen könnte…«
Der Mann war in seiner penetranten Art so überaus überzeugend, dass ich nun doch zu jenem hautfarbenen Pflaster griff und damit sicher verhinderte, auf diese seltsame Art noch einen weiteren kostspieligen Vertrag abzuschließen, den ich jedoch niemals im Sinn hatte.
Dann blätterte ich ihm den verlangten Betrag in großen Scheinen hin, die er akkurat nachzählte und anschließend sicher in seinem Safe verwahrte.
»Nachdem wir also diesen Geheimvertrag geschlossen und besiegelt haben, kommen wir in den Modus Vivendi, den wir damit nun auch mit Leben erfüllen werden.«
Er drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch und das, was ich anfänglich erst
für die Seitenwand seines Büros gehalten hatte, teilte sich exakt in der Mitte und glitt lautlos auseinander. Der völlig dunkle Raum dahinter verwirrte mich zunächst etwas. Plötzlich knallte in der Mitte ein gleißendes Spotlicht an und beleuchtete das Zentrum dieses schwarzen Raumes. Dort befand sich mit einem schwarzen Samttuch abgedeckt, das Objekt der Begierde meiner Geliebten.
»Sie dürfen den Raum jetzt betreten und sich Ihr frisch erworbenes Eigentum an diesem Unikat in aller Ruhe anschauen und auch begutachten, bevor wir es dann wieder sicher für Sie verpacken. Und erwähnen Sie bitte währenddessen mit keinem Wort die Sache selbst oder auch nur Teile davon mit dem Klarnamen. Auch zuhause nicht, denn Sie
wissen ja,…Big Brother is watching you… Wenn überhaupt, dann reden Sie bitte immer nur davon, als würde es sich um eine preisgünstige Imitation handeln, denn selbst der bloße Besitz eines solchen Originals wäre nach geltendem Recht strafbar.«
Ich nickte mit trockener Kehle, konnte allerdings kaum den Blick davon lösen und fühlte aber, wie dennoch zugleich meine Hände auch etwas feucht wurden.
Da stand es nun direkt vor mir, ein Traum von einem Geschenk und ich geriet sofort ins Schwärmen, ja geradezu in Verzückung, als der Manager das dunkle Tuch wie ein Magier herunterzog. Ich war von seiner unglaublich faszinierenden Schönheit regelrecht geblendet und trat hochinteressiert näher heran.
Der Manager musste spontan gelächelt haben, als er mein mit offenem Mund dümmlich grinsendes Gesicht gesehen hatte. Sofort schlug mir ein unheimlich aromatischer Duft entgegen, den ich sogleich mit weit aufgeblähten Nasenflügen eingesaugt hatte.
»Wie das riecht, wie nach…«
»Stopp…, unterbrach mich der Manager, jetzt auch kein Wort darüber, wonach es riecht, Kunde 3593. Sie müssen lernen, sich ab sofort zu beherrschen. Sonst verraten Sie sich und am Ende damit letztlich auch uns.«
Ich nickte, er hatte ja verdammt noch mal recht,
»Ich werde es ab sofort beherzigen, von mir erfährt garantiert niemand etwas«, versprach ich ziemlich zuversichtlich gestimmt, während
meine Hände beinahe schon zärtlich über diese faszinierende Oberfläche dieses unvergleichlichen Objektes gleiten wollten.
»Stopp, rief der Manager erneut, Sie dürfen es wegen der real nachweisbaren Fingerabdrücke jetzt leider auch noch nicht berühren, warten Sie damit besser bis Sie zu Hause und in Sicherheit sind. Wir müssen es nun wieder einpacken. Während mein Kollege dies für Sie mit fachkundiger Hand erledigen wird, könnten wir uns noch einen kleinen Drink genehmigen und auf unseren nun erfolgreich abgeschlossenen Vertrag anstoßen.«
»Eine gute Idee, Mister…«
Der Manager blickte auf und ich winkte ab.
»Schon gut, ich lerne es sicher noch…«, beeilte ich mich ihm rasch zu versichern.
Er nickte,
»Tun Sie das und für Sie nur noch mal zur Erinnerung, Sie haben vom heutigen Tag an, uneingeschränkt eine lebenslange Garantie auf unser Objekt, egal welche der im Vertrag genannten Gebrauchseigenschaften in dieser Zeit auch beeinträchtigt sein sollte. Zum sorgsamen Umgang mit diesem Unikat hatten Sie sich mit Ihrer Unterschrift ja schon im Kaufvertrag verpflichtet. Old Scotch Whisky gefällig, Kunde 3593?« Ich nickte erfreut,
»Oh‘ bitte gerne…« Er nahm zwei kleine kristallin funkelnde Whisky-Becher aus einer Glasvitrine, griff nach einer edlen Karaffe und schenkte daraus in die beiden Gläser ein. Gerade, als er den Kristallglasstöpsel wieder auf den Karaffenhals schob, da geschah es.
Mit einem vernehmlichen Knacken zerplatzte einer der beiden Whisky-Becher und zerfiel in exakt zwei gleichgroße Teile, während das köstliche alkoholische Nass die Oberfläche des gläsernen Tisch benetzte.
»Oh‘ sorry, wenn ich es auch nur vorher geahnt hätte, dann hätten Sie von mir natürlich ein funkelnagelneues Glas bekommen. Mein Fehler, bitte entschuldigen Sie diesen höchst unangenehmen Fauxpas«, meinte der Manager und langte nach einem neuen Glas.
»Ich bitte Sie, das kann doch jenem mal passieren. Außerdem tragen Sie doch daran keine Schuld.«
Er schüttelte bedauernd den Kopf,
»Doch, ich hätte das vorher kontrollieren
müssen. Beim Abschluss eines solchen Vertrages darf so etwas einfach nicht passieren«, meinte er ehrlich zerknirscht. Inzwischen hatte er das neue Glas bereits nachgefüllt und stieß mit mir auf den gelungenen Vertragsabschluss an. Kurz darauf verabschiedete er sich und wünschte mir noch lange viel Freude an dem Objekt.
Anschließend begleiteten mich zwei Agenten durch ein Labyrinth von Kellergängen zu einem geheimen Ausgang aus dem Gebäude. Dann drückte mir der eine mein neu erworbenes und gut verpacktes Eigentum in die Hand, während sich der andere an mich wandte,
»Ab sofort gut darauf aufpassen, Kunde 3593, denn hier endet unsere gesicherte Begleitung
und Sie sind von nun an auf sich allein gestellt. Tut mir leid, aber jetzt müssen wir Sie partiell trotzdem ein wenig flashen, damit Sie nicht aus Versehen sich selbst, oder uns verraten könnten. Ich gehe davon aus, dass es okay für Sie ist?«, fragte der hochgewachsene blonde Agent mehr routinemäßig. Ich nickte, denn der Manager hatte mich zuvor bereits zu dem Verfahren der Teillöschung meiner Erinnerung umfänglich instruiert. »Sie werden also an das Geschäft und alles was damit zu tun hat definitiv keine detaillierten Erinnerungen mehr haben, lediglich das Passwort im Darknet wird Ihnen aus Garantiegründen erhalten bleiben, wie auch die angelernte Verhaltenslektion.«
»Das ist mir alles bekannt, meine Herren«,
erwiderte ich und nachdem sich die beiden Agenten eine schwarze Brille aufgesetzt hatten, blitzte es in dem dunklen Raum einmal kurz auf.
Mit einem Mal fand ich mich an jener kaum frequentierten Bushaltestelle wieder, von welcher der Manager gesprochen hatte. In der Hand hielt ich nun das in festes braunes Packpapier eingeschlagene kostbare Objekt. Man hatte es mittels einer äußerst stabilen Schnur so gut verpackt, dass selbst ich nicht einmal mehr die äußere Form auf Anhieb erkennen konnte.
Ich sah mich um, konnte aber nirgendwo das Gebäude entdecken aus dem ich gekommen sein musste. Auch konnte ich mich überhaupt nicht mehr an das Gesicht des Managers
erinnern, geschweige denn an das Prozedere des Vertragsablaufes selbst. Es hat also tatsächlich bestens funktioniert, konstatierte ich erleichtert und stieg mit meinem sicher verpackten Objekt unter dem Arm in den nächsten Linienbus, der mich zum U-Bahnhof fahren sollte.
Schon beim Betreten der nächstgelegenen Untergrundbahnstation hatte ich das ziemlich merkwürdige Gefühl, dass ich von einigen mir als suspekt erscheinenden Männern intensiv gemustert würde. Jetzt bloß nicht auffallen und keinen Fehler machen, dachte ich etwas aufgeregt und erinnerte mich an die in einem Schnellverfahren angelernte Lektion des konspirativen Verhaltens. Ich sollte ganz natürlich auf meine Umgebung wirken und in
jedem Fall genauso reagieren, als könne ich definitiv kein Wässerchen trüben. So stellte ich mich also wie die anderen Fahrgäste auch, an den Automaten und zog ein übliches Ticket für zwei Stunden. Denn ich sollte auf den sich kreuzenden U-Bahn-Linien mehrmals umsteigen und dabei penibel darauf achten, wer mit mir gemeinsam in den Wagon ein, und aussteigt und natürlich auf gar keinen Fall auf direktem Wege zu meiner Wohnung fahren. Leichter gesagt, als getan, hatte ich doch absolut keine Ahnung, wie ein solcher Agent denn überhaupt aussehen könnte. Im Film ist das immer alles so einfach und klar, doch die Realität schaut immer etwas anders aus. Mir fiel ein, dass der Dozent auch Frauen erwähnte, die in eine solche Agentenrolle
schlüpfen würden und so fing ich an, meine unmittelbare Umgebung nach verdächtigen Frauen abzusuchen, die möglicherweise auch eine treffliche Agentin abgeben könnten.
Und richtig, denn urplötzlich entdeckte ich eine schlanke Brünette, die mich schon von weitem recht auffällig zu beobachten schien. Schnell, zu schnell wandte ich die Augen von ihr ab und starrte stattdessen nun intensiv auf die fettgedruckten Balkenüberschriften der ausgestellten Boulevardblätter am Kiosk auf dem U-Bahnsteig. Das war ein dummer Fehler, denn nun begann sich die Brünette erst recht für mich zu interessieren und bahnte sich in meine Richtung kommend, langsam einen Weg durch die auf dem Bahnsteig wartenden Menschenmassen. Ich hatte noch
ganze zwei Minuten, bis der Zug einfuhr. Aber bis dahin würde mich die hübsche Brünette gewiss ganz sicher erreicht haben und mich dann unbarmherzig nach meinem seltsamen Gepäckstück befragen. Schlagartig standen mir etliche Schweißperlen auf der Stirn und ich überlegte krampfhaft, was ich nach dem Vortrag von dem Dozenten tuen sollte, denn einfach nur unauffällig vom Bahnhof wieder verschwinden, ohne den Zug zu benutzen, das konnte ich leider nicht. Gerade als ich mir eine einigermaßen plausible Erklärung für mein ungewöhnliches Gepäck zurechtgelegt hatte, kreischte die entzückende Brünette auf. Daraufhin schlang sie augenblicklich ihre Hände um ihren attraktiven Körper, denn ihr elegantes mausgraues Kostüm begann sich in
dieser Sekunde geradezu in Windeseile komplett aufzulösen. Nackt, in hohen Stilettos schlüpfte sie rasch in eine der unzähligen Bekleidungskabinen, die überall verteilt auf dem Bahnsteig herumstanden und kurz nach dem sie einige Münzen in den Automaten eingeworfen hatte, kam sie komplett bekleidet wieder heraus.
In diesem Moment war allerdings mein Zug eingefahren und augenblicklich hatte ich mich geschwind unter die bereits wieder zusteigenden Fahrgäste gemischt. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete ich in der reflektierenden Fensterscheibe des Wagons die Brünette, die nun ihrerseits mit den Augen den Bahnsteig nach mir absuchte.
Zum Glück vermochte sie mich jedoch
nirgends entdecken und als der Zug abfuhr, konnte ich endlich erleichtert aufatmen. Die hübsche Brünette, die nun ein smartes dunkelblaues Kostüm trug, blieb vergeblich nach mir suchend und sichtlich enttäuscht auf dem sich langsam leerenden Bahnsteig zurück. Vermutlich weil ihr die Kopfprämie für mich entgangen war. Zum ersten Mal hatte mir das gesetzlich festgelegte Verfallsdatum eines industriell produzierten Gegenstandes den Hals gerettet. Als man damals offiziell beschlossen hatte, dass alles was technisch produziert und hergestellt wurde auch ein absolutes Verfallsdatum haben müsse, um einerseits die Wirtschaft am Leben zu erhalten und andererseits den Gewinn der Konzerne langfristig zu garantieren, hatte man die
Gesetze daraufhin radikal geändert. Und einige Jahre später auch den bloßen Besitz von jedweden zeitlich unlimitierten Gegenständen unter strenge Strafe gestellt.
Im Allgemeinen besaßen teurere Gegenstände auch einen höherwertigen, weil zeitlich deutlich sehr viel besser limitierten Gebrauchswert. Der einzige Vorteil dieser Maßnahme bestand darin, dass man sich auch darauf verlassen konnte, sicher zu sein, dass alle industriell hergestellten Gegenstände bis zu ihrem endgültigen Verfallsdatum auch wirklich so funktionierten, wie sie sollten. Wenn es jedoch einmal nicht der Fall sein würde, so konnte man recht geharnischte Garantieansprüche gegen den Hersteller des vorzeitig verfallenen Produktes
geltend machen. Eine geradezu gigantische Armada von Rechtsanwälten, die sich ausschließlich auf Garantieansprüche ihrer Klienten spezialisiert hatte stand den Klagenden in allen Belangen stets hilfreich zur Seite. Vorausgesetzt, man hatte es ausschließlich mit industriell gefertigten Gegenständen zu tun, denn die Herstellung von jedweden Gegenständen aus natürlichen Produkten mit unlimitiertem Verfallsdatum war strengstens untersagt. Das würde nämlich der Wirtschaft und damit letztlich auch der Gesellschaft enorm schaden, so der Premierminister auf seiner letzten Wahlrede...
Selbst das Bargeld machte darin keine Ausnahme und wer sein Geld zu lange im Sparstrumpf unter der Matratze lagerte, fand
später nur noch einen Haufen wertlosen Knüllpapiers wieder, wenn man es nicht rechtzeitig für irgendetwas ausgegeben hatte. Selbst Metallmünzen im Portemonnaie zerfielen zu einem undefinierbaren Pulver, wenn man sie zu lange bei sich trug. Alles war im Fluss und blieb somit auch ständig in Bewegung. Damit das Gleichgewicht gewahrt blieb und man in all dem Chaos nicht die Übersicht verlor, hatte jeder erworbene Gegenstand auch eine eigene signifikante elektronische Kennung, die sofort auf dem Smartphone des jeweiligen Eigentümers automatisch registriert und festgehalten wurde.
Wenn man einen Blick darauf warf, konnte man unschwer erkennen was als nächstes
ausfallen würde, denn die Dinge mit dem jüngsten Verfallsdatum wurden einem gleich auf der ersten Seite angezeigt. Bei einigen besonders wichtigen, oder kostenintensiven Sachen, wie beispielsweise ein Automobil, ein Wohnhaus und anderen vergleichbaren Dingen wurde man schon lange vorher in immer kürzer werdenden Abständen mit dem exakt definierten Verfallsdatum vorgewarnt.
Irgendwann neigte sich auch meine Fahrzeit mit der Untergrundbahn ihrem unvermeidlichen Ende entgegen, denn mein Fahrschein verlor demnächst seine zeitlich limitierte Gültigkeit und würde sich zu Nichts in Staub auflösen. So machte ich noch ein paar kleinere Umwege und fuhr dann nach Hause.
Dort wurde ich schon von meiner Verlobten
erwartet und als sie mich mit dem Paket unter dem Arm die Treppe heraufkommen sah, machte sie riesengroße Augen, während ich meinen Zeigefinger an die Lippen legte und ihr damit gebot einfach nur still zu schweigen.
Erst in der Wohnung schloss ich mich ohne ein Wort zu sagen allein mit dem Paket im Wohnzimmer ein, entfernte ganz vorsichtig das kunstvolle Gebinde und wickelte das Objekt vollständig aus. Da stand es nun mitten im Raum und es erfüllte mich mit einem geradezu unbändigen Stolz, dass es mir gelungen war, dem Gesetzgeber ein tolles Schnippchen zu schlagen, um den geheimen Wunsch meiner Geliebten zu erfüllen.
Ich öffnete die Tür und mein geliebtes Weib betrat das Zimmer wie den heiligen Gral. Ihre
Augen leuchteten fasziniert auf, als sie das Objekt aus nächster Nähe betrachtete. Sie befühlte die glatte Oberfläche und genoss den Duft, den das Objekt verströmte.
»Ich habe heute für dich extra mein exquisitestes Kleid angezogen, welches mit dem heutigen Datum verfallen wird und ich habe nicht die Absicht, sogleich ein neues anzuziehen«, meinte sie wissend lächelnd, während sie dabei auf ihre Armbanduhr schaute. »Gleich müsste es soweit sein«, flüsterte sie erregt und an ihren leuchtenden Augen konnte ich erkennen, wie glücklich sie war. In diesem Augenblick geschah es und ihr wundervolles Kleid löste sich vor meinen Augen in null Komma nichts vollständig auf. Sie kam im blanken Evaskostüm auf mich zu
und lies gekonnt meine Jeans zu Boden gleiten.
»Das habe ich mir schon immer mal gewünscht«, hauchte sie mir ins Ohr und drückte mich rittlings auf das so mühselig erworbene Objekt. »…dich auf einem echten handgefertigten, vor allem aber unlimitiert vergänglichen Holzstuhl zu vernaschen…«
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
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© by Louis 2016/8 Update: 2019/10